Stefan Hansen: Lernen durch freiwilliges Engagement
Rezensiert von Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel, 28.10.2008

Stefan Hansen: Lernen durch freiwilliges Engagement. Eine empirische Studie zu Lernprozessen in Vereinen.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2008.
152 Seiten.
ISBN 978-3-531-15963-8.
29,90 EUR.
Reihe: VS Research.
Thema
Die Themen "Lernen" und "freiwilliges Engagement" stehen - jedes für sich - in der gesellschaftlichen Debatte oben auf der Agenda. Die Teilhabe an lebenslangen Lernprozessen, über Schule und Beruf hinaus und die Ausdehnung des freiwilligen Engagements durch die Bürgerinnen und Bürger sind z. B. vor dem Hintergrund des demografischen Wandels immer weiter in den Fokus gerückt.
In den Forschungen zum bürgerschaftlichen Engagement wird in den letzten Jahren zunehmend die Mikroebene des Individuums in den Blick genommen, um herauszufinden, aus welchen Gründen sich Bürgerinnen und Bürger freiwillig engagieren und wo sich Blockaden für weiteres Engagement finden. Holzschnittartig kann man den Stand der Forschung so zusammenfassen: Freiwilliges Engagement findet nicht mehr nur "für andere" in Großorganisationen statt, sondern Engagierte wollen u. a. auch einen Nutzen für sich selbst aus ihrem Engagement ziehen und wählen dazu auch alternative organisationale Handlungsrahmen für ihr Engagement, in denen diese Nutzenorientierung eher zugelassen wird (z. B. Bürgerinitativen oder kleinere Vereine).
Entstehungshintergrund und Autor
Stefan Hansen richtet seine Forschung auf einen weiteren - häufig unintendierten - Nutzen für die freiwillig Engagierten. Er untersucht, in welcher Art und Weise die freiwillig Engagierten in Vereinen durch ihre Tätigkeiten lernen. Als Mitarbeiter eines Forschungsprojektes mit dem Titel "Bürgerkompetenz und Sozialkompetenz" hat der Autor die für dieses Projekt erhobenen Primärdaten (36 qualitative Interviews) einer Sekundäranalyse zugeführt und die Ergebnisse in eine Dissertation "gegossen". Diese Dissertation wurde an der Universität Paderborn (Sportwissenschaft) eingereicht wurde und die Veröffentlichung dieser Arbeit wird hiermit vorgelegt. Stefan Hansen arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Department Sport & Gesundheit an der Universität Paderborn. Die Primärauswertung des Datensatzes, die unter dem Titel "Bürgerkompetenz und Sozialkapital. Eine empirische Untersuchung zur sozialen und politischen Integration durch Vereine" im gleichen Verlag veröffentlicht wird und deren Mitautor Stefan Hansen ist, kann im Handel zur Zeit (August 2008) noch nicht erworben werden, so dass das vorliegende Buch einen "Vorgeschmack" auf eine weitere Auswertung zu einem interessanten Thema der Vereinsforschung geben kann.
Aufbau und Inhalt
Einführend wird ein kurzer Überblick über die Kapitel der Arbeit gegeben.
Im zweiten Kapitel wird die Organisationsform "Verein" eingeführt, die sich insbesondere durch die Strukturbesonderheit der Abhängigkeit vom freiwilligen Engagement ihrer Mitglieder von anderen Organisationsformen unterscheidet und hier den Handlungsrahmen für Lernprozesse der Vereinsmitglieder darstellt.
Im dritten Kapitel wird der Stand der Diskussion zum Thema "Lernen in Vereinen" vorgestellt und gleichzeitig werden Forschungsfragen generiert: Auf der Makroebene werden die gesellschaftlichen Funktionen der Vereine (Partizipationsfunktion, Sozialisationsfunktion, Integrationsfunktion) benannt, die implizit eine Lernannahme und eine Transferannahme enthalten, hierzu fehlen jedoch empirische Erkenntnisse, wie die Fähigkeiten und Kompetenzen, die den einzelnen Funktionen zugeschrieben werden, erworben werden können und inwiefern der Handlungsrahmen eines Vereines Einfluss auf diese Prozesse hat. Auf der Mesoebene wird die Professionalisierungsfunktion diskutiert; Engagierte in den Vereinen könnten den Anforderungen häufig nicht mehr allein durch Laientätigkeit nachkommen. Inwieweit sich die freiwillig Engagierten Spezialwissen durch zusätzliche Qualifikationen aneignen stellt deshalb eine weitere Forschungsfrage dar. Auf der Mikroebene wird derzeit das freiwillige Engagement als individueller Bildungsfaktor diskutiert. Hierrzu liegen erste, allerdings nur deskriptive Untersuchungen vor, die durch diese Forschungsarbeit ergänzt werden sollen. Insgesamt stellt der Autor folgende Forschungsfragen:
- Welche Kompetenzen und Fähigkeiten können die freiwillig engagierten Mitglieder von Vereinen im Rahmen ihrer Tätigkeit erlernen?
