Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 05.10.2008
Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien.
Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2008.
190 Seiten.
ISBN 978-3-518-26006-7.
10,00 EUR.
CH: 16,50 sFr.
Reihe: Edition Unseld - 6. Originaltitel: Prendre soin.
Thema
Für das Zwanzigste Jahrhundert erkannte der amerikanische Medienwissenschaftler Neil Postman folgende Herausforderung: „Kann eine Kultur humane Wertvorstellungen bewahren und neue hervorbringen, wenn sie zulässt, dass die moderne Technik denkbar größten Einfluss auf ihr Schicksal gewinnt?“ [1]
Diese Frage ist aktuell wie nie zuvor: Im Zeitalter der Telekratie, der Steuerung des öffentlichen Bewusstseins durch audiovisuelle Massenmedien sowie angesichts einer allgemeinen gesellschaftlichen Sinnkrise – unlängst vom Papst identifiziert als „geistige Wüste“ – sind Antworten dringend erforderlich.
Dieser Aufgabe stellt sich Bernard Stiegler in seinem kompakten Buch, das in der Editon Unseld erschienen ist, einer neu aufgelegten Reihe, die sich dem interdisziplinären Dialog von Natur- und Geisteswissenschaften widmet.
Mit dem Begriff „Sorge“ (frz.: soin) meint der Autor die gemeinsame Verantwortung füreinander, die sich in sozialen Gruppen und zwischen Generationen ausprägt und welche zu solchen kollektiven „Aufmerksamkeitsformierungen“ wie Erziehung und Bildung und letztlich der Mündigkeit führt – dem Anliegen der Aufklärung schlechthin, welches der Autor durch Medien wie das Fernsehen bedroht sieht.
Autor
Bernard Stiegler, Jahrgang 1952, ist französischer Philosoph und zurzeit Direktor des „département du développement culturel“ am Pariser Centre Georges Pompidou. Beeinflusst durch die Philosophie der griechischen Antike wie auch des 20. Jahrhunderts gilt sein Interesse unter anderem dem Verhältnis von Technologie, Mensch und Gesellschaft. Etwa zwanzig Buchveröffentlichungen in den vergangenen zehn Jahren weisen ihn als aktiven Publizisten in seinem Fachgebiet aus. Ein pikantes Detail in Stieglers Biografie ist sicherlich seine langjährige Haftstrafe wegen bewaffneten Raubüberfalls.
Inhalt und Aufbau
- Im ersten Kapitel über „Die Zerstörung des jugendlichen psychischen Apparates“ legt Stiegler dar, wie der intergenerationale Prozess der Erziehung durch die Kulturindustrie vereinnahmt und umgelenkt wird.
Ausgehend von der These, Verantwortung erfordere die Formierung der Aufmerksamkeit zwischen Jung und Alt, analysiert der Autor, wie die medialen „Apparate der Psychotechnologien“ das intergenerationale Verhältnis einfach kurzschließen. Mit der Erzeugung solch „struktureller Minderjähriger“ nicht genug: Ein derartiger Kreislauf der Aufmerksamkeitsvereinnahmung durch das Medium Fernsehen zerstöre langfristig seine eigene Grundlage: die Fähigkeit zu konzentrierter Aufmerksamkeit überhaupt. - Mit dem etwas martialisch anmutenden Titel des zweiten Kapitels über die „Schlacht der Intelligenz für die Mündigkeit“ greift Stiegler ein Bonmot des amtierenden französischen Premierministers Francois Fillon („bataille de l’intelligence“) auf. Gleichzeitig signalisiert der Autor auch seinen Willen, sich für diese Schlacht einzusetzen, allerdings mit eigener Konnotation. Zunächst sei davon auszugehen, dass auch Bildungs- und Erziehungsprozesse eine Formierung von Aufmerksamkeit verlangen, also am selben Punkt wie die mediale Kulturindustrie ansetzen. Zweitens hänge die Kantsche Mündigkeit essentiell zusammen mit der Kulturtechnik des Lesen und Schreibens, womit eben diese Kulturtechnik in den Rang einer herausragenden Psychotechnik avanciere und das Buch zum „Pharmakon“, zur geistigen „Medizin“. Nach einem umfangreicheren Diskurs gelangt Stiegler dann zu dem Ergebnis, die Menschheitsgeschichte als „Schlacht der Intelligenz“ sei ein psychischer, sozialer und technischer Individuationsprozess, der sich auch neuer Psychotechniken bediene. Letztlich ist für Stiegler Intelligenz weder rein individuell noch ökonomischen Zwecken unterstellt, sondern eine Form psychosozialer Verantwortung, zu der es im Bildungsprozess zurückzufinden gelte.
