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Erhard Fischer (Hrsg.): Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung

Rezensiert von Björn Brünink, 22.06.2010

Cover Erhard Fischer (Hrsg.): Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung ISBN 978-3-89896-328-2

Erhard Fischer (Hrsg.): Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung. Sichtweisen - Theorien - aktuelle Herausforderungen. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2008. 2., überarbeitete Auflage. 422 Seiten. ISBN 978-3-89896-328-2. 24,50 EUR. CH: 43,00 sFr.
Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen - Band 8.

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Herausgeber

Erhard Fischer ist seit 2001 Professor für Geistigbehindertenpädagogik am Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg. Nach seinem Studium für das Lehramt an Sonderschulen in Koblenz und Mainz mit dem Erwerb der Lehrbefähigung in den Fachrichtungen Geistigbehinderten-, Verhaltensbehinderten- und Sprachbehindertenpädagogik und dem Studium der Erziehungswissenschaften mit dem Abschluss Dipl.-Pädagoge promovierte und habilitierte er an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.

Thema

Es handelt sich hier um einen Sammelband mit dem Ziel, das Phänomen „Geistige Behinderung“ aus unterschiedlichen professionellen Blickwinkeln und Fachrichtungen zu beleuchten und die Auswirkungen dieser einzelnen Zugänge auf die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung aufzuzeigen.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch konzentriert sich inhaltlich in seiner zweiten überarbeiteten Auflage auf die Grundlagen und -fragen sowie Sichtweisen und Zugänge zum Phänomen „geistige Behinderung“. Diese Auflage verzichtet dabei auf die Beiträge „Berufsqualifizierung“ von K. Jakobs und „Qualitätsdiskussion“ von C. Rittmeyer der vorherigen Auflage, die durch den von Holger Preuß verfassten Beitrag „Geistige Behinderung aus Sicht der Psychoanalyse“ ersetzt werden. Alle anderen Beiträge wurden überarbeitet und aktualisiert.

Aufbau

Inhaltlich ist das Werk in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit den Grundlangen und -fragen, während der zweite Teil eine Auswahl von Sichtweisen und Zugängen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen zur Lebenswelt und Lebenswirklichkeit von Menschen mit „geistiger Behinderung“ vorstellt.

1. Grundlagen und Grundfragen

Im ersten Abschnitt kommen u.a. folgende Autoren zu Wort:

Erhard Fischer stellt sich im ersten Kapitel die Frage: „‘Geistige Behinderung‘ – Fakt oder Konstrukt?“ Zur Erklärung und Beschreibung dieser Frage zeigt der Autor in der Folge verschiedene theoretische Ansätze und Sichtweisen auf, die er grob in zwei Richtungen einteilt: Zunächst erläutert er Ansätze, die er den individuumbezogenen, defizitären Modellen zuordnet, um anschließend kompetenzorientierte Betrachtungsweisen vorzustellen.

Heinz Mühl zeichnet in seinem Beitrag die Entwicklung und den Standort der Geistigbehindertenpädagogik innerhalb der (Sonder-)Pädagogik nach. Ausgehend von der Entstehung der sonderpädagogischen Fachrichtung „Pädagogik bei geistiger Behinderung“ beschreibt er ihre Bedeutung aus heutiger Sicht und kommt zu dem Schluss, dass diese Disziplin auch dann noch Bestand haben muss, falls es im Zuge der Integrationsbestrebungen in Zukunft keine Sondereinrichtungen mehr geben sollte.

Markus Dederich beschäftigt sich mit den ethischen Fragen der Geistigbehindertenpädagogik. Er bezeichnet Pädagogik als eine grundsätzlich wertegeleitete Disziplin. Erziehung ist ihm zufolge ohne ethisch-normative Orientierung nicht denkbar. Um diese These zu untermauern, skizziert der Autor zunächst Pädagogik als angewandte Ethik, um im weiteren Verlauf den Unterschied zwischen ausschließender und integrierender Ethik aufzuzeigen. Abschließend stellt er die Eckpfeiler einer inklusiven Ethik vor.

Theo Klauß setzt sich umfangreich mit dem Thema: „Selbstbestimmung in der Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung“ auseinander. Nachdem anfangs die Hintergründe der Selbstbestimmungsidee aufgezeigt werden, widmet sich der Autor nachfolgend mit grundsätzlichen Fragen der Selbstbestimmung des Menschen. Dabei stehen Fragestellungen im Vordergrund wie „Gehört das Streben nach Selbstbestimmung zum grundsätzlichen Wesen des Menschen?“ und „Muss bei manchen Menschen die Selbstbestimmung eingeschränkt werden oder sollte Erziehung nicht auch grundsätzlich Fremdbestimmung beinhalten?“.

2. Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung

Der zweite Teil von „Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung: Sichtweisen - Theorien - aktuelle Herausforderungen“, der sich einer Auswahl von Sichtweisen und Zugängen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen zur Lebenswelt und Lebenswirklichkeit von Menschen mit „geistiger Behinderung“ widmet, beinhaltet die folgenden Beiträge.

Andreas Warnke und Claudia Mehler-Wex beleuchten in einem naturwissenschaftlichen Ansatz das Phänomen „Geistige Behinderung“ aus medizinischer Sicht.

Konrad Bundschuh beschreibt einen Zugang aus psychologischer Sicht, während

Holger Preuß in einer kurzen Bestandsaufnahme die Bedeutung der Psychoanalyse beim Phänomen „Geistige Behinderung“ aufzeigt.

Reinhard Markowetz nähert sich dem Konstrukt „Geistige Behinderung“ aus soziologischer Perspektive und weist hier zunächst darauf hin, dass die Soziologie weniger darauf ausgelegt sei, zwischen einzelnen Behinderungsarten zu differenzieren, sondern vielmehr versuche, ihre Gemeinsamkeiten auf sozialer Ebene als grundsätzliches Problem im menschlichen Zusammenleben analytisch auszuwerten. Markowetz beschreibt – in Anlehnung an Cloerkes, im Jahre 2000 verfasste Ausführungen – (geistige) Behinderung als eine unerwünschte Abweichung von gesellschaftlichen Normen, sozialen Erwartungen und kulturellen Normvorstellungen. Nach Markowetz unterliegen diese Abweichungen einer negativen Bewertung und erzeugen negative soziale Reaktionen. Die damit einhergehenden Einschränkungen bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben durch desintegrative und aussondernde Maßnahmen und Reaktionen seien die Bausteine des eigentlichen „Behindert“ seins. Demnach könne Behinderung aus behindertensoziologischer Perspektive als eine soziale Kategorie aufgefasst werden, als eines von vielen Merkmalen einer Person – wobei hier nicht der eigentliche „Defekt“ eine Rolle spiele, sondern vielmehr die sich daraus ergebenden Folgen und sozialen Konsequenzen für die betroffene Person. Reinhard Markowetz beschäftigt sich im weiteren Verlauf mit den Begriffen Integration und Inklusion und bestimmt sie aus behindertensoziologischer Perspektive. Auf Grundlage des „Symbolischen Interaktionismus“ und der Stigma-Theorie wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit integrative Prozesse stigmatisierend oder entstigmatisierend wirken. Nach Meinung des Autors sind „geistig behinderte“ Menschen besonders häufig negativen Zuschreibungs-, Stigmatisierungs- und damit auch identitätsschwächenden Prozessen ausgesetzt. Befürworter der traditionellen Geistigbehindertenpädagogik sehen aus diesem Grund die Notwendigkeit, betroffene Menschen in Schonräumen zu schützen. Die Idee dahinter ist, betroffene Menschen in Sondereinrichtungen von Stigmatisierungsprozessen abzuschirmen, um ihnen zunächst einmal die Möglichkeit zu geben, eine ausreichend starke Identität zu entfalten, mit der sie sich der Außenwelt stellen können. Damit würde den Menschen mit „geistiger Behinderung“ jedoch die Fähigkeit abgesprochen, eigenständig stabile Identitäten entwickeln zu können. Im Gegensatz dazu sieht Reinhard Markowetz Identität als Gegenstand und Ziel einer integrativen Pädagogik. Identitätsarbeit ließe sich keineswegs auf einen rein kognitiv gesteuerten Prozess reduzieren, welcher ausschließlich von Nichtbehinderten geleistet werden könne. Stigmatisierte Menschen könnten sich den negativen Zuschreibungsprozessen bewusst und aktiv entziehen und so ihr positives Selbst schützen. Stigmatisierung sei somit keineswegs ein Automatismus, dem sich jeder ausgesetzt fühlen muss, sondern würde von einer mehr oder weniger gut gelungenen individuellen Identitätsarbeit beeinflusst. Eine integrative Beschulung führt nach Meinung des Autors zu einer Vielzahl neuer identitätsrelevanter Erfahrungen und unterstützt damit die individuelle Identitätsarbeit. Als erfolgsversprechende Methode, negative identitätsrelevante Erfahrungen mit Stigmaqualität abzufangen, benennt Reinhard Markowetz das Prinzip der „Dialogischen Validierung“. Als behindertensoziologisches Entstigmatisierungskonzept wird mit der „Dialogischen Validierung“ ein Prozess beschrieben, in welchem das eigene Bild des Anderen, voreingenommene Einordnungen, Zuordnungen, Zuschreibungen und Bewertungen des Gegenübers im Dialog hinterfragt und auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Dies setzt einen Kontakt, ein integratives Setting zu den betroffenen Personen voraus. Reinhard Markowetz kommt zu dem Schluss, dass eine kompetente und reflektierte integrative und inklusive Pädagogik für Menschen mit „geistiger Behinderung“ eine identitätsstiftende Pädagogik sein kann, wenn sie sich entstigmatisierender Methoden wie der der „Dialogischen Validierung“ bedient.

