Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Fünf Jahre Agenda 2010
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 21.01.2009
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Fünf Jahre Agenda 2010.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2008.
136 Seiten.
ISBN 978-3-428-12815-0.
68,00 EUR.
CH: 115,00 sFr.
Reihe: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung - Jg. 77, H. 1.
Institution und Thema
Die „Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung“ werden seit 1927 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, einer der renommiertesten Einrichtungen der Wirtschaftsforschung in Deutschland herausgegeben. Die „Vierteljahreshefte“ veröffentlichen Aufsätze zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen, die sich an Wissenschaft, Politik und Wirtschaft wenden.
Das hier besprochene Heft beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der „Agenda 2010“, also mit der vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder im Rahmen seiner Regierungserklärung vom März 2003 propagierten „neuen Generallinie“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, ihren Intentionen, wirtschafts- und sozialpolitischen Absichten sowie deren Umsetzung in den verschiedenen Politikfeldern: „Die Beiträge […] versuchen zwei Jahre vor der Zielmarke 2010 eine erste Bestandsaufnahme. Waren die Maßnahmen richtig und wurden sie richtig umgesetzt? Beginnen sie zu wirken oder/und muss nachgesteuert werden?“ (S. 6).
Aufbau
Der Band enthält insgesamt neun Beiträge von Wissenschaftlern, die zentrale sozial- und wirtschaftspolitische Themenbereiche der Agenda-Politik darstellen und bezüglich ihrer Voraussetzungen, Inhalte und Ziele sowie deren Erreichung analysieren:
- Arbeitsförderung im SGB III,
- Grundsicherung für Arbeitssuchende im SGB II,
- Reform der Handwerksordnung,
- Steuerreform,
- Familien- und Bildungspolitik,
- Rentenpolitik und
- Gesundheitsreform.
In einem Kurzbeitrag des momentanen Außenministers und Vizekanzlers der großen Koalition und designierten Kanzlerkandidaten der SPD, Frank-Walter Steinmeier, erläutert dieser den Lesern seine Begründung dafür, „warum die Agenda 2010 morgen noch gelten muss“. Der Anhang enthält die Regierungserklärung vom 14.03.2003 von Ex-Kanzler Gerhard Schröder im Wortlaut.
Die Beiträge im Einzelnen
Klaus F. Zimmermann (Präsident des DIW, Berlin; Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn; Universität Bonn und Freie Universität Berlin) konstatiert in seinem einführenden Beitrag („Drei Schritte vor und zwei zurück: Agendapolitik am Scheideweg“) nach fünf Jahren Agenda 2010 einen „nachlassenden Reformwillen“ sowie Zögerlichkeiten bei der praktischen Umsetzung von Reformenvorhaben. „Die ökonomische Vernunft laufe erkennbar Amok“ (S. 5), so dass es wieder „Mut bedürfe, sich für eine konsequente Umsetzung von Reformen in Deutschland einzusetzen.“ (S. 5), womit ist zugleich der Grundtenor sämtlicher Beiträge benannt ist.
Zusammen mit Werner Eichhorst (Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn) stellt Zimmermann im zweiten Beitrag des Bandes die Vorgeschichte der Agenda 2010, ihre Begründung („Das Leitmotiv der Eigenverantwortung und Einschnitte in bislang gewährte staatliche Leistungen“ (S. 10)) sowie ihre wichtigsten Elemente (Deregulierungen im Arbeitsrecht, Erleichterung von Existenzgründungen, Reformen im Bereich des Arbeitslosengeldes (SGB III) und Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II), zusätzlicher Ausbildungsangebote und Verbesserung der Kinderbetreuung, Steuer (Entlastungen im Bereich der Einkommensteuer und Steuerreform) und Fiskalpolitik (Gemeindefinanzreform und kommunales Investitionsprogramm) sowie Reformen der gesetzlichen Rentenversicherung (Veränderung der Rentenformel zur „Stabilisierung des Beitragssatzes“ und staatliche Förderung privater Altersvorsorge im Rahmen der „Riester-Rente“) und des Gesundheitsbereiches (Gesundheitsreform mit dem Ziel der Kostendämpfung bzw. Reform der gesetzlichen Krankenversicherung) als „große politische Zäsur“ dar.
Die Agenda 2010 bedeutete danach „die weitgehende Rücknahme der zu Beginn der rot-grünen Regierung vorgenommenen Schritte in Richtung einer verstärkten Regulierung des Arbeitsmarktes und sozialpolitische Leistungsausweitungen“. Die sozial- und arbeitsmarktpolitisch restriktive Linie der Agenda 2010 mit ihrer Betonung von Leistungskürzungen, Eigenverantwortung und mehr Flexibilität kennzeichnet damit auch, so die Autoren, eine klare programmatische Abwendung von einer primär kompensierenden Politik und damit zugleich einen erkennbaren Bruch mit der Traditionslinie der deutschen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und ihren Status sichernden Sozialleistungen. Die Agenda 2010 propagierte folglich eine Entwicklung weg von der passiven Ausrichtung des Sozialstaates hin zum „aktivierenden Staat“, deren Nachwirkungen bis in die Aktualität hinein spürbar seien. Sehr kritisch merken die Autoren an, „dass die Agenda 2010 derzeit nicht mehr als politisches Leitmotiv diene“ (S. 18). Dies gelte insbesondere deshalb, weil die Politik zwischenzeitlich, wie bereits in der Einleitung angedeutet, vom „ökonomisch richtigen“ Kurs abgewichen sei und stattdessen – spätestens seit 2005 – eine opportunistische Linie verfolge, „die den Stimmungen unter den Wählern mehr Rechnung trägt als den durch die Ökonomen abgeleiteten weiteren größeren Reformnotwendigkeiten“. (S. 18).
