Sandra Mitchell: Komplexitäten
Rezensiert von Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, 19.06.2008

Sandra Mitchell: Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen.
Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2008.
120 Seiten.
ISBN 978-3-518-26001-2.
D: 9,00 EUR,
A: 9,30 EUR,
CH: 16,50 sFr.
Reihe: edition unseld - 1. Originaltitel: Integrative Pluralism. Philosophy of Complexity in the 21st Century.
Thema und Zielsetzung
Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Buch mit der erkenntnistheoretischen Komplexität des Wissens und der wissenschaftlichen Herangehensweise und Perspektive, mit der verschiedene wissenschaftliche Disziplinen an Problemstellungen herantreten. Hierbei will sie zum Nachdenken anregen, die bisherige Erkenntnismethodik nicht unrezensiert hinzunehmen, sondern sich über ihre Ursachen und Folgen Gedanken zu machen. Sie weist darauf hin, der Komplexität von Systemen Respekt zu zollen und sie unter der Prämisse eines "integrativen Pluralismus" zu betrachten.
Entstehungshintergrund
Wie schon der Titel dieses auf den ersten Blick unscheinbaren Buches andeutet, ist die Autorin der Ansicht, dass die Welt in ihrem immensen Fassettenreichtum und in ihrer unendlichen Komplexität noch lange nicht entschlüsselt sei. Nur zu oft bemühten sich Wissenschaftler um eine Simplifizierung und möglichst ausgeprägte Reduktion der vorliegenden Komplexität, die sie beobachten. Allerdings entspreche dadurch das Modell, das Wissenschaftler von der Realität konstruieren würden, nicht mehr dem Original, was die Autorin vor ihrem breiten wissenschaftlichen Hintergrund kritisiert.
Autorin
Die Autorin ist mittlerweile Professorin für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der University of Pittsburgh und beschäftigt sich insbesondere mit der Philosophie der Biologie und Sozialwissenschaften. Ihr wissenschaftlicher Werdegang weist zahlreiche Stationen in den USA und Europa auf – unter anderem das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und das Wissenschaftskolleg in Berlin. Ihre wissenschaftliche Tätigkeit hat sie in zahlreichen wissenschaftlichen und Übersichtsartikeln, sowie vielen Monographien kontinuierlich unter Beweis gestellt.
Aufbau und Inhalt
Das handliche Büchlein gliedert sich auf gut 170 Seiten in 17 kurze Kapitel. Es erfüllt mit leichten Abweichungen den klassischen Aufbau einer wissenschaftlichen Abwandlung.
Zunächst stellt die Autorin das Problem wissenschaftlicher Erkenntnismethodik vor und weist auf mögliche Verzerrungen in der uns bekannten Methodik hin.
Zunächst greift die Autorin zu einem Beispiel aus der Psychiatrie: die Depression. Hierbei schildert sie die multifaktorielle Genese dieser Erkrankung und betont, dass es nicht "die" Erklärung für die Entstehung einer Depression gebe, sondern genetische, soziale, neurologische und biochemische Faktoren zu berücksichtigen seien.
Das im 17. Jh. entstandene Newtonsche Weltbild sei der Beginn eifriger Versuche, die Komplexität der gesamten Welt in ein enges Korsett von Regeln und Gesetzen zu zwängen, um sie versteh-, erklär- und vorhersagbar zu machen.
Die Begrenzung des bekannten Modells zeigt sie weiterhin anhand des Emergenzbegriffes, der keineswegs für die magische Unvorhersehbarkeit aus Einzelteilen zusammen gesetzter Systeme stehe. Vielmehr handele es sich bei emergenten Eigenschaften von Systemen um die Vernachlässigung der Komplexität der Einzelteile und der Gesamtheit. Insbesondere würden hierbei Rückkopplungsmechanismen vor allem bei Verhaltensstudien im Tierreich vernachlässigt. Unter diesem Aspekt behandelt sie in den weiteren Kapiteln die "Vielfalt und Kontingenz der Evolution" anhand genetisch determinierter morphologischer Merkmale und Verhaltensweisen. Auch wirft sie im Verlauf einen Blick auf die Entstehung des Lebens, die auf Grund unendlicher Kombinationsmöglichkeiten im höchsten Maße komplex sei und weist dabei darauf hin, "Wie wir die Welt untersuchen". Im weiteren Verlauf steigt sie verständlich aber tief in die Welt der Genetik ein und verdeutlicht anhand moderner experimenteller Techniken die Komplexität damit verhafteter Systeme.
Daraus zieht sie Schlussfolgerungen für unser "Handeln in einer komplexen Welt" und beschäftigt sich in diesem Zuge mit der Ökonomie von menschlichen Entscheidungen und Vorhersagbarkeiten, sowie deren Begrenztheit. Vor diesem Hintergrund betrachtet sie anschließend Globalisierung, politische Entscheidungen und deren durch Komplexität resultierende Problematiken.
Schließlich kondensiert die Autorin in der Zusammenfassung die von ihr aufgezeigte Problemstellung und stellt darauf basierend sowohl "Pragmatische Überlegungen" als auch "Dynamische Überlegungen" an, die dazu führen, gewonnenen und zu gewinnenden Erkenntnisse nicht zu reduzieren und simplifizieren, sondern ihre Komplexität zuzulassen und sie aus der Perspektive eines integrativen Pluralismus zu verstehen.
Zielgruppen
Als Zielgruppe dieses kritisch-intellektuellen Werkes dürften vor allem Wissenschaftler gelten, die sich selbst mit Wissenschafts- und Erkenntnistheorien auseinandersetzen. Das Buch zieht einen weiten Bogen über viele wissenschaftliche Disziplinen, die allerdings einfühlsam für Fachfremde erklärt werden – man muss keineswegs Psychiater oder Evolutionsbiologe sein, um die Beispiele gut zu verstehen.
Fazit
Es handelt sich m.E. um ein interessantes Buch, das zum Nachdenken über unser "Denken wie üblich" anregt. Dabei geht es der Autorin keineswegs darum, mit den uns bekannten Traditionen wissenschaftlicher Perspektiven radikal zu brechen und das bisher erworbene Wissen für null und nichtig zu erklären. Vielmehr bemüht sie sich, den Leser für die Eigenheiten bisheriger wissenschaftlicher Perspektiven zu sensibilisieren und eine neue Möglichkeit aufzuzeigen, den von ihr vertretenen integrativen Pluralismus.
Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A.
Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung.
Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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