Maximilian Buchka begegnet „Geistiger Behinderung“ aus einem Blickwinkel, der aus der anthroposophischen Heilpädagogik kommt. Hier wird ein Menschenbild beschrieben, welches grundsätzlich keine Unterschiede zwischen Normalität und Anormalität kennt. Menschen könnten, so Buchka, zwar in ihrer körperlichen Ausdrucksweise funktionell geschädigt sein, die „Geistesgestalt“ bliebe davon allerdings ausgenommen. Sie benötige jedoch heilpädagogische Hilfe, um im Zusammenspiel mit dem Körper ihre Ressourcen entwickeln zu können.

Barbara Fornefeld stellt in ihrem Beitrag den Begriff „Geistige Behinderung“ grundsätzlich in Frage. Sie plädiert auf Grundlage einer phänomenologischen Anthropologie für eine Neubewertung von „geistiger Behinderung“ und bezeichnet es als eine zentrale und große Aufgabe der Heil- und Geistigbehindertenpädagogik, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Michael Wagner beginnt seinen Artikel aus konstruktivistischer Perspektive mit einigen erkenntnistheoretischen Fragen, die für ein pädagogisches Handeln und Begreifen von Bedeutung sind. Am Beispiel der Kategorie „Lebenswelt“ macht er deutlich, dass auch Menschen mit „geistiger Behinderung“ Konstrukteure einer eigenen Lebenswelt sind und stellt abschließend die Frage, ob „geistige Behinderung“ als Fakt oder Konstrukt zu bewerten ist.

Walter Straßmeier beleuchtet den besonderen Förder- bzw. Erziehungsbedarf von Menschen mit „geistiger Behinderung“ aus systemischer Sicht.

Erhard Fischer versucht abschließend Gemeinsamkeiten und verbindende Faktoren der unterschiedlichen Fachrichtungen, Sichtweisen und Theorieansätze aufzuzeigen. Er sieht die aktuelle Fassung der ICF und das dahinterstehende integrativ-biopsychosoziale Konzept als einen perspektivenreichen Zugang für ein gemeinsames, mehrdimensionales und praxistaugliches Modell, welches dazu geeignet ist, zwischen den einzelnen Fachrichtungen zu vermitteln und entscheidend zur Klärung von Definitions- und Klassifikationsproblemen beizutragen.

Diskussion

Der vorliegende Sammelband „Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung: Sichtweisen - Theorien - aktuelle Herausforderungen“ nähert sich der aktuellen Fragestellung nach dem Wesen „Geistiger Behinderung“ anhand einer Vielzahl sehr unterschiedlicher, wissenschaftlicher Perspektiven und bedient sich hierbei der Expertise namenhafter Fachleute aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Der Paradigmenwechsel im Verständnis und in der Bewertung sowie der Wahrnehmung von Behinderung, welcher sich in den letzten Jahren auch zunehmend in der sozialpolitischen Öffentlichkeit manifestiert, basiert auf einer grundsätzlichen Infragestellung tradierter Umgangsformen, Verhaltensweisen und Einstellungen. Soziale und gesellschaftliche Kontextfaktoren von Behinderung rücken zunehmend in den Vordergrund. „‘Geistige Behinderung‘, ein Faktum oder ein gesellschaftliches Konstrukt?“ Diese konträr diskutierte Frage kann das vorliegende Werk keineswegs erschöpfend beantworten, doch ermöglicht es einen grundlegenden Einblick in das Verständnis von Behinderung innerhalb einzelner Disziplinen, welcher zu einer reflektierten Auseinandersetzung vonnöten ist.

Fazit

Der Sammelband „Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung: Sichtweisen - Theorien - aktuelle Herausforderungen“ ist ein guter Beitrag, um einen allgemeinen Überblick über die Sichtweisen und Ansätze unterschiedlicher Fachrichtungen auf das Phänomen „Geistige Behinderung“ zu geben. Dies schließt eine übermäßige Tiefe der jeweiligen Materie aus, kann aber auch nicht das Ziel eines Sammelbandes sein. Was weiterhin nicht erwartet werden darf, sind konkrete Handlungsanweisungen, Ratschläge oder Tipps im Umgang mit „Geistiger Behinderung“. Wer sich allerdings für einen grundlegenden interdisziplinären Blick auf die Thematik interessiert, dem kann die Lektüre durchaus empfohlen werden.

Rezension von
Björn Brünink
Mitarbeiter der Arbeitsstelle für Barrierefreies Studium an der Hochschule Düsseldorf
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Es gibt 3 Rezensionen von Björn Brünink.

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ISSN 2190-9245