- Im folgenden Abschnitt über “Mysterien und Triebe von der Aufklärung zur Psychomacht“ kommt der Autor noch einmal darauf zurück, dass die Menschheit verschiedenste Techniken der Aufmerksamkeitsvereinnahmung generiert habe, die nicht immer im Dienste der Aufklärung standen. Dazu skizziert Stiegler die unzulängliche Logik von gegenwärtiger Psychotechnologie und Konsumhaltung.
Nichts weniger als eine „Neu-Erfindung der Mündigkeit“ entwirft der Autor und zwar als Steigerung der kollektiven Intelligenz und nicht zu ihrer ökonomischen Indienstnahme. Letztlich gehe es auch um eine Neu-Erfindung der Demokratie, welche mit einer neuen Verantwortung staatlicher Organe einhergehe, um der massenmedial gesteuerten Aufmerksamkeitsformierung und der Entwicklung zur Telekratie zu wehren. - Auf die pädagogische Dimension seines Entwurfs kommt Stiegler in Kapitel vier: “Synaptogenese der Aufmerksamkeitszerstörung“ zu sprechen. Dem zerstörerischen Wirken der „Psychomacht“ müsse ein gesellschaftlich-historisches Bewusstsein entgegengestellt werden. Nach einem kurzen Blick auf die globalisierte Finanzwirtschaft sucht Stiegler dann seine Hypothese zu begründen, dass sich der kindliche Fernsehkonsum negativ in hirnorganischen Prägungen manifestiere. Der Autor widmet dann ein interessantes Unterkapitel der Geschichte der Erziehung, die nunmehr mit den medialen, marketingorientierten Psychotechnologien um die Zöglinge konkurriere. Dennoch gelte es die Psychotechnologien an sich nicht zu verwerfen, sondern sie in den Dienst des „Amateurs“ zu stellen, eines neuen Typus Mensch der Mediengesellschaft, der nicht konsumieren, sondern „wissen und Wissen vermitteln“ möchte.
- Ausgehend von der Feststellung, dass auch in der Erziehung nicht hinter die digitalen Kommunikationsmedien zurückgegangen werden könne, ergeht sich der Autor dann im fünften Kapitel: „Therapeutik und Pharmakologie der Aufmerksamkeit„ in einer differenzierte Darstellung der beiden Aufmerksamkeitstypen „deep“ und „hyper attention“. Eine Unterscheidung, der Stiegler nicht vollständig folgen möchte, insofern sich hyper attention nicht allein durch Dauer, sondern auch durch ihre multimediale Kontextualität von der ersten Aufmerksamkeitsform unterscheide. Ferner gelte es, die digitalen Psychotechniken auf den Text rückzubeziehen, sich aber auch der schädlichen Auswirkungen eines ungeregelten Medienangebotes gesellschaftlich bewusst zu werden und dieses staatlich zu regulieren.
- Im abschließenden sechsten Kapitel über die „Ökonomie und Kognition der Aufmerksamkeit“ geht Stiegler auf die ökonomisch ausgebeutete Ressource Aufmerksamkeit ein, die umso mehr schwinde, desto stärker sie medial vereinnahmt werde. Dabei liege in der technischen Entwicklung sogar die Chance, eine neue Form der Aufmerksamkeit zu generieren, deren Grundlage jedoch immer die Schriftkultur bilde.