Im dritten Beitrag setzt sich Hilmar Schneider (Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn) mit den arbeitsmarktpolitischen Reformen im Rechtskreis des SGB III – Arbeitsförderung auseinander. Schneider schildert die qualitativen und quantitativen Veränderungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt nach Einführung der „Vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt„: die Modifikationen der Lohnersatzleistungen (Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und Veränderungen beim Leistungsbezug von Arbeitslosengeld I), die Öffnung der Vermittlung für externe Anbieter („Beauftragung Dritter“), um dann die Ergebnisse der Evaluation des Einsatzes verschiedener Arbeitsmarktinstrumente (Vermittlungsgutscheine, Vermittlung durch Dritte, Vermittlung durch Personal-Service-Agenturen) zu erläutern. Sein Fazit: „Die vorgenommenen Einschnitte bei den Lohnersatzleistungen haben tatsächlich zu einer Absenkung des Reservationslohnniveaus [1] geführt und damit zu einem schnelleren Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit […] die Reform der Vermittlungsprozesse setzte zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Stärkung von marktwirtschaftlichen Elementen, etwa durch die Auslagerung von Vermittlungsaktivitäten mithilfe von Vermittlungsgutscheinen. Im Großen und Ganzen sind die entsprechenden Erfahrungen jedoch nicht besonders ermutigend.“ (S. 35-36).
Im vierten Beitrag thematisiert Werner Eichhorst anschließend die Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende im SGB II. Neben den Anspruchsvoraussetzungen im Leistungsbezug schildert er die Umsetzungsstrukturen im Rahmen des Arbeitsgemeinschaftsmodells und der Optionskommunen, um sich dann ausführlich mit den Wirkungen von Hartz IV zu befassen. So sei es einerseits richtig, dass „die Lohnspreizung in Deutschland in den letzten Jahren angesichts des Strukturwandels, verschärfter internationaler Wettbewerbsbedingungen und rückläufiger Tarifbindung zugenommen hat.“ (S. 43). Trotz solcher Phänomene wie einer ansteigenden Zahl so genannter „Aufstocker“ (vollzeitbeschäftigte Erwerbstätige, die Anspruch auf ergänzende Leistungen der Grundsicherung haben) will Eichhorst jedoch „keine generelle Evidenz eines massiven oder durch Aktivierung erzwungenen Anwachsens einer nicht Existenz sicherndenden Niedriglohnbeschäftigung im Arbeitslosengeld II“ (S. 44) erkennen. Der Artikel schließt mit einem Ausblick, in dem der Autor zukünftiger Reformbedarfe im SGB II formuliert. Die Grundsätze von Hartz IV müssten beibehalten werden, bei Leistungsausweitungen (Regelsatzerhöhung) dagegen sei eher Zurückhaltung angezeigt, „da der Antrieb zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit vermindert wird und Anreize zur Bildung geschwächt werden.“ (S. 47). Die Aufforderung zur Neugestaltung der Steuerungsstrukturen im SGB II vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Dezember 2007 [2] biete seiner Ansicht nach die Möglichkeit zur Schaffung einer effektiveren Steuerung durch klar erkennbare Verantwortlichkeiten für die Finanzierung, den Mitteleinsatz und die Ermittlungsergebnisse. In Bezug auf die Langzeitarbeitslosen empfiehlt der Autor die Hinzuverdienstmöglichkeiten im SGB II-Bezug zu verringern, „da sie eine Tätigkeit in geringfügigen Umfang begünstigen und wenig Anreize zu stärkerem Engagement beziehungsweise Aufstieg setzen. Hier kann die tatsächliche Durchsetzung des im SGB II angelegten Prinzips der Gegenleistung für die Gewährung der Grundsicherung helfen.“ (S. 48). Insofern er zugleich für ein „frühzeitiges und glaubwürdiges Angebot einer Vollzeitaktivität [3] plädiert, das nicht ohne Konsequenzen für den Leistungsanspruch abgelehnt werden kann“ (S. 48), hält er auch vermehrte Übergänge von Langzeitarbeitslosen in nicht subventionierte Tätigkeiten auf dem regulären Arbeitsmarkt für möglich.
Karl Brenke (DIW, Berlin) beschäftigt sich mit der Reform der Handwerksordnung, einem von der Öffentlichkeit weniger beachteten Teil der Agenda 2010. Der Autor liefert zunächst einen Überblick über die Geschichte des Handwerksrechts in Deutschland, um dann den Verlauf der Debatte vor der jüngsten Reform sowie deren letztendliche Ausgestaltung und ihre Wirkungen darzustellen. Ex-Kanzler Schröder propagierte mit der Agenda 2010 die Novellierung der Handwerksordnung mit dem Ziel, „die wirtschaftliche Dynamik im Handwerkssektor zu beleben“. Existenzgründungen von erfahrenen Gesellen sollten erleichtert werden und der Meisterbrief als Marktzugangsberechtigung nur noch für solche Handwerke gelten, „in denen eine unsachgemäße Ausübung Gefahren für die Gesundheit oder das Leben anderer verursachen könnte.“ Die wesentliche Wirkung der Reform bestand darin, dass die Zahl der Betriebe im zulassungsfreien Handwerk (insbesondere bei den Fliesenlegern und in anderen Teilen des Bau- und Ausbaugewerbes sowie bei den Gebäudereinigern) sprunghaft anstieg. Zu dieser Entwicklung trug der Umstand bei, dass sich ab Mitte 2004 Personen aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten als Selbstständige niederlassen konnten. Trotz alledem konstatiert der Autor, dass in Deutschland – anders als in anderen EU-Staaten – bis heute starke Marktzugangsbarrieren existieren: „Die Novellierung der Handwerksordnung des Jahres 2004 war viel zu zaghaft, denn eine umfassende Liberalisierung gab es nur für einen kleinen Teil des Handwerks.“ (S. 63). Eine Berechtigung für die Beibehaltung des Handwerksrechts sei aus ökonomischer Perspektive dabei nicht zu erkennen, da insbesondere das Argument drohender gesundheitlicher Gefahren auch für solche wirtschaftliche Tätigkeiten gelte, die nicht so starken Reglementierungen unterliegen wie das Handwerk. Insgesamt hätten Wettbewerbsvorteile, die sich durch einen staatlich regulierten Marktzugang ergeben, deshalb keine Berechtigung.
