Christian Reutlinger: Raum und soziale Entwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. Werner Schönig, 04.05.2009

Christian Reutlinger: Raum und soziale Entwicklung. Kritische Reflexion und neue Perspektiven für den sozialpädagogischen Diskurs.
Juventa Verlag
(Weinheim) 2008.
263 Seiten.
ISBN 978-3-7799-1319-1.
28,00 EUR.
CH: 48,20 sFr.
Reihe: Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung.
Thema
Der reichhaltigen Literatur zur Sozialraumorientierung fehlt es an Werken mit grundlegendem Anspruch. So ist der oft propagierte ‚spatial turn‘ der Sozialen Arbeit allzu häufig von Aufgeregtheit, Kurzatmigkeit und eklektizistischer Theorierezeption geprägt und damit letztlich noch nicht theoretisch gesettelt. Was der Theorie Sozialer Arbeit im Großen an Stringenz fehlt, fehlt ihr auch im Kleinen mit Blick auf die Sozialraumorientierung.
Dankenswerterweise hat sich Christian Reutlinger dem Wagnis gestellt, eine eigenständige Arbeit mit grundlegendem Anspruch zur Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit vorzulegen. Unwillkürlich fühlt sich der Rezensent schon durch den Titel ‚Raum und soziale Entwicklung‘ an andere Grundlagenwerke wie etwa ‚Sein und Zeit‘ erinnert – auch wenn diese Anlehnung an den Titanen nicht die Absicht Reutlingers gewesen sein mag, so ist der ambitionierte Titel wohl nicht zufällig derart unter Verwendung grundlegender Begriffe formuliert. Hieraus spricht ein Anspruch des Verfassers, der begrüßenswert ist und neugierig macht, der allerdings auch eingelöst sein will.
Zielgruppe und Aufbau
Bedeutsamer ist daher, dass der Verfasser seinem eigenen Anspruch über weite Strecken gerecht wird und tatsächlich ein Grundlagenwerk vorlegt. Zielgruppe ist dabei naturgemäß primär die wissenschaftliche Community, die einige Praxishinweise und Illustrationen goutieren wird (das gab es auch bei Heidegger), vor allem jedoch eine Diskussion von Raumkonzepten und Entwicklungstheorien erwartet. Beide Hauptaspekte werden in vier Kapiteln abgearbeitet: Dem modernisierungstheoretischem Raum-Entwicklungs-Verhältnis, dem abhängigkeitsbedingten Raum-Entwicklungs-Verhältnis, der vielfältigen Wiederentdeckung des Lokalen und schließlich den Perspektiven für die Soziale Arbeit.
Inhalt
Angesichts der Vielfalt der vom Verfasser rezipierten und diskutierten Aspekte fällt eine kurze inhaltliche Skizze nicht leicht. Im Kern argumentiert Reutlinger modernisierungstheoretisch (hier sei ein letztes Mal und nun auf den Zeitaspekt bei Heidegger verwiesen), d.h. in der Wechselwirkung von Raum und Entwicklung und damit in deutlicher Nähe zu Konzepten subjektiver Raumdefinition und zur relationalen Raumkonzeption. Deren kritizistische Hauptvertreter (Lefebvre, Werlen u.a.) werden ausführlich rezipiert und für die eigene Argumentation fruchtbar gemacht. Da jedoch auch viele andere Modernisierungstheoretiker (Beck, Giddens u.a.) erwähnt und häufiger wörtlich zitiert werden, leidet gelegentlich die Übersicht und Stringenz der Argumentation. Der Text wird dann allzu gesättigt durch Literaturhinweise und vermittelt Belesenheit, jedoch weniger Eleganz und Klarheit. Hier zeigt sich, dass dem Verfasser dann doch der letzte Mut zur Eigenschöpfung gefehlt hat und der große eigene Theorieentwurf noch zu leisten ist.
