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Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 09.09.2009

Cover Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird ISBN 978-3-525-26525-3

Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2006. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Auflage. 476 Seiten. ISBN 978-3-525-26525-3. 44,90 EUR.

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Thema

Was als normal gilt, ist so normal, dass es oft gar nicht mehr auffällt. Dem Sprachwissenschaftler Jürgen Link indessen ist die Normalität aufgefallen. Normalität entsteht nicht aus dem Nichts, sondern wird durch Normalisierungen gesellschaftlich hervorgebracht. Dem wirken aber auch Denormalisierungen entgegen. Mit dem ‹Normalismus› analysiert Link ein wichtiges und typisches Signum der Moderne. Wie nie zuvor (re)produziert das moderne kulturelle Regime routinemässig Normalitäten. Links Entdeckung des Normalismus hat weitere Forschungen zum Thema angestossen.

Autor

Jürgen Link ist Professor am Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Dortmund und Mitherausgeber der drei Bände Grundlagen des Normalismus (2001, 2003).

Aufbau und Inhalt

Link hat seinen «Versuch» bereits 1997 vorgelegt, nun erscheint das Buch in dritter und wesentlich überarbeiteter Auflage. Es ist in zehn Kapitel gegliedert (wobei das erste und letzte völlig neu verfasst worden sind):

  1. Zu Beginn umreisst Link, was Normalität alles nicht ist: Normativität, Alltäglichkeit, Bio-Homöostase, Technokratie, ästhetische Banalität, konstruierte soziale Wirklichkeit. Desgleichen entspricht Normalisierung nicht einfach Sanktionierung, Veralltäglichung, Angleichung an natürliche Parameter, Disziplinierung, ästhetischer Banalisierung oder Auflösung epistemologischer Störungen.
  2. Sodann untersucht Link den Platz des Normalismus in modernen Kulturen und macht zwei normalistische Strategien ausfindig: den ‹Protonormalismus› und den ‹Flexibilitätsnormalismus›. Eine Übersichtstabelle (S.57f.) zeigt die wichtigsten Unterschiede auf. Den klaren Grenzen, Härten, Festlegungen der ‹protonormalistischen Strategie› folgen historisch die Variabilitäten und Lockerungen der ‹flexibel-normalistischen Strategie›. Normalität entfernt sich immer mehr von Normativität.
  3. 1968 markiert für Link eine Zäsur. Bereits vorher auf den Weg zu einer Theorie der Normalität gemacht hat sich die Frankfurter Schule. Link wird bei Adorno und Marcuse fündig.
  4. Für die Zeit nach dieser Wende sieht sich Link vor allem bei französischen Theoretikern um und widmet sich ausführlich Canguilhem, Foucault, Ewald, Castel, Donzelot und Guillaume. Er rundet seine Übersicht mit Hacking und Luhmann ab.
  5. Links theoretischer tour d‘horizon wendet sich in der Folge wieder weiter in die Geschichte zurück, zu pränormalistischen Komplexen und Dispositiven des 18. Jahrhunderts, ehe er die Entwicklung von Quételet und Comte an Marx und anderen vorbei zu Durkheim nachzeichnet. Im 20. Jahrhundert kommen wir nach Link sodann im flexiblen Normalismus an. Link lässt seine Ausführungen dazu mit Freud beginnen, ehe er die nachfolgenden Jahrzehnte durchstreift.
  6. Im Folgekapitel umreisst Link eine ‹struktural-funktionale Theorie des Normalismus›. Er löst sich dazu von einzelnen Autoren und wendet sich Erscheinunngen wie Konkurrenz, Atomisierung und Vermassung, Industrienormen, Verdatung, Skalierung, Prognostik und vielen anderen zu.
  7. Das moderne Kollektivsymbolsystem versucht Link mit einer Visualisierung verständlich zu machen, das vom Querschnitt durch ein U-Boot ausgeht (S. 366). Darin befinden sich drei symbolische Hauptachsen: die vertikale steht für Hierarchien, die horizontale für Gleichgewichtszustände und die diagonale für Dynamik. Im Achsenschnittpunkt befindet sich das symbolische Zentrum. Auf allen drei Achsen werden auch Abweichungen symbolisiert. Das U-Boot vereint durch seine Struktur der Waage Flexibilität und durch seine festen Wände protonormalistische Fixierungen.
  8. Die «Selbst-Normalisierung», die bereits im sechsten Kapitel gestreift worden ist, wird in einem eigenen Kapitel nochmals genauer untersucht. Als Themen kommen neben anderen Psychotherapie, Normallebensentwurf, Gender-Mix, Stress und Geständnisliteratur in Betracht.
  9. Bewegen wir uns auf einen universellen Normalismus zu, fragt sich Link gegen Ende hin und deckt einige Aporien auf, so jene der Normal-Monade, der Normal-Familie, des Normal-Clubs sowie des normalen Nationalstaats.
  10. Zum Schluss setzt Link den flexiblen Normalismus in ein Verhältnis zur Postmoderne und findet viele Entsprechungen.

Soweit nur das Gerüst des Argumentationsgangs. Tatsächlich ist dieser viel verzweigter und inhaltlich gehaltvoller als hier wiedergegeben. Links Bezüge vermögen dabei immer mal wieder zu überraschen. Eingestreut und recht ausführlich besprochen sind etwas viele Roman-Beispiele aus der Literatur. Auf diese Weise ergibt sich alles in allem ein facettenreiches Bild des Normalismus als eines modernen Netzes von Dispositiven, die geregelt sektoriell und allgemeine Normalitäten hervorbringen.

Zielgruppen

Das Buch ist gut geschrieben und eignet sich über eine wissenschaftliche Leserschaft hinaus auch für sonstige Interessierte, die den Spuren des Entstehens und Verschwindens von Normalem nachgehen möchten. Es lädt mit seinen vielen Details auch einfach zum Herumstöbern ein.

Fazit

Link will, wie er in der «Vorbemerkung» bekannt gibt, «ein sowohl systematisch konzises wie historisch plausibles Konzept des ‹Normalismus›» vorlegen. Das ist ihm weitgehend gelungen. Beeindruckend ist die Fülle der empirischen Bezüge recht unterschiedlicher Art.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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ISSN 2190-9245