Stefan Bach (DIW, Berlin) und untersucht in seinem Beitrag „Steuerreform: Notwendige Anpassungen vorgenommen, der große Wurf bleibt aus“ die Steuerpolitik und ihre Reform in der Regierungszeit des Kabinetts Schröder. Die Agenda 2010 selbst enthielt Hinweise auf die bereits beschlossenen Stufen der Einkommensteuerreform bis 2005 sowie Pläne zur Gewerbesteuerreform und zur Einführung einer Abgeltungssteuer auf Zinserträge. Zudem sollte das Steuerrecht für Kleinstbetriebe vereinfacht werden und eine stärkere Kontrolle der sogenannten Schattenwirtschaft mehr Steuereinnahmen bringen. Im Herbst 2003 erhielt die Debatte auf Basis des „Bierdeckelvorschlages“ [4] des CDU Wirtschafts- und Finanzexperten Friedrich Merz eine neue Dynamik, die durch ähnlich gelagerte Vorschläge des Heidelberger Professors und Verfassungsrechtlers Paul Kirchhof weiter verstärkt wurde. Bach konstatiert, dass „das Thema nach der Bildung der Großen Koalition dann schnell vom Tisch war“ (S. 66). Zwar seien die Vorschläge weiterentwickelt und umsetzungsfreundlicher gemacht worden, ihre tatsächliche Umsetzung erschien den Finanzpolitikern dann aber fiskalisch zu riskant und in ihren Systemveränderungen zu weit reichend. Konkrete Ergebnisse der Steuerreform waren die Unternehmenssteuerreform 2008, die Einführung der Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge von 2009 an sowie die Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte. Neben den Entwicklungstrends des Steuer- und Abgabensystems erläutert Bach die sich ändernden steuerpolitischen Leitbilder sowie den Verlauf der permanenten Steuerreform seit dem Bestehen der Bundesrepublik. Sein Fazit: „Seit Jahrzehnten werden immer wieder grundlegende Reformdiskussionen zur Unternehmens- und Einkommensbesteuerung geführt, die nach einem ähnlichen Muster ablaufen: der Berg kreist, geboren wird ein Mäuschen.“ (S. 85).
Katharina Wrohlich (DIW, Berlin) schildert in ihrem Beitrag „Ziele, Maßnahmen und Wirkungen der Familien- und Bildungspolitik in der Agenda 2010“. Dieser hatte für den Politikbereich „Familie und Bildung“ insbesondere drei Problembereiche angesprochen: 1) die unzureichenden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erschwere; 2) der Mangel an frühkindlichen Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten, der auch ein Grund für das schlechte Abschneiden deutscher Schüler bei der PISA-Studie darstelle und 3) die Tatsache, dass Eltern mit niedrigem Lohneinkommen für ihre Kinder auf Leistungen der Sozialhilfe beziehungsweise Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. Da diese Leistungen hohe Entzugsraten besäßen, seien die Anreize, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, für diese Eltern niedriger als für Personen ohne Kinder. Zwei wichtige Maßnahmen im Reformpaket der Agenda 2010 beziehen sich direkt auf den Bereich „Bildung und Betreuung von Kindern„: die Bereitstellung von Betreuungsplätzen für alle Kinder unter drei Jahren, deren Eltern erwerbstätig sind, durch das Tagesbetreuungsausbaugesetz (2005) sowie die Unterstützung der Länder beim Ausbau von Ganztagsschulen im Rahmen des Programms „Zukunft Bildung und Betreuung“. Im Rahmen von Hartz IV (Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe) wurde als ergänzende Maßnahme der „Kinderzuschlag“ eingeführt. Nach Angaben der Autoren habe sich das Angebot an Kinderbetreuungsplätzen insbesondere in den westdeutschen Bundesländern zwischen 2002 und 2006 vervielfacht. Dagegen sei das zweite Ziel, nämlich die Verbesserung der Chancengleichheit bei Bildungszugängen, (noch) nicht erreicht, da die Betreuungsmöglichkeiten eher von einkommensstarken und höher gebildeten Eltern genutzt werden. Dieses Ergebnis konnte auch durch den Ausbau von Ganztagsbetreuungseinrichtungen nur zum Teil verbessert werden, wohingegen bei der Erwerbsbeteiligung von Müttern offenbar einige Erfolge erzielt wurden. Für die Umsetzung des Kinderzuschlages resümiert die Autorin, dass hierüber - wegen sehr hoher Grenzbelastungen von zum Teil über 100 Prozent - keine positiven ökonomischen Anreizeffekte zu erwarten seien. Außerdem seien die Bestimmungen der Antragstellung für viele der potentiell Bezugsberechtigten zu kompliziert und undurchschaubar.