- Durch welche Lernformen können Individuen Kompetenzen und Wissensbestände im Rahmen ihres freiwilligen Engagements in Vereinen erlernen?
- Wie können Fähigkeiten und Kompetenzen von der Innenwelt des Vereins in die Außenwelt des Individuums übertragen werden?
- Inwieweit hat die Organisationsform des Vereins als struktureller Handlungskontext einen besonderen Einfluss auf Lern- und Kompetenzprozesse von freiwillig Engagierten?
Das Ziel der Arbeit besteht darin eine empirisch begründete Typologie zum Lernen durch frewilliges Engagement zu bilden. Im vierten Kapitel der Arbeit werden deshalb zunächst drei Formen des Lernens als Grundlage für die Auswertung der Untersuchung theoretisch erarbeitet. Es wird auf den Lernbegriff der Psychologie Bezug genommen und in assoziative und kognitive Lerntheorien unterschieden. In einem weiteren Argumentationsschritt wird das Lernen auf einem möglichen Kontinuum zwischen formellen und informellen Lernen angesiedelt. Auf diesem Kontinuum kann Lernen die Form des "formelles Lernen", des "selbstgesteuerten Lernens" und des "inzidentelles Lernen" annehmen. Formelles Lernen zeichnet sich durch Zertifizierbarkeit und pädagogische Vermittlung aus, selbstgesteuertes Lernen wird durch einen zielgerichteten Lernprozess geleitet, das inzidentelles Lernen erfolgt ohne bewusste Hinwendung auf den Lernprozess, also eher beiläufig.
Die Sekundäranalyse des qualitativen Datensatzes wird im fünften Kapitel erläutert und aus dem Primärdatensatz abgeleitet. In die Fallgruppenauswahl werden verschiedene Vereinsformen einbezogen, die je nach ihrem Organisationsziel in die Kategorien
- fremdbezogen (z. B. Naturschutz),
- mitgliederbezogen-außenorienitert (z. B. Musik) oder
- mitgliederbezogen-binnenorientiert (z. B. Ballsport) kategorisiert werden.
Die Fallauswahl der Interviewpartner/innen für die problemzentrierten Interviews wurde nach Engagementgrad der Vereinsmitglieder gestaffelt (z. B. formelle Vorstandsämter; informell, weil ohne Wahl engagiert oder aktive Teilnahme ohne weitergehendes Engagement).
Im sechsten Kapitel werden zur Typologiebildung die Merkmale "Lerninhalt", "Lernform" und "Transfer des Gelernten in die Außenwelt" herangezogen und ausführlich beschrieben. Aus den qualitativen Interviews konnten die vier Lerninhalte "Fachwissen", "Gesellschaftswissen", "personenbezogene Eigenschaften und soziale Kompetenzen" sowie "Organisationsfähigkeit" herausgefiltert werden. Die Vermittlung der Lerninhalte kann dabei durch die drei bereits vorgestellten Lernformen (formell, selbstvermittelt, inzidentell) erfolgen. Als Ergebnis zeigt sich, dass sich das inzidentelle Lernen - und zwar unabhängig von der Zielsetzung des Vereins und dem Engagementgrad des Mitglies – als dominierende Lernform der untersuchten Fälle abzeichnet. Formelles Lernen findet vornehmlich außerhalb der Vereine in Form von Weiterbildungsmaßnahmen statt und wird von Mitgliedern von Sportvereinen wahrgenommen. In allen untersuchten Vereinsarten findet selbstgesteuertes Lernen statt, mit Hilfe dieser Lernform werden von den aktiven Vereinsmitgliedern ausschließlich fachliche Kompetenzen erworben. Was den Wissenstransfer nach außen betrifft ermittelt der Autor: "Der Transfer von erlernten Fähigkeiten in die Außenwelt des Individuums hängt nach den vorhandenen Daten nicht vom Engagementgrad oder der satzungsmäßigen Zielstellung des Vereins ab. Ein Transfer scheint dort möglich zu sein, wo die Befragten einen Zusammenhang zwischen dem im Verein erworbenen Wissen und Situationen außerhalb des Vereins ausmachen können" (S. 100).
