Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart
Rezensiert von Klaus Schmidt, 23.04.2009

Stephan Moebius, Dirk Quadflieg (Hrsg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 590 Seiten. ISBN 978-3-531-14519-8. 26,90 EUR.
Erster Überblick
Stephan Moebius und Dirk Quadflieg haben sich der Gelegenheit bemächtigt, einen so seitenstarken wie gehaltvollen Überblick über aktuelle Zugänge zum Phänomen der Kultur herauszugeben. Das Ergebnis ist ein wertvoller Sammelband, dessen Vorzüge aus mindestens drei verschiedenen Perspektiven zu beschreiben wäre:
- es bietet Zusammenfassungen zu dem derzeit Gedachten, um das interessante Projekt einer Soziologie als Kulturforschung übersichtlich und anschlussfähig zu machen
- es stellt ein alternatives Kompendium von zeitgenössischen Gesellschaftsanalysen dar
- es ist es ein umfangreiches Register und Nachschlagewerk von sehr bedeutenden, häufig hierzulande allerdings unbekannten Theoretikerinnen und Theoretikern
Bei über vierzig Autoren, die an diesem Band mitgewirkt haben, kann erwartet werden, dass die Qualität der Beiträge, wie in jedem Sammelband, unterschiedlich ausfällt. Eine erschöpfende Darstellung der angerissenen Theorien wird hier niemand suchen wollen, wenn auf einem Raum von knapp 600 Seiten etwa fünfzig Theoretikerinnen und Theoretiker versammelt sind. – Aber beansprucht dieses Buch mehr, als einen fundierten Überblick zu bieten? – Hier finden sich Angebote, Zugänge zu Forschungsfragen und –Interessen in Form von oft engagiert geschriebenen, sehr pointierten Essays. Als selten anregendes und interessantes Panorama zeitgenössischer Reflexionen über die Gesellschaft, jenseits des Allzubekannten, dürfte dieses Buch viele Freunde finden.
Herausgeber und Thema
Stephan Moebius hat als Soziologe und Kulturwissenschaftler eine Juniorprofessur für Soziologie am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt inne. Er ist der Verfasser von Büchern, die Autoren aus Frankreich einem deutschen Publikum bekannt machen. Neben einem Sammelband herausgegeben zusammen mit Lothar Peter, „Französische Soziologen der Gegenwart“ ist in diesem Zusammenhang auf seine Habilitationsschrift zum Collège de Sociologie hinzuweisen, „Die Zauberlehrlinge“, die zum einen die Tradition und Entwicklung der Forschung links des Rheins nachvollziehbar macht und zum anderen eine spannende Darstellung zur Intellektuellengeschichte bietet.
Dirk Quadflieg ist Philosoph und als solcher wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Potsdam am Lehrstuhl für Ethik/Ästhetik. Wie Moebius ist er mit Kulturtheorie befasst, sein letzter Beitrag von 2008: „Selbst und Selbstverlust. Psychopathologische, neurowissenschaftliche und kulturphilosophische Perspektiven.“ Die Zusammenarbeit mit Stephan Moebius setzt er mit einem Beitrag fort in dem für 2009 vorbereiteten Buch, „Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialtypen der Gegenwart“.
Adressaten
Moebius und Quadfliegs Anliegen besteht darin, die Bandbreite der derzeit diskutierten Kulturtheorien überblicksartig deutlich zu machen. Die aus ihrer Perspektive „wichtigsten und paradigmatischsten Vertreterinnen und Vertreter von im weitesten Sinne kulturtheoretischen Ansätzen“ werden vorgestellt, interpretiert und erörtert. Adressaten des Sammelbands sind in erster Linie Studierende und Lehrende der Soziologie, der Kulturwissenschaften, der Sprach- und Literaturwissenschaften sowie der politischen Philosophie. Die von den Herausgebern getroffene Auswahl an Theorien wird in folgenden Kapiteln geboten.
Aufbau und Inhalt
- Am Beginn steht das Kapitel „Symbol - Diskurs – Struktur“, in dem Einführungen zu solchen Autoren gegeben werden, die (international gewiss, in Deutschland weniger) als besonders einflussreiche Denker des cultural turn angesehen werden können: Barthes, Deleuze, Foucault, Bourdieu und Baudrillard.
- Es folgen „Dynamiken der Kulturen“, mit Beiträgen zu Clifford Geertz, Turner – aber auch Huntington. „Phänomene des Alltags“ versammelt u.a. Goffman, Thomas Luckmann und der in Deutschland fast völlig unbekannte Michel Maffesoli .
- „Amor und Psyché“ widmet sich den psychoanalytisch orientierten Theoretikerinnen Kristeva und Butler.
- Nach den „Perspektiven auf den Spätkapitalismus“ folgen „Kritiken der Exklusion“ zu den Autoren Laclau, Baumann, Agamben und Girard.
- In „Populärkultur und Counter Culture“ werden uns amerikanische Autoren wie Stuart Hall, Paul Willis und Douglas Crimp vorgestellt.
- In „Technik, Körper und Wissenschaft“ geht es um Bruno Latour, Paul Virilo, Donna Haraway.
- „Medien und Kommunikation“ widmen sich Flusser, Michel Serres, Manuel Castells, aber auch Habermas und Luhmann. A
- Abgeschlossen wird der Band mit „Herausforderungen der Globalisierung“ mit den Perspektiven von Robertson, Immanuel Wallerstein und Eisenstadt.
Fazit
Für den deutschen Leserkreis fehlte bis zum Erscheinen dieses Bandes ein umfassender Überblick über Kulturtheorien. Zugänge zu theoretischen Sichten auf die Gesellschaft werden - meist sehr gut lesbar - geschaffen, die die Frage nach den Sinn- und Weltdeutungen der Akteure in den Mittelpunkt stellen. Überdies wird auf diese Weise für denjenigen, der mit kulturtheoretischen Ansätzen bisher wenig zu tun hatte, ein neuer Blick auf bekannte Autoren ermöglicht. – Studierende und Lehrende verschiedener sozialwissenschaftlicher Disziplinen und den unterschiedlichsten Forschungsinteressen könnten mit diesem Sammelband wichtige Anregungen für eigene Forschungsfragen erhalten. Vor allem das, was wir in Deutschland anscheinend weniger als andere können, nämlich Interdisziplinarität nicht nur zu begrüßen, sondern auch zu betreiben, darauf orientiert dieser Band seine Leser. Eine Notwendigkeit, die Moebius und Quadflieg als etwas beschreiben, dass sie Heterotypie nennen: Die Zurkenntnisnahme der eigenen Begrenztheit in Sachen Aussagemöglichkeiten und die Anerkennung der Fruchtbarkeit anderer Zugänge, Fragen und Methoden. Die Vielgestaltigkeit dessen, was Gesellschaft als Kultur ausmacht, verlangt die unterschiedlichsten Ansätze. – Dass nun neben „unserer“ wissenschaftlichen Nationalkultur (die in einigen Fällen ungewöhnlich arm ist) auch eine andere, jahrzehntelang von uns unbeachtete, eine vielleicht reichere Existenz führt, auch darauf verweist uns das Buch.
Rezension von
Klaus Schmidt
M.A., Erziehungswissenschaftler
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