Der Beitrag von Reinhard Schnabel (Universität Duisburg-Essen) mit dem Titel „Agenda 2010 und Rentenpolitik – große Erfolge und drohende politische Risiken“ thematisiert die rentenpolitischen Aspekte der Agenda 2010. Bereits das unter der Regierung Kohl verabschiedete Rentenreformgesetz von 1992 setzte sich das Ziel, „den drohenden Anstieg der Beitragssätze der gesetzlichen Rentenversicherung auf bis zu 40 Prozentpunkte zu verhindern“. Zu diesem Zweck wurde die Rentenformel von der bruttolohn- zur nettolohnbezogenen Anpassung umgestellt. Zugleich führte der Gesetzgeber auch die heute noch geltende Abschlagsregelung bei der vorzeitigen Inanspruchnahme von Renten ein. Sie wurde gleitend ab dem Jahr 1998 wirksam und führte zu einer schrittweisen Anhebung des faktischen Rentenzugangsalters. Weiterhin wurde die Mehrwertsteuer um einen Prozentspunkt nach oben gesetzt sowie der so genannte „demographische Faktor“ in die Rentenversicherung eingeführt, der die steigende Lebenserwartung berücksichtigen sollte. Die Agenda 2010 nahm diese Zielsetzung vor dem Hintergrund eines weiteren Beitragsanstiegs der Sozialversicherung ab dem Jahr 2001 bis auf 42 Prozent im Jahr 2003 wieder auf. Kohl-Nachfolger Schröder propagierte deshalb 1) eine Senkung der sogenannten „Lohnnebenkosten“, die zu etwa einer Hälfte auf die Beiträge zur Rentenversicherung zurückgehen und 2) „die Herstellung von Generationengerechtigkeit, insofern er die Sozialpolitik aktuelle Leistungen nicht zulasten der künftigen Generation finanzieren“ dürfe. Maßnahmen der Rentenpolitik im Gefolge der Agenda 2010 bestanden insbesondere in der Einführung des sogenannten „Nachhaltigkeitsfaktors“, der die Rentenanpassungsformel ergänzen sollte: „Die Grundidee des Nachhaltigkeitsfaktors besteht darin, dass die Rentner zwar weiterhin an der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben, aber eine Dämpfung des fremden Anstiegs bei einem Rückgang der Beschäftigung in Relation zur Zahl der Rentner erfolgt. […] Damit schlägt sich die demographische Entwicklung, die vor allem durch einen Rückgang der Erwerbspersonenzahl bei gleichzeitigem Anstieg der Rentnerzahl gekennzeichnet ist, dämpfend auf die Rentenanpassungen nieder.“ (S. 100). Der zweite zentrale Vorschlag der sogenannten „Rürup-Kommission“ (auch: „Nachhaltigkeitskommission“) bestand in der schrittweisen Erhöhung des Regelrentenalters von 65 auf 67 Jahre. Dieser Vorschlag wurde jedoch nicht in das Nachhaltigkeitsgesetz übernommen, sondern erst im Jahr 2007 in abgewandelter Form umgesetzt: „Mit Nachhaltigkeitsfaktor und „Rente mit 67“ soll das schon in der Riesterreform festgelegte Beitragsziel von maximal 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und von maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 eingehalten werden.“ (S. 100). Weitere Maßnahmen, die eine direkte oder indirekte Wirkung auf den Arbeitsmarkt für Ältere und das Rentenzugangsalter entfalten, sollten dazu dienen, die Erwerbstätigkeit von Älteren zu erhöhen und gleichzeitig die Frühverrentung abzubauen. Hier sind insbesondere die Verkürzung der Bezugszeiten von Arbeitslosengeld I für Ältere und die Abschaffung der „Altersrente bei Arbeitslosigkeit“ zu nennen. Gemessen am Ziel der Einhaltung Beitragssatzstabilität konstatiert der Autor eine „überaus positive Zwischenbilanz“, insofern diese Stabilität gewährleistet werden konnte, obwohl die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 2002 bis 2005 auch für die Rentenversicherung sehr ungünstig verlief. Für die Betroffenen sei „die Stagnation der Renten zwar bedauerlich, doch ist zu bedenken, dass auch die Erwerbspersonen (Beschäftigte und Arbeitslose) in den Jahren 2002 bis 2006 nicht besser abgeschnitten.“ Eine interessante und zugleich über die Rentenreform hinaus verbreitete Rechtfertigungslogik, die die Einschnitte bei den Rentnern damit begründet, dass andere Bevölkerungsgruppen schließlich auch Leistungskürzungen hinzunehmen hatten. Ein weiterer bedeutender Erfolg der Reformmaßnahmen besteht für den Autor im „dramatischen Beschäftigungsanstieg der Älteren“. Hier wurde erstmals ein Jahrzehnte alter Trend umgedreht und damit zugleich bewiesen, dass ein geringer Beschäftigungsstand in dieser Altersgruppe „nicht naturgegeben sei“. Korrespondierend mit dem Beschäftigungsgewinn der Älteren ist auch das durchschnittliche Rentenzugangsalter um gut anderthalb Jahre angestiegen was zu einer Entlastung der gesetzlichen Rentenversicherung auf der Ausgabenseite und zu einer gleichzeitigen Stärkung der Einnahmenseite geführt habe. Auch der Anstieg der privaten Altersvorsorge („Riester-Rente“) könne als Erfolg der Rentenpolitik interpretiert werden. Hierbei seien Geringverdiener, Frauen und Familien mit Kindern überrepräsentiert: „Das heißt, dass die ergänzende private Altersvorsorge auch und gerade von denjenigen Bevölkerungsgruppen angenommen wird, die im Zentrum der Sorge um Altersarmut stehen. Dies berechtigt zu der Hoffnung, dass weite Bevölkerungsteile die entstehende Rentenlücke der gesetzlichen Rentenversicherung durch private Vorsorge füllen können.“ (S. 103). So kann man die durch den Zwang verminderter Rentenzahlungen in der gesetzlichen Rentenversicherung entstandene „Einsicht“, vermehrt private Vorsorge betreiben zu müssen – wenn man es sich denn auf Basis zugleich gesunkener Realeinkommen leisten kann –, auch als positives Eigeninteresse an Produkten wie zum Beispiel der „Riester-Rente“ ausdrücken [5]. Trotz dieser Erfolge bei der Beitragsstabilisierung stehe die Rentenpolitik zukünftig vor großen Herausforderungen, die sich insbesondere daraus ergeben, „die in den genannten Gesetzen verankerten langfristigen Reformen angesichts tagespolitischer Opportunitäten zu verteidigen.“ (S. 103). Die Gefahr eines drohenden Anstiegs der Altersarmut mag der Autor – aktuell, aber auch für die Zukunft – dabei nicht erkennen können, weil die entstehende Rentenlücke eben auch von Geringverdienern durch private Altersvorsorge geschlossen werden könne, die Altersarmut von Frauen, u. a. wegen der Anrechnung von Kindererziehungszeiten, zurückgehen werde und nach den Reformen bei der „Grundsicherung im Alter“ kein Rückgriff mehr auf Einkommen und Vermögen von Verwandten genommen werde. Das Gesamtfazit in Bezug auf die Rentenreform fällt für Schnabel deshalb auch positiv aus: „Die wesentlichen Weichen wurden in der Rentenpolitik gestellt. Jetzt muss nur noch Kurs gehalten werden. Gefahr droht der Stabilisierung der sozialen Sicherungssystems im Allgemeinen und des Rentensystems im Besonderen von mehreren Seiten. Zum einen könnte die Ausdehnung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeld I wieder die Anreize verstärken, bei betriebsbedingten Kündigungen vornehmlich ältere Arbeitnehmer ins Visier zu nehmen. Zum anderen droht eine weitere Verwässerung der Rente mit 67. Schließlich führen Eingriffe in die Rentenformel mittelfristig dazu, dass die Beitragsziele verfehlt werden. Diese Tendenzen drohen die unstrittig erzielten Erfolge zunichte zu machen.“ (S. 107).
