Aldo Legnaro, Almut Birenheide: Regieren mittels Unsicherheit
Rezensiert von Arnold Schmieder, 26.10.2008

Aldo Legnaro, Almut Birenheide: Regieren mittels Unsicherheit. Regime von Arbeit in der späten Moderne. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2008. 245 Seiten. ISBN 978-3-86764-105-0. 24,00 EUR. CH: 43,00 sFr.
Thema
Die Zeit der Disziplinargesellschaften datierte Foucault in das 18. und 19. Jahrhundert. Einschließungsmilieus folgten, nach Familie, Schule und Kaserne war die Fabrik der Ort, an dem dieses Milieu am deutlichsten sichtbar wurde und mit all seinen sozialen und psychosozialen Folgen – sozialhistorisch sattsam bekannt – zum Tragen kam. Disziplinierungen jedoch, so Deleuze, seien in eine Krise geraten, nur noch die Agonie einschließender Institutionen und ihrer Milieus würde verwaltet, "Kontrollgesellschaften" seien dabei, "die Disziplinargesellschaften abzulösen." Der Blick sei zu schärfen für "die ultra-schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten – noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Disziplinierungen ersetzen." Auf diese Gesellschaftsanalyse von Deleuze (und Virilio) beziehen sich Legnaro und Birenheide. Zentrale Erscheinungsformen solcher Übergänge zwischen Disziplinierung und Kontrolle im Gewand flexibler Freiheiten sind in ihrem Buch behandelt, belegt mit einer Vielzahl von Interviewtranskripten, eine feinnervige "Analyse der sozioökonomischen und kulturell-symbolischen Ordnung der Gegenwart". Der Fokus liegt dabei auf der Logik einer Kontrolle durch Freiheitszumutungen angesichts sozioökonomischer gesellschaftlicher Entwicklungen. Die Bemerkung der Autorin und des Autors, diese Analyse werde "hier selbstredend nur in bruchstückhaften Skizzen dargestellt" (S.12), mutet eher wie ein Understatement denn als realistische Selbsteinschätzung an, zumal wenn man die vorhergehenden Bände zu Orten von Konsum und Unterhaltung sowie zu Börse und Aktien einbezieht. Eine Trilogie also, die den soziologischen Begriff der Kontrollgesellschaft substanziiert, eine seriöse Erklärung gesellschaftlichen Zustands und Wandels gerade angesichts einer Velleität, mit der sich schillernd aspektische und modische Gesellschaftsbegriffe von der Prägekraft des Ökonomischen entfernen und sich so den hegemonialen Erzählungen andienen, welche Legnaro und Birenheide unter den Maskeraden – neuerdings auch Rechtfertigungsnarrative geheißen – von Freiheit und Notwendigkeit und flexiblen Freiheiten bloßlegen.
Inhalt
Es geht um "Narrationstypen" (S. 11), Erzählungen, die gesellschaftlichen Wandel eben nicht nur narrativ, sondern in ihren Folgen real strukturieren, dabei insbesondere um den Typus, der "die Individuen zu altbekannten und dennoch neuartigen Formen der Selbstregierung" (S. 8) anhält, was modifizierte bis neue Denkfiguren, Interaktionsformen und Mentalitäten erzeugt, einen adäquaten Sozialcharakter formt. Wo noch zur Selbst- oder Eigendisziplinierung angehalten wird, ein schon älteres Geschäft, wird in solche Botschaften bereits implementiert, "dass alle Versuche einer markteingepassten Selbstoptimierung bei Strafe des Absturzes nie aufzuhören haben." (S. 82) Eine Antizipation von beruflicher und sozialer Deklassierung bis Prekarisierung macht nicht nur gefügig, sondern leitet darüber hinaus gleichsam in einer Identifikation mit dem Angreifen an, Unsicherheiten aus unwägbarer bis bedrohlich erscheinender Zukunft eigeninitiativ in prospektive Chancen umzumünzen. Diese Freiheit kann sich der oder die Einzelne nicht nur nehmen, man muss sie sich nehmen – das Wort Sartres, dass wir zur Freiheit verdammt sind, bekommt hier einen zynischen Beigeschmack. Solche Freiheit bezieht sich auch auf die individuelle Arbeitszeit, die nach wie vor (und nicht nur von Selbständigen) an tradierter Normalarbeitszeit gemessen wird, die als Abgrenzung dient; überall ist man frei, mehr und länger zu arbeiten, sich weiterzubilden, die eigene Flexibilität permanent zu erhöhen, sich zu inszenieren, in ständiger Performance sich zugleich immer neu zu positionieren. Andauernde individuelle Bestandsaufnahme des eigenen Leistungsvermögens, durchmengt mit Aspirationsreizen aus vermuteten Chancen (und narrativen Versprechungen) einer imponderablen Zukunft, darin wird die Steuerungsqualität heutiger Anforderungsstrukturen konkret, was sich nicht nur, aber zentral auf die Modulation von Arbeit bezieht. Diesem Thema, neben kritischer Analyse der Arbeitsmarktgesetzgebung und der neuen Problemlagen kleiner Selbständiger das Kernstück des Buches, widmet sich das Kapitel III. 3., in dem die Mechanismen des innerbetrieblichen Regierens in ihrer subjektiven Übersetzung und Bearbeitung ausgeleuchtet werden. Gezeigt wird, wie Wandel, wie ökonomische und soziale Veränderungen als unvermeidbar und unabwendbar angesehen werden; darin steckt kein Fatalismus, sondern eher eine gelassene, leidenschaftslose Naturalisierung, fast