Aufgrund der Zuordnungen der Interviewinhalte kann der Autor sieben verschiedene Typologien des Lernens durch freiwilliges Engagement im Verein generieren. Die einzelnen Typen werden anhand von Fallporträts dargestellt:
Typen des inzidentellen Lernens
- Typus "Lernen durch Tätigkeit im Rahmen der Mitgliedschaft im Verein"
- Typus "Lernen durch Interaktion mit anderen Vereinsmitgliedern"
Typen des formellen und selbstgesteuerten Lernens in Vereinen
- Typus Anforderung durch formale Position
- Typus Förderung des Lernens durch Interesse und berufliche Nutzbarkeit
Typen bei denen das Lernen durch freiwilliges Engagement be- oder verhindert wird
- Typus Routine
- Typus Demotivation durch den Verein
- Typus Mehrfachengagement
Diskussion
Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich in erster Linie um eine Qualifikationsarbeit, in der die Befähigung zum selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten nachgewiesen werden musste, dies ist mustergültig gelungen. Insgesamt ist die Arbeit jedoch eng auf die Analyse der vorliegenden Daten ausgerichtet; wer breite Information zu den Themen "freiwilliges Engagement" oder "Lernen" sucht, wird in dem schmalen Band (152 Seiten) nur im eng gesteckten Dissertationsrahmen fündig. Der Schwerpunkt der Veröffentlichung richtet sich deshalb weniger an Praktiker der Vereinsarbeit, sondern die Arbeit kann als eine sehr gute Grundlegung für weitere wissenschaftliche Fragestellungen in der Vereinsforschung verwendet werden, insbesondere deshalb, weil die Typenbildung Anknüpfungspunkte für weitergehende Fragen zu Lernprozessen bietet. Weiterführende Fragestellungen, die Stefan Hansen in seinem Ausblick aufzeigt, könnten z. B. im Bereich des "Corporate Volunteering" liegen: Welche Fähigkeiten erwerben Mitarbeiter von Unternehmen in der Vereinsarbeit und wie können diese in die Unternehmensorganisation eingebracht werden? Oder aber auch: Inwiefern können bildungsferne Bevölkerungsgruppen vom Lernen in Vereinen partizipieren?
Fazit
Ziel der Arbeit ist die explorative Untersuchung von Lernprozessen im Rahmen des freiwilligen Engagements in kleinen Vereinen (80 – 140 Mitglieder). Zu diesem Zweck wurden 36 qualitative Interviews mit unterschiedlich aktiven Vereinmitgliedern aus lokal operierenden Vereinen mit verschiedenen Zielsetzungen, geführt und ausgewertet. Anhand der empirischen Untersuchung wird gezeigt, dass in kleineren Vereinen Lerninhalte wie Fachwissen, Organisationsfähigkeit, Gesellschaftswissen sowie soziale Kompetenzen sehr gut erworben werden können. Die vermittelten Lerninhalte unterscheiden sich jedoch nach der Aktivität des einzelnen freiwillig Engagierten. Insbesondere inzidentelles Lernen, also das eher beiläufige Erarbeiten neuer Wissensbestände, dominiert das Lernen im Verein. Formelle und selbstgesteuerte Lernprozesse werden ausschließlich von engagierten Mitgliedern der Vereine erworben und dienen vor allem dem Erwerb von fachlichen Kompetenzen für den Verein. Aufgrund der Typenbildung, die jeweils aus den Merkmalen von Lernformen und Lerninhalte generiert wird, bietet die vorliegende Arbeit eine sehr gute Grundlage für weiterführende Arbeiten in der Vereinsforschung.
Rezension von
Prof. Dr. Andrea Helmer-Denzel
Studiengang „Senioren/Sozial-gesundheitliche Dienste-Bürgerschaftliches Engagement“ an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg - Heidenheim
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