Bernd Raffelhüschen (Universität Freiburg) beschäftigt sich in seinem Beitrag „Gesundheitsreformen – Und kein Ende in Sicht!“ insbesondere mit der „never-ending-story“ der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Ihr Problem liege klar auf der Hand: „Das umlagefinanzierte System der GKV wird schon in naher Zukunft aufgrund zweier Faktoren in massive Finanzierungsschwierigkeiten geraten. Der erste Faktor ist der doppelte Alterungsprozess, welcher das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung aufgrund niedriger Geburtenraten und einer zunehmenden Lebenserwartung in den nächsten Dekaden stark ansteigen lässt. Da in der GKV Beiträge hauptsächlich von den künftig die relativ weniger werdenden Personen im erwerbsfähigen Alter bezahlt, Leistungen aber überwiegend vom künftig zunehmenden Anteil der Rentnergenerationen in Anspruch genommen werden, führt der doppelte Alterungsprozess zu einer größer werdenden Lücke zwischen GKV-Einnahmen und GKV-Ausgaben. Hinzu kommt der zweite Faktor – der medizinisch technische Fortschritt –, der, aufgrund der Dominanz kostensteigernder Produkt- gegenüberkostensenkenden Prozessinnovationen, bereits in der Vergangenheit zu einer stetigen Zunahme der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) geführt hat.“ (S. 108) [6]. All dies hätte letztlich „verheerende Auswirkungen auf den Standort Deutschland“ (S. 109).
Reformen hätten deshalb sowohl auf der einen Seite als auch auf der Ausgabenseite anzusetzen. Schon in der jüngeren Vergangenheit seien die Einnahmen deutlich weniger stark gestiegen als die Ausgaben der GKV. Dies habe im Wesentlichen daran gelegen, dass die gesamtwirtschaftliche Lohnquote aufgrund des großen Zugangs der geburtenstarken Jahrgänge in den Arbeitsmarkt gesunken ist [7] und sich einkommensstarke Bevölkerungskreise dem solidarischen gesetzlichen System durch Abwanderung in die private Krankenversicherung entzogen hätten. Das Problem besteht für Raffelhüschen in der sogenannten Beitragsäquivalenz und damit in einer Fortführung der Tradition der bismarckschen Sozialversicherung: „Wer also viel zahlt, bekommt viel und wer wenig zahlt, bekommt wenig, so dass die Relation Ein- zu Auszahlung immer gleich – sprich äquivalent – war.“ (S. 111). Die Lösung sieht er in der „schlichten Trennung von sozialem Ausgleich und beitragsäquivalenter Finanzierung“, will heißen: „Jede Form des Ausgleichs zwischen „Arm“ und „Reich“ hat durch die Einkommensteuer zu erfolgen. Dort und nur dort trägt nämlich jeder „Reiche“ nicht nur absolut, sondern durch die Progression auch relativ steigend, also überproportional, zur Entlastung der „Armen“ bei.“ (S. 111). Technisch könnte dies 1) durch die Einführung eines risikoäquivalenten individuellen Versicherungssystems nach Vorbild der PKV für alle bislang GKV-Versicherten geschehen - mit erheblichen Auswirkungen auf die Prämienhöhe insbesondere bei älteren Versicherten. Ein ähnliches Resultat ergebe sich 2) bei Einführung der so genannten „Kopfpauschale“ [8], die in Bezug auf die Beitragsbemessung ebenso eine deutlich stärkere finanzielle Belastung der älteren Generation bedeuten würde, auch, wenn diese geringer als im ersten Fall ausfallen würde. Für die Ausgabenseite sei zu diskutieren, welcher der momentan diskutierten Vorschläge – Fondsmodell mit oder ohne Kopfpauschale oder Steuerfinanzierung – das angesprochene Nachhaltigkeitsproblem besser zu lösen vermag?: „Die Antwort auf diese Frage lautet schlicht: Keinem. Denn ebenso wie der zukünftige Beitragszahler für das jetzige System nicht geboren wurde, fehlt künftig der Beitrags- bzw. Steuerzahler für den auch immer gearteten Fonds. Was die GKV für die Zukunft benötigt ist eben eine Ausgabenreform – unabhängig davon, wie sie ihre Einnahmen generiert.“ (S. 112). Diese sei nötig und auch durchführbar, indem zukünftig Über-, Unter- und Fehlversorgungen vermieden werden, die bis jetzt signifikante Ineffizienzen produzierten. Eine marktwirtschaftlich orientierte Reform brauche, so Raffelhüschen, dabei im wesentlichen drei Elemente: 1) die Bremsung der überproportionalen Kostenentwicklung im stationären Bereich mit seinen langen Aufenthaltsdauern, denn „nur ein wettbewerbliches System mit entsprechenden selektiven Kontrakten zwischen Anbietern und Nachfragern, welches frei ausgehandelte Preise und auch den Marktaustritt bei Unwirtschaftlichkeit kennt, kann hier eine solche Tendenz bewerkstelligen.“ (S. 114). Ein weiteres Element bestehe 2) darin, „die Preisfühlbarkeit für den Patienten überall dort zumindest partiell wiederherzustellen, wo seine Zahlungsbereitschaft im Rationalen verbleibt [9] […] Hier sind über hohe allgemeine Selbstbehalte hinreichende Steuerungsmaßnahmen zu erwarten, die für ein deutlich effizienteres Nachfrageverhalten sorgen würden. Dass dies so ist, zeigt nicht umsonst die Einführungsphase der Praxisgebühr.“ (ebd.). Schließlich sei 3) die Überprüfung des Leistungskataloges anzumahnen: „In Deutschland glaubt man immer noch, dass für den Fall der Ausklammerung die Armen am Zustand ihrer Zähne zu erkennen wären [10]. Dabei wissen wir doch genau, dass beispielsweise die Schweizer tendenziell mehr „naturgesunde“ Gebisse aufweisen als wir, obgleich dies nicht durch die obligatorische Krankenversicherung gedeckt ist. Offensichtlich führen Preisanreize auch zur effizienten Prophylaxe – man putzt sorgfältiger, gerade weil das Unterlassen finanzielle Auswirkungen hat!“ (ebd.). So wirkt die „invisible hand“ des Marktes in Gestalt des Marktpreises als (gesundheits-)pädagogisches Präventivinstrument. Weil er die Menschheit – die von sich aus selbstverständlich keinen guten Grund weiß, Zahnpflege zu betreiben und stattdessen entweder vorsätzlich oder auch nur gleichgültig den eigenen Körper als „Humanressource“ mutwillig verfallen lässt, damit verschwendet und die entstehenden Gesundheitskosten auch noch einem sowieso überforderten Sozialstaat aufbürdet – zu ökonomisch vernünftigem Gesundheitsverhalten erzieht. Ein beeindruckendes Beispiel (wirtschafts-)wissenschaftlicher Ideologieproduktion!