eine Betäubung infolge der "Atemlosigkeit" aus Beschleunigung und Verdichtung neuartiger Arbeitswirklichkeit, "die zu bewältigen reflexiver Distanz kaum Raum lässt". (S. 176) Selbstunternehmerische Verhaltensweisen, vom Markt erzwungen, lassen ständiges Agieren an der eigenen Leistungsgrenze zur Normalität gerinnen. Das spiegelt sich innerbetrieblich auch darin, dass "paternalistisch angehauchte Versorgung, Fürsorglichkeit und Belohnung von Loyalität", vormals unter Betriebstreue gehandelt, ersetzt wird "durch die Förderung eines effizienten Selbstmanagements." (S. 183) Zu solchem Selbstmanagement gehört auch, sich an flexible Verhältnisse zu adjustieren und dabei eigene Leistung und Wendigkeit gegenüber Anderen zu pointieren. Wenn dabei ein Wunsch nach Beschäftigungssicherheit durch ein Bewusstsein individuell verantworteter Beschäftigungsfähigkeit substituiert wird, so kommt darin eine Ambivalenz zum Ausdruck, die Legnaro und Birenheide durchweg bei "Geschichten vom Wandel" ausmachen konnten, wie sie von den Interviewten erzählt wurden: Sie nehmen den Wandel "als unvermeidlich hin und suchen ihn der eigenen Weltsicht und dem eigenen Arbeitsverhalten zu integrieren, sehnen sich im Grunde jedoch nach Konstanz. Dem gelten große Anstrengungen: "'geistige Flexibilität' meint vor diesem Hintergrund die Schmiegsamkeit der Einfügung, um die erwünschte Stabilität zu sichern." Und da die Ursachen des eigenen Geschicks unbeeinflussbar erscheinen, bedeutet Flexibilität "dann die versuchsweise Rationalisierung des Nicht-Kontrollierbaren zu einer beeinflussbaren Größe." (S. 189) Das wird durch eine Rhetorik der Chance aus Zukunft genährt, die mit Erfolg als Heil lockt, und zwar für ein Individuum, das sich als eine solche Persönlichkeit zu gestalten vermag, in der über Freiheit und Autonomie "eine flexible und dynamische Grundierung des Selbst" erreicht ist. (S. 215) Erwerbsarbeit ist nicht länger Leid und Zwang bis notwendiges Übel, sondern Selbstverwirklichung in der Dauerperspektive einer Verbindung von Zukunft und Chance.
Fazit
Steuerung des Sozialen wie des Individuellen über flexible Freiheiten, kontrollgesellschaftlich angeleitete Verinnerlichung dessen, was vormalige Disziplinierung zu besorgen hatte – das ist der Rahmen, innerhalb dessen in der Studie unter mikrosozialem Blickwinkel eine höchst plausible Antwort auf die Frage gegeben wird, wie sich Regieren mittels Unsicherheit alltagswirklich gestaltet und wie soziale Wirklichkeit entsprechende Sozialcharaktere erzeugt. Was vorgestellt wird, lässt sich als strategische Bemühung und zur Seite der Intention historisch länger zurück verfolgen, doch ist es beileibe kein alter Wein in neuen Schläuchen. Der Blick auf Vergangenes (im Vorwort in das Tagebuch eines Händlers aus dem Jahr 1758) kann "eine verblüffend aktuelle Sichtweise auf virulente Probleme des Heute" eröffnen. (S. 9) Etwa jene Ersetzung des gesellschaftlichen Zwanges durch Selbstzwang, "die Regelung des gesamten Trieb- und Affektlebens durch eine beständige Selbstkontrolle", die "ganze Umorganisierung der menschlichen Beziehungen" mit ihrer Bedeutung für "Veränderung des menschlichen Habitus", die Norbert Elias im Prozess der Zivilisation ausgemacht hat, kommt in Erinnerung, und die Studie von Legnaro und Birenheide liest sich wie eine moderne, aktualisierende Fortsetzung dieser Argumentationsfigur; allerdings in einer zugespitzten Wendung, nämlich einer Freiheit zum Selbstzwang, einer Selbsteinpassung über autonome Selbstkonzeptionierung.
Oder aber jene Diskussion aus den frühen siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts scheint wieder auf, in der es um das Problem der Integration durch Partizipation ging. Wohl auch mag man sich an Knotenpunkte industriesoziologischer Probleme erinnern – angesichts ökonomischer und technologischer Entwicklungen jetzt schon Wissenschaftsgeschichte –, etwa an das Spannungsverhältnis zwischen Ist- und Soll-Organisation eines Betriebes, wobei es darum ging, um es in einer auch schon abgehalfterten kritischen Sprache zu formulieren, Kenntnisse und Fähigkeiten der Arbeiter in den Plan des Kapitals aufzusaugen.
Eine solche verlängerbare Liste von Beispielen kann jedoch nur zum Ausdruck bringen, dass und wie sich das Problem gesellschaftlicher und eben auch betrieblicher Integration bei voranschreitender realer gesellschaftlicher und parallel betrieblicher Desintegration fortschreibt. Diese Analyse und zugleich Beschreibung haben Legnaro und Birenheide geleistet.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 26.10.2008 zu:
Aldo Legnaro, Almut Birenheide: Regieren mittels Unsicherheit. Regime von Arbeit in der späten Moderne. UVK Verlagsgesellschaft mbH
(Konstanz) 2008.
ISBN 978-3-86764-105-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6607.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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