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Arnd Götzelmann (Hrsg.): Seelsorge systemisch gestalten

Rezensiert von Peter Schröder, 30.10.2008

Cover Arnd Götzelmann (Hrsg.): Seelsorge systemisch gestalten ISBN 978-3-8370-2810-2

Arnd Götzelmann (Hrsg.): Seelsorge systemisch gestalten. Konstruktivistische Konzepte für die Beratungspraxis in Kirche, Diakonie und Caritas. Books on Demand GmbH (Norderstedt) 2008. 212 Seiten. ISBN 978-3-8370-2810-2. 19,00 EUR. CH: 33,90 sFr.

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Thema

Von Anfang an ist die Theologie eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand im Dialog mit anderen Wissenschaften entfaltet. So ist der Dialog mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen bereits im Schöpfungsbericht Gen. 1 - 2,4a deutlich zu hören. Im Neuen Testament bilden sich unübersehbar philosophische Denk- und Deutungssysteme der Zeit ab. Diese Nähe zur Philosophie ihrer Zeit hat die Theologie mit auf den Weg genommen, sie hat sie als Hilfswissenschaft ("ancilla theologiae") verstanden, bis die Philosophie selbst Einzelwissenschaften in die Selbständigkeit entlassen und sich als "Mutter" der Wissenschaften erwiesen hat. Im Laufe des Differenzierungsprozesses ist die Theologie zu einer Wissenschaft neben anderen geworden, die keinen exklusiven Deutungsanspruch mehr erheben kann, sondern im Gegenteil ihren Status als Wissenschaft immer wieder begründen muss. Das tut sie wiederum im Dialog mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen.

Die Seelsorge steht in mancherlei Hinsicht im Zentrum der Theologie. In der vorreformatorischen und auch der reformatorischen Theologie war sie eng mit dem Bußsakrament verbunden und hat von dort den Ordnungsaspekt (In-Ordnung-Halten der Gemeinde) betont. Auch die pietistische Seelsorge wird als Funktion der Gemeinde verstanden, stimmt aber bereits erstaunlich moderne Töne an: Seelsorge geschieht in kleinen, überschaubaren Gruppe. In der Herrnhuter Brüderunität wird festgehalten: "Wenn man nicht der Seele ihre Falten weiß und sie nach ihrer Art legen kann, so tut man allezeit Schaden." (vgl. Schütz, Seelsorge S. 43) Im Zeitalter der Aufklärung wird Seelsorge als eine Weise des Unterrichtens und Belehrens verstanden, der Erziehungsaspekt tritt in den Vordergrund. Das 19. Jahrhundert hingegen betont die Freiheit, Mündigkeit und Selbständigkeit des Christen und allmählich erweitert sich das Gesichtsfeld der Seelsorge: die gesellschaftlichen Verhältnisse geraten ebenso in den Blick wie die Strukturen der Gemeinde. Im 20. Jahrhundert steht der - gelegentlich scharf geführte - Dialog mit der Psychologie im Vordergrund: einerseits werden psychologische Konzepte integriert, andererseits wird (vor allem in der dialektischen Theologie) heftig den einen Psychologismus polemisiert. So steht die Seelsorge auch am Rand der Theologie, nämlich da, wo sie anderen Wissenschaften (vor allem der Pädagogik und der Psychologie) begegnet - und in der Gefahr steht, eine fremde Wissenschaftslogik zu übernehmen.

Ich erinnere stichwortartig an die Geschichte der Poimenik (= Lehre von der Seelsorge), um das Feld zu umreißen, das die im Band versammelten AutorInnen betreten. Das erkenntnistheoretische Konzept, das sich gegenwärtig in vielen Wissenschaften etabliert hat, ist der Konstruktivismus, der in seiner radikalen Form die menschliche Fähigkeit bestreitet, eine objektive Realität zu erkennen und die Wirklichkeit als eine vom Subjekt konstruierte Wirklichkeit versteht. Nicht nur wegen der tradierten Ontologie, sondern vor allem wegen der (gewohnten) Logik des Redens von Gott: die Wirklichkeit ist längst konstruiert, Aufgabe der Christen ist es (nach traditionellem Verständnis), diese Konstruktion glaubend anzunehmen. Und da beißt sich die konstruktivistische Katze in den Schwanz…

Entstehungshintergrund

Der Band "Seelsorge systemisch gestalten" ist die Dokumentation einer Tagung, die im November 2007 an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen in Kooperation mit dem Verband für systemische Seelsorge e.V. stattgefunden hat.

Herausgeber und Anliegen

Der Herausgeber Arndt Götzelmann ist Professor für Diakonik, Ethik, Sozialmanagement und Soziale Arbeit mit alten, behinderten und kranken Menschen an der FH Ludwigshafen sowie Privatdozent für Praktische Theologie in Neuendettelsau. In seiner Einführung nennt er als Anliegen des Bandes, den Rezeptionsprozess systemischer und konstruktivistischer Ansätze "in ökumenischer Offenheit weiter voran [zu] bringen und [zu] vertiefen." (S. 7)

Aufbau

Die im Buch vertretenen Beiträge sind in zwei Abschnitten zusammengefaßt.