Schuld an der ganzen Misere im Gesundheitswesen ist für Raffelhüschen dann auch folgerichtig dieses Volk selbst – genauer: seine zu geringe Fertilitätsrate: „Tatsache ist, dass zukünftig etwa doppelt so viele Menschen das Gesundheitssystem um das Jahr 2035 beanspruchen werden und diese selbst durch ihr eigenes Zeugungsverhalten die Anzahl der Träger des Generationenvertrags GKV auf etwa drei Viertel der heutigen Beitragszahler reduziert haben […] damit ist klar, dass wir nicht für alle alles medizinisch Notwendige auf Dauer durch die umlagefinanzierte GKV finanzieren können, wir müssen rationieren.“ (S. 115) [11]. Diese Aussage enthält die Behauptung, dass die Geburt von mehr Kindern automatisch auch mehr Beitragszahler bedeutet. Eine steigende (Jugend-)Arbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne in einem wachsenden Niedriglohnsektor (also selbst bei gleichzeitig steigenden Erwerbspersonenzahlen) sind für den Ökonomen damit unerheblich. Für ihn stehen wir deshalb am „gesellschaftlichen Scheideweg„: „Entweder verstaatlichen wir dieses schon sehr kollektivistische System weiter und überlassen die Rationierung dem Staat mit seiner administrativen Bürokratie. Ärzte werden dann quasi zu Beamten, die nach Wartelisten und Punktesystemen behandeln, alle paar Jahre vom „Qualitätssicherungshauptamt“ überprüft werden und täglich um fünf Uhr nach Hause gehen […] der Preis ist jedoch Zweiklassenmedizin per se: der „Arme“ bekommt die Grundversorgung, der „Reiche“ geht, wie in England, woanders hin.“ (ebd.). Dies kann – die ironisch gemeinte Überzeichnung kündigt es an – nach Raffelhüschen selbstverständlich nicht der richtige Weg sein. Er plädiert stattdessen für eine streng marktwirtschaftliche Lösung. Die führt letztlich auch zur „Rationierung“, allerdings handelt es sich hierbei dann um eine solche mit sinnvolleren Resultaten, nämlich eine „Rationierung durch den Markt, und der macht das durch Wettbewerb und Preise. Ärzte und Krankenhäuser werden dann zu Unternehmen, die mit der Gesundheit Geld verdienen wollen und sollen! Die Patienten sind dann Kunden und bekommen für die Leistungen einer Rechnung, die sie begleichen und deshalb gut kontrollieren, weil sie die Rechnung nur zum Teil erstattet bekommen.“ (ebd.). So sieht für den Gesundheitsökonomen die optimale Entscheidung zwischen zwei Verteilungsmechanismen aus: „Der kollektivistische Weg sorgte dafür, dass bei einer relativ schlechten Durchschnittsversorgung kaum einer Varianz im Versorgungsniveau auftritt. Er ist also essentiell egalitär im Gegensatz zur marktwirtschaftlichen Allokation der Gesundheitsversorgung, die toleriert, dass der „Reiche“ sich vielmehr vom Gut „Gesundheit“ leisten kann als der „Arme“, wobei letzterer allerdings durch Formen der Quersubventionierung im Durchschnitt besser versorgt wird. Der Markt schafft also einen guten Durchschnitt bei hoher Varianz.“ (ebd.). Wie gesagt: „Der Markt“ sorgt auch hier für die noch „relativ beste“ einer volkswirtschaftlich betrachtet leider letztlich nicht wirklich beeinflussbaren und insofern immer irgendwie suboptimalen Verteilungsrealität, in die man deshalb auch besser erst gar nicht groß einzugreifen versucht.
Diskussion
An derartigen Aussagen wird deutlich, dass die Beiträge des Bandes wirtschaftstheoetisch und -politisch mehr oder weniger den spätestens seit den 1990er Jahren vorherrschenden wirtschaftsliberalen Geist repräsentieren: „weniger Staat“ und „mehr Markt und Wettbewerb“, „indirekte Steuerung“ verbunden mit „Deregulierung und Flexibilisierung“, „mehr Eigenverantwortung“ sowie der sukzessiven Privatisierung sozialer Risiken („Selbst(vor)sorge“).