Im weiteren Gang der Untersuchung nimmt der gesellschaftskritisch-raumsoziologische Aspekt einen zunehmenden Raum ein, wenn der Verfasser die Stichworte Polarisierung und Abhängigkeit aufgreift und damit endgültig den Blick weg von den benachteiligten und Gruppen und Personen und hin zu den benachteiligenden Stadtteilen wendet. Hier nun wird deutlich strukturell argumentiert, sei es mit Blick auf die internationale Entwicklungsproblematik (z.B. Dependenz und strukturelle Heterogenität) oder mit Blick auf die städtischen Sozialräume (z.B. Theorien mittlerer Reichweite). Wie schon im vorherigen Kapitel ist es bemerkenswert, fruchtbar und auch modernisierungstheoretisch konsequent, dass der Verfasser immer wieder internationale Aspekte thematisiert und damit letztlich Sozialraumorientierung auch als Entwicklungspolitik begreift. In der Tat finden sich zwischen einem städtischen Armutsgebiet und einem unterentwickeltem Staat vielfältige Parallelen, die methodisch (z.B. durch Nutzung ethnologischer Methoden etwa durch Munsch) durchaus aufgegriffen werden, jedoch bislang in der Sozialen Arbeit noch nicht vollständig durchdacht wurden.
Leider gerät dem Verfasser das dritte Kapitel – die Wiederentdeckung des Lokalen – arg essayistisch und fragmentiert, was sich schon in der Gliederung andeutet und dann im Text durch allzu aktuelles und schlaglichtartiges Aufgreifen und in einem Duktus der Intellektualität manifestiert. George W. Bush, Manuel Castells und Ulrich van Suntum haben wenig miteinander gemein, werden aber vom Verfasser trotzdem auf engstem Raum zusammengedrängt und verwoben. Auch das ist zwar modernisierungstheoretisch konsequent und bildet auch die Fragmentierung des Raumes ab, hinterlässt aber eher ein Bauchgefühlt und eine Bilderwelt als einen relevanten Theoriebeitrag.
Der abschließende Ausblick zu Perspektiven der Sozialen Arbeit kann diese Dinge wieder zusammenfügen und dabei auf einige Ausführungen der vorigen Kapitel verweisen. So versteckt sich z.B. eine Skizze der Gemeinwesenarbeit unter der Überschrift „Raum als Ort des Widerstands, der Gegenkultur“. Zum Schluss des Buches thematisiert der Verfasser Raum und soziale Entwicklung als Ermöglichung. Hier geht es Reutlinger vor allem darum, die Klientensicht etablierter Institutionen sozialer Unterstützung zu überwinden und das sinnhafte Handeln der Bewohner in den Mittelpunkt zu stellen. Etwas altertümlich formuliert, wird hier die aktivierende und gelegentlich anarchistische Bottom-up-Perspektive der Gemeinwesenarbeit gegenüber der verwaltungsdominierte und gelegentlich technokratischen Top-down-Perspektive der Sozialraumorientierung akzentuiert. Es spricht für die hohe Qualität der Untersuchung, dass sich somit an ihrem Ende wieder traditionelle Diskurse eröffnen.
Fazit
Es liegt im Auge des lesenden Betrachters, ob er das im Werbetext versprochene „alternative Verhältnis von Raum und Entwicklung als tragfähige Rahmentheorie eines paradigmatischen Angebots einer ermöglichenden Perspektive von Sozialer Arbeit“ überhaupt versteht und mehr noch für sich nutzbar machen kann. Der Anspruch des Werkes ist offensichtlich hoch und wird zu einem beachtlich großen Anteil auch eingelöst. Kritisch mag man einwenden, dass die Grundzüge der Argumentation so neu nicht sind, dass in der Fülle des Materials die eigene Position und der eigene theoretische Beitrag des Verfassers etwas verdeckt wird und dass schließlich die Untersuchung in ihrer zweiten Hälfte an Stringenz nachlässt. Insgesamt jedoch ist das vorliegende Werk für die Theorieentwicklung der Sozialraumorientierung in der Sozialen Arbeit von großem Wert und für den Leser eine lohnende Lektüre.
Rezension von
Prof. Dr. Werner Schönig
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln
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