  1. Ein erster ist den "Grundlagen" gewidmet,
  2. ein zweiter den "Praxisfeldern".

1. Grundlagen

Den Abschnitt "Grundlagen" eröffnet ein Beitrag von Angelika Eckart: "Systemische Seelsorge - "Gesegnet sei, wer da nichts erwartet"". Eckart ist Professorin für Pastoralpsychologie/-theologie an der Philosophisch-theologischen Hochschule in Vallendar. Sie beschreibt zunächst den Denkweg systemischer Theorien, verbindet das mit Grundaussagen der Theologie und entwickelt daraus einige Leitperspektiven systemischer Seelsorge.

Joachim Eckart ist Honorarprofessor für Pastoraltheologie in Vallendar. Ausgehend von dem konstruktivistischen Grundsatz "Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt" stellt er unter dem Titel "'Ich sehe was, …' Zu den Perturbationen einer systemisch-konstruktivistischen Seelsorge" drei Grundsichtweisen zum Verhältnis von Kirche und Welt dar: die "antimodernistischen", die "modernen" und die "transmodernen" Deutungsmuster und überprüft sie auf ihre je eigenen Problemtendenzen und ihren "positiven Gestaltsinn" hin. Von "Sichtweisen" erzählt auch die Bibelgeschichte vom "blinden Bartimäus", anhand derer Eckart Perspektiven für die Seelsorge entwickelt.

Den umfangreichsten Artikel trägt Andreas Brenneke zu dem Band bei. Brenner ist evangelischer Pfarrer und Systemischer Familientherapeut. Unter der (manch eine/n gewiss irritierenden Überschrift "Ist Gott ein Konstruktivist? Auf dem Weg zu einer konstruktivistischen Theologie und Pastoralpsychologie" entwickelt er ein neues Konzept systemischer Seelsorge auf dem Hintergrund, dass vielen Glaubenden das systemische Denken ebenso suspekt ist wie den systemischen Therapeuten und Beratern der Glauben. Brenneke bringt beide ins Gespräch – wobei er (ähnlich wie Arno Schmidt) kreativ darauf reagiert, dass die Sprache, mit der Wirklichkeit konstruiert wird, nicht unbedingt 1:1 dazu taugt, solche Konstruktionen zu reflektieren: man müsste sonst dieselben Worte für sehr unterschiedliche Ebenen verwenden.

Den ersten Abschnitt beschließt der Beitrag "Seelsorge systemisch gestalten - andere Perspektiven" des Herausgebers Arnd Götzelmann. "Systemische Seelsorge will in einem ganzheitlichen Sinn Gesundheit erhalten, fördern, ermöglichen, wiederherstellen", sagt er und verortet ein solches Gesundheitsverständnis im Schnittpunkt von Heil (Seele), Wohl (Gemeinschaft) und Gesundheit (Leib). Er entfaltet dann die "Besonderheiten der Seelsorge aus systemischer Perspektive, spart dabei dankenswerterweise auch nicht die Frage der Genderperspektive aus und schließt mit fünf Schritten, in denen er die Praxis systemischer Seelsorge beschreibt.

2. Praxisfelder

Der zweite Teil des Bandes beginnt mit dem Beitrag von Wolfgang Krieger zum Thema "Systemisch-konstruktivistische Gesprächsführung - Kommunikationsgrundlagen und Beratungsprinzipien". Krieger ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft, Systemische Sozialpädagogik, Ästhetische Bildung, Pädagogische Psychologie und Jugendhilfe an der FH Ludwigshafen. Er referiert zunächst Grundpositionen systemischen und konstruktivistischen Denkens und Grunderkenntnisse der modernen Neurobiologie, zieht daraus kommunikationstheoretische Konsequenzen und entwickelt daraus eine Reihe von "Prinzipien der Gesprächsführung".

Der zweite Beitrag von Angelika M. Eckart befasst sich unter dem Titel "Wer nicht mehr liebt und nicht mehr irrt, der lasse sich begraben" (Goethe) mit "Systemischen Impulsen für seelsorgerliche Gespräche mit Paaren". Sie nennt sechs Impulse: 1. "Unhintergehbarkeit des Bezogenseins" – sowohl zwischen Mensch und Mensch als auch zwischen Mensch und Gott, 2. "HüterIn unserer Nächsten" – christliche Verantwortungsethik, 3. "Ressourcen- und Lösungsorientierung" -  mit dem Ziel der Befreiung, 4. "Verantwortung für die Beobachtungsperspektive" – die Botschaft von Gottes Beziehungsangebot als heil-same Perspektive, 5. "Die Bedeutung der Gender-Perspektive" – Sensibilisierung für Gender-Fragen und verdeckte Sexismen, und 6. "Seelsorge in Anwaltschaft für bezogene Individuation" – in Aufnahme eines von Helm Stierlin entwickelten Ansatzes.