Intention und Ziele der Agenda 2010, die sich eben diesen Maximen verpflichtet fühlt, stehen für die Autoren deshalb grundsätzlich außer Frage. Zweifel und Kritik beziehen sich – wie anfangs geschildert und zugleich durchgehend – stattdessen auf die mangelhafte, d. h. in ihren Augen zu „zaghafte und zögerliche Umsetzung“ des Reformwerkes, weshalb im Sinne des Ursprungskonzeptes nachgesteuert, also „weiter reformiert“ werden müsse. In der bildreichen Sprache des Vizekanzlers: „Damit sind wir bei der Frage, wie es mit der Agenda-Politik weitergeht. Wie ein Bergwanderer auf dem Weg zum Gipfel sind wir derzeit auf einer Art Hochplateau angekommen. Die Mühen des Anstiegs liegen zunächst einmal hinter uns. Die Versuchung, sich auszuruhen, ist groß […] Vor fünf Jahren ging es um den Mut zur Veränderung. Den Mut, auch Unpopuläres zu tun, um das Land wieder auf einen langfristigen Wachstumspfad zu führen. Heute geht es um einen anderen Mut, den Mut zur Beharrlichkeit.“ (S. 118 f.). Die Agenda-Politik krankt danach letztlich im Wesentlichen daran, dass sie eigentlich immer noch nicht „richtig“ stattgefunden hat bzw. bisher eben „nicht weit genug“ gegangen ist. Folglich ist sie zukünftig nicht einfach nur fortzusetzen, sondern sowohl in ihrer Programmatik als auch in ihrer praktischen Umsetzung weiter zu radikalisieren. Diese Forderung trägt sich dabei apodiktisch vor und beruft sich dazu auf quasi unabweisliche und in den Augen der Experten eigentlich gar nicht mehr erklärungsbedürftige wirtschaftspolitische Erfordernisse, die bedient sein wollen, damit der „Standort Deutschland“ erfolgreich sein kann. Damit werden wie Birenheide/Legnaro richtig resümieren „[…] Kausalitäten hergestellt, die die sozialen Gegebenheiten als unabweisbar und natürlich begründen, als den einzig möglichen Entwurf der Welt. Eine Politik, die als ‚alternativlos‘ ausgegeben wird, schneidet damit nicht nur alle Versuche ab, andere politische Pfade einzuschlagen, sondern charakterisiert sie auch als undenkbar und beraubt sie damit jeglicher kognitiver Voraussetzung, was hegemonialen Erzählungen gegen Kritik wie gegen Änderungsvorschläge immunisiert.“ [12]
Bis vor kurzem jedenfalls, denn seit sich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute unisono in der Ausmalung von Krisenszenarien überbieten, ist alles ganz anders: Dass es milliardenschwere Konjunktur(rettungs)programme braucht, scheint aktuell ebenso klar, wie die Tatsache, dass diese selbstverständlich nur über ein drastisches Einschreiten eines „starken Staates“ und d. h. über eine eine massive Verschuldungspolitik der öffentlichen Hand finanziert werden können. Der Keynesianismus („Konsumgutscheine“!), kürzlich noch so etwas wie ein „Beinahe-Sozialismus“, der deshalb mit diesem zusammen zu entsorgen war, feiert parteiübergreifend theoretisch wie praktisch seine wirtschaftspolitische Auferstehung, genauso wie der Staat damit insgesamt angeblich eine „wirtschaftspolitische Renaissance“ erlebt [13].
Zugleich kann niemand mit Sicherheit sagen, ob diese Szenarien auch tatsächlich in der vorausgesagten Art und Weise eintreten werden, ob vielleicht alles „nur halb so schlimm“, vielleicht aber auch „noch viel schlimmer“ kommt: „Wir können sagen, da passiert was Schlimmes, aber wie schlimm es wird, können wir nicht sagen.“ (DIW-Chef Zimmermann, Spiegel-Online vom 16.12.2008). Der Wirtschaftsexperte empfiehlt seinesgleichen deshalb, sich erst einmal nicht mehr zur Zukunft zu äußern und zumindest vorläufig auf Konjunkturprognosen ganz zu verzichten, bis die gegenwärtige „Ausnahmesituation überstanden“ ist – als hätten die Wirtschaftsforscher in der Normalität der Vor-Krisenzeit mit ihren Vorhersagen immer richtig gelegen. Daran schließt sich letztlich auch die Frage an, was eine Displizin im Ganzen taugt, die sich just dann aus der Erklärung bzw. Diskussion um die Bewältigung einer Problemlage zeitweilig verabschiedet, in der sie am meisten gefordert wäre?
Ähnlich indifferent der „Wirtschaftsweise“ und Vorsitzende des Sachverständigenrates Bert Rürup, der es für das entscheidende Merkmal der gegenwärtigen Situation hält, dass man nichts über sie weiß bzw. wissen kann: „Das entscheidende Merkmal der aktuellen Situation ist eine außerordentlich hohe Unsicherheit.“ (Spiegel-Online vom 17.12.2008). Eine Banalität, für die man keine (Wirtschafts-)Wissenschaft betreiben muss, dazu reicht der schlichte Blick in die Tagespresse. Eingeständnisse der eigenen Ohnmacht, die von führenden Wirtschaftslenkern der Republik ergänzt werden, die zugeben müssen, dass sie nurmehr „auf Sicht fahren“ (VW-Chef Winterkorn, SZ-Online vom 14.12.2008), also als die gestern noch allseits gefeierten „Macher“ auch keine rechte Ahnung haben, „wie es weitergeht“. Ein Resultat, dass zugleich allerdings niemanden der Beteiligten davon abhält, ständig neue Vorschläge zur praktischen Bewältigung der Lage beizusteuern, die man nach eigener Aussage nicht erklären kann.
