Helmut König, Emanuel Richter et al. (Hrsg.): Gerechtigkeit in Europa
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.07.2008
Helmut König, Emanuel Richter, Sabine Schielke (Hrsg.): Gerechtigkeit in Europa. Transnationale Dimensionen einer normativen Grundfrage.
transcript
(Bielefeld) 2008.
135 Seiten.
ISBN 978-3-89942-768-4.
15,80 EUR.
CH: 43,00 sFr.
Reihe: Europäische Horizonte - Band 4.
Das europäische Ringen um die Verwirklichung von Gerechtigkeit
Nimmt man die zahlreichen Analysen, Perspektivpapiere, Prognosen und Bestandsaufnahme, die seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft am 25. März 1957 publiziert und diskutiert werden, zieht sich wie ein imaginärer roter Faden die Frage, wie es denn die Europäer mit dem Anspruch auf eine allgemeingültige, gleichberechtigte und nachhaltige soziale und politische Gerechtigkeit hielten. Die Begründungen von Krisen und Erfolgen beim europäischen Einigungsprozess fokussieren mit der Forderung nach dem, was in der europäischen Geschichte und dem kulturellen und sozialen Denken der europäischen Völker sich seit der Antike überliefert hat: Die aus der aristotelischen Nikomachischen Ethik formulierte dikaiosynê� als Tugend formulierte Haltung und Rechtsgesinnung schließt dabei gerechtes Handeln und Gleichheit der Person ein.
Entstehungshintergrund
Die Aachener Initiative "Europäische Horizonte" hat, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen, dem Fachbereich Wirtschaftsförderung / Europäische Angelegenheiten der Staat Aachen, dem Kulturwissenschaftlichen Institut Essen, der Regionalen Vertretung der Europäischen Kommission in Bonn und der Regio Aachen e.V. vom 22. bis 24. Mai 2006 eine internationale und interdisziplinäre Tagung durchgeführt, bei der es um den intellektuellen Diskurs darüber ging, wie die Europäische Union in ihren Perspektiven und Wirklichkeiten mit der Mehrdimensionalität des Anspruchs auf Gerechtigkeit zurecht kommt. Die theoretische Auseinandersetzung darüber kommt nicht ohne den Blick auf die "gegenwartsbezogene, politische Relevanz der Gerechtigkeitsdiskussion" in der EU aus. Bei der Tagung wurden deshalb nicht nur Expertenmeinungen darüber eingeholt, sondern die vielfältigen, akzeptierten und kontroversen Auffassungen über die verschiedenen Formen des Gerechtigkeitsdiskurses in Arbeitsgruppen debattiert. In der ersten Sektion ging es dabei um das europäische Sozialmodell; in der zweiten um die Frage nach der Werteveränderung; und in der dritten stand die Frage "Kulturen der Gerechtigkeit: Anerkennung oder Umverteilung" im Mittelpunkt.
Inhalt
- Der am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München lehrende Julian Nida-Rümelin entwirft in seinem Beitrag "Gerechtigkeit und europäische Politik eine Vision für eine sich in Europa entwickelnden globalen Zivilgesellschaft. Für ihn ist die Fähigkeit zu einer gerechten Kooperation der Schlüssel für einen gemeinsamen europäischen Gerechtigkeitssinn. Dabei sieht er drei Gefahren, die eine solche anzustrebende Einstellung be- oder gar verhindern können: Zum einen ist es die in der Europäischen Integration sicht- und spürbare Entwicklung, die Gerechtigkeitsanforderungen und –ansprüche zu reduzieren auf "eine bloße Markt- und Subventionsordnung"; zum zweiten warnt er vor der "Entgrenzung der politischen Verantwortung" durch die institutionelle und bürokratische Machtausübung durch die Europäische Kommission; schließlich ist es die "Renationalisierung", die, wie in den Auseinandersetzungen und eine Europäische Verfassung deutlich wird, eine gerechte und soziale Einigung verhindert. In fünf normativen Elementen entwirft er ein Europäisches Sozialstaatsmodell.
- Die Politik- und Sozialwissenschaftlerin Nancy Fraser von der New Yorker New School for Social Research greift mit ihrem Beitrag über "abnormale Gerechtigkeit" in den konfrontativen Diskurs darüber ein, wer eigentlich in der nationalen und internationalen Diskussion Gerechtigkeitsforderungen stellen darf. Die Autorin ist überzeugt, dass die bisherigen Theorien und überlieferten Auffassungen von "normaler Gerechtigkeit" in der heutigen (globalisierten) Zeit nicht mehr diskursfähig sind; und sie formuliert "theoretische und praktische Forderungen für den Kampf gegen Ungerechtigkeit in abnormalen Zeiten". Damit entwickelt sie politische und gesellschaftliche Handlungsformen für eine "neue Normalität".
- Der Kieler Philosoph Wolfgang Kersting skizziert "Facetten der Gerechtigkeit", indem er sich mit der multikulturalistischen Kritik an dem Grundprinzip rechtsstaatlicher Gerechtigkeit auseinandersetzt. Am konkreten Beispiel einer "Gesellschaft ohne Arbeit" rüttelt er an dem Gerüst der hergebrachten arbeitsethischen Diskussion. Für ihn ist das "Bürgergeld", der Idee des Grundeinkommens also, als Konsequenz des Endes der Arbeitsgesellschaft eine durchaus denkbare Alternative.
- Der Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Tübingen, Otfried Höffe, formuliert in seinem Text "Gerechtigkeit im Zeitalter der Globalisierung", indem er für eine universale Rechts-, Gerechtigkeits- und Friedensordnung plädiert. Mit Blick also auf die Eine Welt wird dabei deutlich, dass die Zukunft der Menschheit entscheidend davon abhängen wird, ob es gelingt, dass sich die Menschen überall auf der Erde als "Weltbürger" verstehen, als "Bürger einer subsidiären und föderalen Weltordnung".
- Die Politikwissenschaftlerin von der European University Institute in Florenz, Christine Chwaszcza, schließlich diskutiert "Sozialstaatlichkeit und demokratische Legitimation in Europa". An mehreren Beispielen des europäischen Einigungsprozesses zeigt sie Legitimationsdefizite auf und verdeutlicht anhand der Koexistensionalitätsthese die Probleme, die sich aus einer zentralistisch organisierten Sozialpolitik ergeben.
Fazit
Die interdisziplinären Schlaglichter, die von den Expertinnen und Experten auf die Frage nach "Gerechtigkeit in Europa" gerichtet werden, sind selbstverständlich keine umfassenden Analysen und schon gar keine Gebrauchsanweisungen für solche transnationale Dimensionen dieser normativen Grundfrage. Wie bei allen Visionen, wie die Welt, wie sie ist, human und gerecht besser entwickelt werden kann, sind die Beiträge des Tagungsbandes Zukunftsentwürfe, die jedoch eines tätigen Handelns Hier und Heute bedürfen – und zwar nicht nur von Professionellen und von Funktion und Amts wegen mit der Frage nach einer "europäischen Gerechtigkeit" Befassten, sondern für jeden Europäer. Die Diskussionsbeiträge eignen sich deshalb vornehmlich für die Seminararbeit in Berufs- und Hochschulen, aber auch für die politische Arbeit von dir und mir!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1683 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 26.07.2008 zu:
Helmut König, Emanuel Richter, Sabine Schielke (Hrsg.): Gerechtigkeit in Europa. Transnationale Dimensionen einer normativen Grundfrage. transcript
(Bielefeld) 2008.
ISBN 978-3-89942-768-4.
Reihe: Europäische Horizonte - Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6487.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.