Jürg Liechti: Magersucht in Therapie
Rezensiert von Prof. Dr.phil. Dr.rer.nat. Annemarie Rettenwander, 22.09.2009
Jürg Liechti: Magersucht in Therapie. Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2008.
247 Seiten.
ISBN 978-3-89670-627-0.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Systemische Therapie.
Autor
Dr. med. Jürg Liechti ist seit 1985 in freiberuflicher Praxis in Bern tätig. Er ist u.a. Lehrbeauftragter für systemische Therapie an der Medizinischen Fakultät der Universität Bern und Supervisor an verschiedenen Kliniken. Er ist Gründungsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (SGS). Seit 1995 Aufbau und Geschäftsleitung des Zentrums für Systemische Therapie und Beratung (ZSB) in Bern.
Das Buch entstand unter Mitarbeit von Dr. med. Monique Liechti-Darbellay, Dr. med. Sandra Schärer und Lic. phil. Corinna Hermann.
Aufbau und Inhalt
In der Einführung (Kapitel 1) schildert der Autor u.a. eindrücklich, wie er im Laufe seiner medizinischen Ausbildung dazu gekommen ist, sich mit essgestörten PatientInnen zu befassen. Er sieht diese Arbeit als Herausforderung, da besonders die Komplexität und Vielschichtigkeit der Anorexia nervosa es auch erfordert, als Therapeutin oder Therapeut Frustrationen auszuhalten. So deutlich wie nur bei wenigen psychischen Erkrankungen – so der Autor, indem er sich auf Minuchin (1981) bezieht – stehe bei der Magersucht die Person im Netz ihrer familiären Beziehungen (S. 28). Die Bedeutung des familientherapeutischen Zugangs sieht er nicht darin, „Familien zu therapieren“. Erfahrungsgemäß ende dieses Ansinnen ohnehin in einer Sackgasse, weil sich Familien in der Regel nicht „therapieren“ ließen (S. 21). Eine interessante Einleitung für ein Buch über systemische Psychotherapie.
Im zweiten Kapitel (Titel: Faszination, Irritation und einige Fakten) werden Epidemiologie, Verlauf und Prognose der Anorexia nervosa beschrieben. Auch wird bereits in diesem Teil kurz auf die in der Literatur beschriebenen Ursachen für Magersucht eingegangen, was in Kapitel 5 dann ausführlich fortgesetzt wird. Etwas schade ist, dass leider auch in diesem Buch die gesellschaftlichen Ursachen vornehmlich auf Schlankheits- und Schönheitsideal reduziert werden.
Kapitel 3 beschreibt so genannte „exemplarische Therapieprozesse“. Dieser Teil des Textes ist wahrscheinlich nicht nur für Kolleginnen und Kollegen, die sich in Ausbildungen für systemische Psychotherapie befinden, interessant. Liechti schreibt, es sei wegen der systemimmanenten Motivations- und Compliance- Probleme, die jede Therapie bei Magersucht begleiten, für die Praxis besonders hilfreich, den Phasencharakter des Therapieprozesses zu berücksichtigen. Als Phasen des ZSB-Modells (also des Modells des von ihm geleiteten Zentrums für Therapie und Beratung in Bern) nennt er: Phase 1 – Diagnostik, Phase 2 – Gestaltung eines therapeutischen Systems, Phase 3 – Störungsspezifische Hilfen, Phase 4 – Selbstmanagement und Autonomiestabilisierung. Liechti beschreibt auch die Phasenmodelle von Howard et al. (1993) und Lueger (1995) und verdeutlicht die dort beschriebenen drei Phasen „Remoralisierung, Remediation und Rehabilitation“ jeweils mit Fallbeispielen. Im Anschluss daran zitiert er das Phasenmodell der Entwicklung von Beziehungssystemen von Wynne (1985).
In Kapitel 4 (Titel: Erscheinungsbild und Diagnostik) geht es um Differentialdiagnose und Komorbidität, wobei auch die körperlichen Folgen von Magersucht gut beschrieben werden. Liechti geht in diesem Kapitel kurz aber prägnant auch auf die wichtige Rolle von Lehrpersonen in der Sekundärprophylaxe ein und formuliert dazu sieben knappe aber wahrscheinlich hilfreiche Tipps, wie Lehrerinnen und Lehrer sich verhalten können, wenn sie den Eindruck haben, eine ihrer Schülerinnen könnte an einer Magersucht erkrankt sein.
In Kapitel 5 geht es anschließend ausführlicher um Erklärungsmodelle für Anorexia nervosa. Er unterscheidet dabei das „Suchtmodell“, das „Depressionsmodell“, das „Angst- und Angstvermeidungsmodell“, psychodynamische Modelle, familientherapeutische Modelle, den Maudsley-Ansatz, entwicklungs- und bindungsbasierte Modelle sowie „körper- und entspannungstherapeutische Modelle“. Bei der Beschreibung des Maudsley-Ansatzes, welcher am gleichnamigen Londoner Spital entwickelt wurde, betont Liechti, dass effektive familienorientierte Therapieverfahren bei Magersucht behavioral ausgerichtet seien. Sie nutzen kognitive Methoden und berücksichtigen gleichzeitig systemische Zusammenhänge.
