MOBILE (Hrsg.): Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz
Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 29.04.2003
MOBILE (Hrsg.): Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz. Band A - Ein Schulungskonzept für AssistenznehmerInnen. Band B - Ein Schulungskonzept für Persönliche AssistentInnen.
AG SPAK Bücher
(Neu Ulm) 2002.
666 Seiten.
ISBN 978-3-930830-26-8.
20,00 EUR.
Die obigen Angaben beziehen sich auf Band A. Band B hat die ISBN 3-930830-29-9 und kostet EUR 17,50.
Thema
Spätestens seit Inkrafttreten des SGB IX "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" im Jahr 2001 wird die Parole eines "Paradigmenwechsel" in der Behindertenhilfe auch auf der offiziellen Bühne der Sozialgesetzgebung ausgegeben. Begriffe wie "Selbstbestimmung" und "Teilhabe", "Persönliches Budget", "Assistenz", die ihre Wurzeln in der über 30jährigen Geschichte der politischen Emanzipationsbewegung (körper)behinderter Menschen haben, scheinen in eine Phase des Durchbruchs einzutreten. Gerade dann ist aber eine Vergewisserung über das ursprünglich Gemeinte erfahrungsgemäß besonders wichtig. Unter "Persönlicher Assistenz" ist eine Form der persönlichen Hilfe zu verstehen, die idealiter alle Formen alltäglicher Hilfe- und Unterstützungsleistungen umfasst, die behinderten Menschen einen selbstbestimmten Alltagsablauf und eine gleichberechtigte Teilhabe an wichtigen gesellschaftlichen Lebensvollzügen ermöglichen. Die Regie liegt dabei beim behinderten Menschen selbst. Im Idealfall heißt das, dass sie oder er das Personal selbst auswählen (Personalkompetenz), die AssistentInnen selbst anleiten und einlernen (Anleitungskompetenz), den Einsatz organisieren (Organisationskompetenz) und selbst über die finanziellen Mittel zur Entlohnung der AssistentInnen disponieren (Finanzkompetenz). "Persönliche Assistenz" ist so als ein Gegenprogramm zur fremdbestimmten Verwaltung von Hilfen in den totalen Institutionen der stationären Einrichtungen, aber auch zu einer Pädagogisierung bzw. Professionalisierung des Alltags behinderter Menschen generell zu verstehen. Ein großer Vorzug des Handbuches "Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz" liegt darin, diesen Sachverhalt konsequent im Auge zu behalten.
Entstehungskontext und Zielgruppe
Als Herausgeber der 2001 erschienenen Bände "Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz" zeichnet der Verein "MOBILE -Selbstbestimmtes Leben e.V." in Dortmund. Die Autorinnen Birgit Drolshagen, Alexandra Franz, Bärbel Klicker, Eike Marrenbach, Birgit Rothenberg, Esther Schmidt, Gusti Steiner, Anja Tillmann haben z.T. selbst Erfahrung mit Persönlicher Assistenz, sie sind durchweg langjährig in der Behindertenbewegung engagiert, arbeiten im Selbsthilfebereich bzw. in verschiedenen Hochschulpositionen. Das Handbuch - aus mehreren vom Land NRW geförderten Projekten hervorgegangen - ist als Schulungskonzept für AssistenznehmerInnen (Band A) bzw. Persönliche AssistentInnen (Band B) konzipiert. Zielgruppe sind damit zwar primär Personen und Institutionen, die solche Schulungen durchführen. Angesprochen werden aber auch (potentielle) Betroffene direkt (behinderte und ältere Menschen ebenso wie potentielle AssistentInnen) sowie generell Menschen, die "sich mit der Idee der Persönlichen Assistenz auseinandersetzen möchten".
Aufbau/Inhalt
Zwar verstehen die Autorinnen die beiden Bände als Einheit, dennoch sollen sie auch getrennt lesbar sein. Dieser Anspruch führt allerdings dazu, dass beide Bände nahezu den identischen Aufbau haben, sich inhaltlich wiederholen und zum Teil nahezu textgleich sind.