Fazit
Vor dem Hintergrund dieser Situationsbeschreibung besitzt der hier vorliegende Band dann schon fast einen wirtschaftshistorischen Charakter. Was ihn trotzdem nützlich macht ist die ausführliche und vollständige Darstellung der sozial- und wirtschaftspolitischen Zielsetzungen sowie der Umsetzung der Agenda 2010-Programmatik. Dies gilt auch, wenn man die erläuterten wirtschaftstheoretischen bzw. politischen Interpretationen nicht teilen mag.
[1] Als sogenannter „Anspruchslohn“ bezeichnet dieses Niveau den Arbeitslohn, zu dem ein Arbeitnehmer gerade noch bereit ist, seine Arbeitskraft anzubieten. Liegt der Lohn unter dem Reservationslohn, wird keine Arbeitskraft mehr angeboten. Bezogen auf die Grundsicherungsleistungen: danach bestimmt die Höhe bzw. Niedrigkeit der Grundsicherung im SGB II das Niveau von (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, insofern sich aus ihrem Niveau die „Stärke des Arbeitsanreizes“ ergibt.
[2] Das Bundesverfassungsgericht hatte das Konstrukt der Arbeitsgemeinschaften (ARGEn) zwischen Bundesagentur für Arbeit und den Kommunen für verfassungswidrig erklärt, weil es sich damit um eine grundgesetzlich ausgeschlossene Form der Mischverwaltung handele.
[3] Sei es ein regulärer Job oder eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme beziehungsweise eine Trainingsmaßnahme. „Hauptsache Arbeit“ heißt auch hier das Prinzip. Weiter gehende Lohnansprüche jedenfalls hält der Autor wie dargestellt für arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv.
[4] Die Steuererklärung sollte danach auf einen Bierdeckel passen. Merz plädierte in diesem Zusammenhang für eine radikale Vereinfachung des Steuerrechts.
[5] Folglich wird die „Riester-Rente“ vom Staat durch Zulagen und Sonderausgabenabzugsmöglichkeiten gefördert, um „Anreize“ zur verlangten zusätzlichen privaten Vorsorge zu schaffen, die sich viele – ohne diese Zuschüsse – sonst nicht leisten könnten und deshalb womöglich unterlassen. Leisten können muss man sich auf der anderen Seite das Ansparen entsprechender Eigenmittel dazu allerdings schon.
[6] Dem Einwand, dass das Verhältnis Gesundheitsausgaben zu BIP in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben wäre und das Problem der GKV damit ein reines Einnahmenproblem sei, hält Raffelhüschen entgegen, „dass sich der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben am BIP laut jüngsten OECD-Gesundheitsdaten von 4,4% im Jahr 1970 über 6,3% in 1990 auf nunmehr 8,2% in 2005 fast verdoppelt hat.“ (S. 108 f.).
[7] Nebenbei: Es ist einigermaßen rätselhaft, wie allein die Tatsache, dass geburtenstarke Jahrgänge in den Arbeitsmarkt drängen, eine negative Wirkung auf die Lohnquote haben können soll. Anders: Wenn mehr Erwerbstätige gesamtgesellschaftlich weniger verdienen, ist das eine Aussage über den Lohn und diejenigen, die ihn zahlen – und nicht umgekehrt!
[8] Jedes Individuum zahlt immer einen Pauschalbetrag und bekommt dafür als Gegenleistung einen Leistungskatalog, der eine mehr oder weniger großzügige „Basisversorgung“ abdeckt.
[9] Dies gelte zum Beispiel nicht für die Notfallversorgung oder bei lebensbedrohlichen Krankheiten, wo der Preis aufgrund unendlicher Zahlungsbereitschaft seine steuernde Funktion ohnehin verlieren würde.
[10] Jüngste Studien, die u. a. an Berliner Schulen durchgeführt wurden, kommen dabei zu anderen Ergebnissen: „Die Ärzte sind auf einen bislang eher unbeachteten Indikator für die Spaltung der Gesellschaft gestoßen: die Zahnfäuleverteilung. „Viele haben wenig Karies, wenige haben viel Karies“, meldet die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und spricht von einer „deutlichen Kariespolarisation“. Das staatliche Robert Koch Institut kommt in einer aktuellen Untersuchung zu dem Schluss, dass sozial benachteiligte Schichten ein mehrfach höheres Kariesrisiko tragen als die Durchschnittsbevölkerung.“ (http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,591151,00.html vom 15.11.2008).
[11] Müssen müssen „wir“ natürlich nur dann, wenn der Gedanke, das Umlagesystem durch externe Finanzmittel aufzufüllen (Geld scheint – wie die aufgelegten Rettungsprogramme für fallierende Großbanken belegen – ja offenbar genug vorhanden zu sein!), von vorneherein ausscheidet, weil es sich bei diesem Zweck der Umverteilung um eine ökonomisch unproduktive und damit verschwenderische Form von „staatlichem Dirigismus und Kollektivismus“ handeln würde, wohingegen sich ähnlich gelagerte Aktionen zur Rettung des Bankensystems natürlich als alternativlos darstellen! Offenbar steht hier weniger eine Entscheidung zwischen „Markt“ und „Dirigismus“, als vielmehr eine zwischen „guten“, d. h. vorrangigen und „schlechten“, d. h. nachrangigen Zwecken an, für im ersten Fall „öffentlicher Gelder in die Hand zu nehmen“ sind, die im letzten Fall eher „verschwendet“ sind.
[12] Birenheide, Almut; Legnaro, Aldo (2008): Regieren mittels Unsicherheit. Regime von Arbeit in der späten Moderne, Konstanz, S.11
[13] Gerade so, als wäre der „aktivierende Staat“ kein Staat und die Agenda 2010 kein Staatsprogramm. Dass „Aktivierung“ und selbst „Deregulierung“ staatliche Steuerung bedeuten – eben in einer anderen, keineswegs weniger nachdrücklichen Form und für einen anderen Zweck – weist Stephan Lessenich (vgl. die Rezension) eindrücklich nach.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website
Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.
Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 21.01.2009 zu:
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Fünf Jahre Agenda 2010. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2008.
ISBN 978-3-428-12815-0.
Reihe: Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung - Jg. 77, H. 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6385.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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