In Kapitel 6 (Titel:
Veränderungsmodelle) geht es dann ausführlich und
theoretisch fundiert um Therapie. Es gibt ein Kapitel zu
lebenserhaltenden Maßnahmen bei magersüchtigen
PatientInnen, dann folgt ein Kapitel mit dem Titel
„Therapiemotivation als therapeutische Herausforderung“,
das einen sehr interessanten und erwähnenswerten Absatz enthält,
der daher an dieser Stelle wörtlich zitiert sei. Liechti
(S. 160) schreibt, indem er sich dabei auf einen Text des
„Borderline-Skeptikers“ Vaillant (1992) bezieht:
„Im Rahmen von Workshops und
Seminaren zum Thema AN-Therapie habe ich von Kolleginnen und Kollegen
immer wieder die Klage vernommen, wie anspruchsvoll es sei, mit
diesen Patientinnen in der ambulanten Praxis zu arbeiten. Meist nur
oberflächlich oder überhaupt nicht motiviert für eine
Therapie, zeigten sie sich überangepasst, stets lächelnd
und zugleich stur und uneinsichtig oder dann apathisch und
unverbindlich oder euphorisch, impulsiv, launisch oder feindselig.
Die schwierigen Beziehungserfahrungen verleiten offenbar ganz
besonders zur Fehldiagnose „Borderline-Störung“,
obwohl wissenschaftliche Studien den Mythos „Essstörungen
gleich Borderline“ längst widerlegt haben. Meist sei die
Diagnose „Borderline“ eher Ausdruck einer affektiven
Reaktion des Therapeuten auf die interaktionellen Schwierigkeiten und
weniger das Ergebnis von rationalen, diagnostischen Erwägungen
[...].“ Dieser Absatz (S. 160) ist sehr wichtig, da
es leider immer noch nicht selten vorkommt, dass bei Essstörungen
fälschlicher Weise die Zusatzdiagnose
„Borderline-Persönlichkeitssstörung“ gestellt
wird.
Im wichtigen Unterkapitel „Beziehungsgestaltende
Modelle“ geht um ressourcenorientierte und salutogenetische
Ansätze, die darauf abzielen, die positiven Potenziale eines
Klienten oder einer Klientin in der Therapie zu nutzen und die dem
Autor offenbar sehr am Herzen liegen. Es folgen die Unterkapitel „Der
Einbezug der Familie“, „Hilfen für die
Symptombewältigung“, „Erarbeitung der
Grundprobleme“, „Ko-Morbidität und
Rückfallprophylaxe“, „Kurze Bemerkung zur
Pharmakotherapie“ und zuletzt ein ausführlicherer Text, in
dem ein „Esstraining für Frauen mit einer Essstörung“
von Corinna Hermann und Sandra Schärer beschrieben wird.
Kapitel 7 (Titel: Magersucht in Therapie – Laura M.) von Monique Liechti-Darbellay und Jürg Liechti ist ein detailreich dargestellter „Fallbericht“ mit einem Happy End, in den die AutorInnen, wie sie auf Seite 195 schreiben, im Interesse eines korrekten Datenschutzes Erfahrungen aus unterschiedlichen Therapien einfließen lassen haben. Sie schildern darin vor allem auch die therapeutischen Techniken, die sie in ihrer Arbeit anwenden. Die Beschreibung zeugt von Empathiefähigkeit sowie Wertschätzung für die Patientin und ihre Familie und verweist auf einen interessanten, recht eigenständigen Therapieansatz, den die AutorInnen im Laufe der langen Jahre ihrer Arbeit aufgrund ihrer Erfahrungen entwickelt haben. Das Buch endet abrupt mit dem Ende des Fallberichts und einem Satz der Patientin, was durchaus passend erscheint und erfrischend ist.
An Ende findet sich ein umfangreiches Literaturverzeichnis, das besonders auch neuere Veröffentlichungen mit einbezieht.
Fazit
Ein empfehlenswertes, theoretisch gut fundiertes Buch mit vielen Fallbeispielen. Im Überangebot an Literatur zum Thema Essstörungen ist es eine sehr lesenwerte Erweiterung. Das Buch lebt von der jahrzehntelangen Erfahrung der AutorInnen in der Behandlung von Magersucht und von guter Kenntnis der Fachliteratur sowie der teils kritischen Analyse derselbigen. Es kommt aus der Praxis, ist aber nicht nur für die Praxis. Besonders auch für Lehre im Bereich Klinische Psychologie und Psychotherapie stellt dieses Buch eine echte Bereicherung dar. An Magersucht Erkrankte und deren Angehörige werden es wahrscheinlich ebenso interessiert lesen.
Rezension von
Prof. Dr.phil. Dr.rer.nat. Annemarie Rettenwander
Professorin für Psychologie – Organisationspsychologie, Kommunikationspsychologie und Psychologie der Essstörungen an der Hochschule Niederrhein/ Mönchengladbach
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Zitiervorschlag
Annemarie Rettenwander. Rezension vom 22.09.2009 zu:
Jürg Liechti: Magersucht in Therapie. Gestaltung therapeutischer Beziehungssysteme. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2008.
ISBN 978-3-89670-627-0.
Reihe: Systemische Therapie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6335.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.
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