In beiden Bänden beschäftigt sich ein erster einführender Teil mit grundlegenden Definitionen und Begrifflichkeiten (Selbstbestimmung-Fremdbestimmung, Assistenz, Formen der Assistenz, und macht die Herkunft des Konzeptes aus der Geschichte der Behindertenbewegung deutlich. In der Folge wird ein Überblick über notwendiges sozial- und arbeitsrechtliches Hintergrundwissen gegeben (Ausgestaltung von Arbeitsverträgen, Rechte und Pflichte als ArbeitnehmerIn bzw. ArbeitgeberIn; Anmeldung eines Betriebs, leistungsrechtliche Aspekte).
Den inhaltlichen Kernteil der beiden Handbücher bilden die Kapitel 4-8 (bzw. im zweiten Band 5-7). Hier geht es um grundlegende Kompetenzen, um die Rollen- und Handlungsanforderungen an AssistenznehmerInnen bzw. Persönliche AssistentInnen. Die Beziehungslogik dieses Dienstleistungsverhältnisses wird im Rekurs auf exemplarische Themen, Probleme und Konfliktlagen entfaltet. Zentrale und immer wiederkehrende Themen sind zum Beispiel: der assymmetrische Charakter der Assistenzbeziehung ("Chef/in" ist eindeutig die Assistenznehmerin/der Assistenznehmer); Fragen des Intimitätsschutzes; Schweigepflicht und Vertraulichkeit; gemeinsames Auftreten und Verhältnis zu Dritten; die Problematik der Überlagerung der Assistenzbeziehung durch Freundschafts- oder Liebesbeziehung; besondere Situationen wie Krankheit, Umzug, Urlaub; spezifische Problemstellungen von behinderten Frauen (Gleichgeschlechtlichkeit der Assistentin, Hilfebedarf behinderter Mütter, sexuelle Gewalt). Die Anschaulichkeit und das Problembewusstsein dieser Kapitel profitiert dabei erheblich von durchweg eingearbeiteten Auszügen aus Interviews mit AssistenznehmerInnen. Leider fehlen sie in dem zweiten Band ganz.
Ein sogenannter "Methodischer Teil" bildet den zweiten Teil beider Handbücher. Er thematisiert sehr knapp einige methodische Prinzipien für die Schulung bzw. Beratung. Eine Materialiensammlung enthält unter anderem sogenannte "Bausteine" für Schulungen ("Arbeitsvertrag aufsetzen", Ohne Moos nix los - das leistungsrechtliche Umfeld, "Und wer kommt heute? Dienstplangestaltung") sowie nützliche Vorlagen für Bewerbungs- bzw. Ausschreibungstexte, Zeugnisse usw..
Diskussion/Einschätzung
Die große Stärke des Handbuches liegt vor allem in der Entfaltung eines sehr klaren idealtypischen Modells Persönlicher Assistenz im Rahmen eines Arbeitgebermodells. Damit wird ein Maßstab zur Verfügung gestellt, mit dem sich Nachteile und Vorteile von Kompromissen in der Praxis abschätzen lassen: z.B. wenn Betroffene statt selbst als Arbeitgeber zu fungieren, eine sog. Assistenzgenossenschaft in Anspruch nehmen. Auch die politische Botschaft des Handbuchs ist deutlich: sie besteht in der dezidierten Warnung die Begriffe der "Politischen Behindertenbewegung zu inflationieren oder zu pädagogisieren". Die Autorinnen lassen keinen Zweifel daran, dass sie einer Vereinnahmung des Assistenzbegriffes durch sonderpädagogische, sozialpädagogische oder therapeutische Diskurse sehr kritisch gegenüber stehen: "Insbesondere pädagogisch geprägte Hilfen, aber auch therapeutische oder sozialarbeiterische Hilfen lassen sich nicht im Rahmen Persönlicher Assistenz als Arbeitgeberinnen/Arbeitnehmerinnenverhältnis organisieren. Alle im Modell der Persönlichen Assistenz geforderten Kompetenzen werden in diesem Hilfeverhältnis nicht von der Kundin wahrgenommen." (S. 26)