Zielgruppe
Zur Zielgruppe gehören nach meiner Einschätzung zunächst Leserinnen und Leser mit einem philosophischen Hintergrund bzw. einem weiteren Interessenschwerpunkt im Bereich der Erziehungs-, Politik- oder Medienwissenschaft, vornehmlich Studierende und Lehrende. Aber gerade auch diejenigen, die sich abseits universitärer Wege um eine intellektuelle Durchdringung des Zeitgeistes bemühen, werden aus diesem Buch wertvolle Impulse ziehen können.
Diskussion: Optimistische Kulturkritik und aufklärerisches Manifest
Mit seinem Buch über die Logik der Sorge hat Stiegler einen Entwurf vorgelegt, der sich mit der Rückgewinnung von Mündigkeit als generationsübergreifender Verantwortung in Politik, Erziehung und Bildung angesichts massenmedialer Aufmerksamkeitsvereinnahmungsmechanismen befasst. Dabei gelingt es dem Autor, aktuelle Entwicklungen und viele interdisziplinäre Facetten, von der Neurobiologie bis hin zur Globalisierung auf teilweise sehr abstraktem Niveau zusammenzufügen. Allein konkrete Lösungsvorschläge darf man nicht erwarten, anregende Denkanstöße dagegen bietet das schmale Büchlein schon.
Einiges erinnert an das, was eingangs zitierter Neil Postman über das „Verschwinden der Kindheit“, das „Technopol“ oder die „Zweite Aufklärung“ geschrieben hat: Das Verwischen des Generationenverhältnisses heutzutage, Wirkung und Rolle der Massenmedien oder die Verwurzelung in der Textkultur des 18. Jahrhunderts, in der auch Stiegler ein aufklärerisches Heilmittel par excellence sieht, allerdings durchaus doppeldeutig.
Als optimistische Kulturkritik werte ich das Werk Stieglers insgesamt, da es nicht nur um die Analyse eines „Unbehagens“ oder eine maschinenstürmerische Ablehnung der Medien überhaupt geht, sondern um das engagierte Plädoyer für ihren intelligenten und verantwortungsvollen Gebrauch auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Folglich möchte die philosophische Analyse durchaus einen Gebrauchswert haben. Streckenweise atmet die Veröffentlichung daher das ansteckende Pathos eines Manifests – für eine Zweite Aufklärung im digitalen Medienzeitalter.
Wenngleich Stiegler zwar von Alltagsbeispielen des Medienkonsums aus startet, so dringt er doch schnell in eine anspruchsvolle philosophische Analyse ein: Dies erfordert von den Leserinnen und Lesern angesichts der Kompaktheit des Textes, dass sie sich auf engem Raum mit unterschiedlichen philosophischen Konzepten über Platon, Kant bis Husserl und deren Terminologien auseinandersetzen müssen. Doch der Aufwand lohnt im Zweifelsfall: Gerade wegen ihrer hohen Reflektiertheit sind die Stieglerschen Analysen so prägnant und gehen in ihrem Niveau weit über gewohnte Rezeptologien hinaus. Und glücklicherweise bietet unsere Informationsgesellschaft viele Gelegenheiten, unser Wissen an der einen oder anderen Stelle zu vertiefen – welch ein Beweis für den Einsatz der Psychotechnologien im Dienst des mündigen „Amateurs“!
Fazit
Mit „Die Logik der Sorge“ hat Stiegler eine ebenso kompakte wie anspruchsvolle philosophische Analyse zu einem aktuellen Thema vorgelegt. Die Veröffentlichung ist allen zu empfehlen, die sich tiefergehend mit dem Problem „Medienkonsum“ in unserer Kultur auseinandersetzen möchten.
[1] Postman: das Verschwinden der Kindheit. Seite 163
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
Website
Mailformular
Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.
Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 05.10.2008 zu:
Bernard Stiegler: Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien. Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2008.
ISBN 978-3-518-26006-7.
Reihe: Edition Unseld - 6. Originaltitel: Prendre soin.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6467.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.