Der abschließende Beitrag führt in den Arbeitszusammenhang der Klinikseelsorge. Er stammt aus der Feder von Danielle Regnault und Marion Weigelt-Drexler und ist überschrieben mit "Systemik in der Klinikseelsorge. Aufarbeitung eines fall- und praxisbezogenen Workshops". Regnault ist, wie auch Weigelt-Drexler, Krankenhauspfarrerin in Ludwigshafen mit Ausbildung in Systemischer Therapie. Es handelt sich um den bericht über einen Workshop mit einer Gruppe von Theologen und Theologinnen, der die Bedeutung des systemischen Ansatzes für die (Krankenhaus)­Seelsorgearbeit verdeutlichen wollte. Dieser Workshop arbeitete mit mehreren Fallvignetten, die in den Gruppen diskutiert wurden und anhand derer die bereichernde systemische Perspektive erfahrbar wurde.

Diskussion

Wenn christliche Theologie und Systemisch-konstruktivistische Therapie einander begegnen, fremdeln beide. Die Theologie (besonders die römisch-katholische) sieht ihre seit Jahrhunderten bewahrten und bewährten "absoluten" Wahrheiten in Gefahr, und die Systemische Therapie fragt sich, wozu eine Seelenkrücke wie der Glaube noch notwendig ist, wenn die Therapie ihr Ziel erreicht. Brenneke stellt fest: "Das Klima (scil. zwischen Systemikern und theologisch geprägten Seelsorgern) ist ganz unsystemisch weit häufiger von Rechtfertigungszwang als von Wertschätzung und Toleranz geprägt. … Was dem Stier das rote Tuch, ist vielen systemisch arbeitenden Kollegen der Glaube." (S. 62)

Brenneke nennt das "ganz unsystemisch", weil die kritische Anfrage des einen an das andere System nicht mehr als wachstumsfördernder Austausch, sondern als Zumutung erlebt wird. Systeme wachsen aber bekanntlich durch Kontakt und Austausch mit ihrer Umwelt. Deshalb bietet die im Buch dargestellte  Begegnung zwischen systemisch-konstruktivistischem Denken und (biblisch-)theologischen Traditionen und Deutungsmustern für beide Systeme eine Möglichkeit zur Anreicherung der eigenen Problemlösungskompetenz. Diese Begegnung organisiert und erste Früchte geerntet zu haben, ist das Verdienst der Tagung und der in diesem Band repräsentierten Beiträge. Und: Begegnungen, die in einem Spannungsfeld stattfinden, sind naturgemäß spannend!

Und so liest sich auch die Dokumentation dieser Begegnung: eben spannend! Und das nicht nur in den praxisorientierten, sondern gerade auch in den grundlegenden konzeptionellen Beiträgen: Wer Lust hat zu denken, der denke! Vielleicht lassen sich die Theologen leichter verunsichern als die Systemiker – denn wozu die Seelsorger systemisches Denken brauchen, ist deutlicher als wozu die Systemiker Theologie brauchen. Bei den Theologen könnte der Band die Verunsicherung reduzieren. Bei den Systemikern könnte er Interesse wecken an solchen "interkulturellen" Begegnungen, die – wie immer! – gewinnträchtig sind. Und in Dialogsituationen ist sowohl die Seelsorge als auch die systemische Therapie bei ihrer ureigenen Sache.

Ich vermute, dass die Leserschaft dieses Buch sich eher aus der Theologenschaft rekrutieren wird, die sich genötigt sieht, die eigene Seelsorge im Kontext heutiger therapeutischer und beraterischer Ansätze zu verorten. Den Theologen muss man daher den Band nicht eigens ans Herz legen. Umso mehr aber den systemischen TherpeutInnen und BeraterInnen. Wer behauptet, mit einem ganzheitlichen Menschenbild zu arbeiten, kommt um die Wahrnehmung der Glaubenssysteme nicht herum. Und wer sich ernsthaft auf Menschenseelen einlässt (und sie nicht nur "reparieren" will), der kann sich m.E. auf Dauer die Illusion nicht leisten, der Glaube sei ein zu überwindendes Relikt voraufklärerischer Deutungssysteme. Der Glaube gehört – in welcher Form auch immer – zum Menschsein. Wenn das eingestanden ist, kann man über emanzipatorische und unterdrückende Glaubenssysteme sprechen – und es sollte mich wundern, wenn da nicht recht bald gemeinsame Ziele sichtbar würden!

Fazit

Zugreifen, lesen – und vor allem: mitdiskutieren!

Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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Es gibt 136 Rezensionen von Peter Schröder.

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ISSN 2190-9245