Damit sind die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten Persönlicher Assistenz sehr scharf umrissen. Davon profitieren insbesondere die Teile des Handbuches, die sich, unterstützt durch Interviewzitate, mit der besonderen Handungslogik der Assistenzbeziehung befassen. Es handelt sich um eine eindeutig assymmetrische Beziehung: stellvertretendes Handeln des Persönlichen Assistenten ist - wenn überhaupt - nur nach Anordnung des behinderten Menschen zugelassen, die Assistenztätigkeit beinhaltet idealtypisch keinerlei beraterische Qualität. Zugleich handelt es sich aber um eine sehr personalisierte und höchstpersönliche Dienstleistungsbeziehung, die teilweise sehr private, ja intime Aspekte (z.B. bei der Körperpflege) beinhaltet. Sehr plastisch und mit viel Sensibilität für Ambivalenzen wird an verschiedenen Beispielen dargestellt, wie AssistenznehmerInnen und AssistenInnen sich deshalb in einer stetigen Balance von Vertrautheit und Vertraulichkeit auf der einen Seite und klaren Grenzziehungen auf der anderen Seite bewegen müssen. Das erfordert auf beiden Seiten Sensibilität, Taktgefühl und Diskretion, aber auch eine sehr klare Definition der jeweiligen Rollen. Die Leserin, der Leser bekommen insgesamt ein Gefühl für die spezifische Eigenart einer Assistenzbeziehung und die besondere Logik dieser Form beruflichen Handelns. Man begreift am Ende, warum es dabei weder um eine neue Form professionellen (pädagogischen, beraterischen, sozialarbeiterischen) noch um eine Form pflegerischen Handelns geht. Wollte man nach Vorbildern für die Tätigkeit des Persönlichen Assistenten suchen, so wären es weit eher Sozialfiguren wie Kammerdiener, Kammerfrau, Zofe, Butler.
Dieser Stärke des insgesamt immerhin fast 1000 Seiten umfassenden Handbuchs stehen aber nicht zu übersehende Schwächen gegenüber. Die Aufteilung des Handbuches in zwei Bände kann man nur als misslungen betrachten. Band B ist im Grunde nur ein Abklatsch des Bandes A, der an einigen Stellen versucht, die Dinge aus der Perspektive der Persönlichen Assistentin zu formulieren. Dabei vermisst man nicht nur die Interviewzitate, denen der A-Band seine Anschaulichkeit verdankt, es wird auch ständig auf den ersten Band verwiesen. Das verwundert insofern nicht, als dort im Grunde genommen (gerade in den Interviewzitaten!) die Logik einer Beziehung dargestellt wird, die nur um den Preis der Gewaltsamkeit in getrennte Perspektiven auseinander gerissen werden kann. Von geringem praktischem Wert sind auch die Teile, die sich mit der arbeits- und sozialrechtlichen Einbettung befassen und zwar schon deswegen, weil sie im Grunde schon wieder veraltet waren, als das Buch im Jahr 2001 erschien. Solche Informationen gehören nicht in ein 1000-Seiten-Handbuch, sondern in eine jederzeit aktualisierbare Broschüre. Hilfreich nicht nur für die Planung von Schulungen und für MultiplikatorInnen, sondern auch für Betroffene dürften dagegen die im methodischen Teil zur Verfügung gestellten Bausteine und Materialien sein.
Fazit
Wem es um ein klares und politisch reflektiertes Verständnis Persönlicher Assistenz geht, dem kann insbesondere der Band A des Handbuches ohne Einschränkung empfohlen werden. Typische Konflikte und Probleme im Rahmen der Assistenzbeziehung sowie deren Lösungsformen werden anschaulich und wirklichkeitsnah verdeutlicht und bewusst gemacht. Als Ratgeber für die arbeitsvertraglichen und sozialrechtlichen Aspekte ist das Handbuch dagegen wenig geeignet. Für eine evt. Neuauflage würde man sich wünschen, dass die beiden Bände zusammen gezogen und Funktion sowie Zielgruppe des Werks überdacht werden. Ggf. könnte man an einen separaten Materialien-Band denken.
Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Es gibt 14 Rezensionen von Jörg Michael Kastl.
Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 29.04.2003 zu:
MOBILE (Hrsg.): Selbstbestimmt Leben mit Persönlicher Assistenz. Band A - Ein Schulungskonzept für AssistenznehmerInnen. Band B - Ein Schulungskonzept für Persönliche AssistentInnen. AG SPAK Bücher
(Neu Ulm) 2002.
ISBN 978-3-930830-26-8.
Die obigen Angaben beziehen sich auf Band A. Band B hat die ISBN 3-930830-29-9 und kostet EUR 17,50.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/655.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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