Ulrich Deinet (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 06.07.2009

Ulrich Deinet (Hrsg.): Methodenbuch Sozialraum. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 324 Seiten. ISBN 978-3-531-15999-7. 29,90 EUR.
Thematischer Kontext
Lebensweltorientierte Herangehensweisen, ein „sozialräumlicher Blick“ und damit auch Verfahren der Sozialraumanalyse sind in den zurückliegenden Jahren zu einem integralen Bestandteil vieler Ansätze der Sozialen Arbeit geworden. In zahlreichen Einrichtungen und Projekten werden sozialräumliche Analyse- und Beteiligungsmethoden praktisch eingesetzt und durchgeführt. Diese qualitativen Methoden wurden im Rahmen einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung besonders in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit entwickelt und kommen nun zunehmend in anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit zum Einsatz. Der vorliegende Band von Ulrich Deinet trägt dieser Entwicklung Rechnung: nicht verschwiegen wird die Herkunft der Verfahren, nicht ausgeschlossen, dass sie auch in anderen Bereich tragfähig sind und sein werden.
Herausgeber
Dr. Ulrich Deinet ist Professor für Didaktik und methodisches Handeln, Verwaltung und Organisation an der Fachhochschule Düsseldorf. Zuvor war er als Fachberater Jugendarbeit beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe tätig, und in der Vergangenheit ist er durch eine Fülle von Veröffentlichungen in Erscheinung getreten, die sich allesamt einer stärkeren Lebensweltorientierung und sozialräumlichen Verankerung sozialer Arbeit verpflichtet sehen (vgl. z. B. die Rezension), so etwa in der Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Deinet, U.: Sozialräumliche Konzeptentwicklung; in: Deinet, U., und Sturzenhecker, B. [Hg.], Konzepte entwickeln, Weinheim und München 1996, S. 9 – 17) oder im Kontext der Kooperation von Jugendhilfe und Schule (vgl. die Rezension).
Inhalt
Die vorliegende Sammlung bietet theoretische Grundlagen und stellt aktuelle Methoden für verschiedene Felder der Sozialen Arbeit vor: von der Kinder- und Jugendarbeit über Kindertageseinrichtungen, regionale Arbeitsgemeinschaften der Jugendhilfe, die Öffnung von Schule bis hin zur Seniorenarbeit. Dazu kommen spezifische Methoden für Großgruppen oder die Sozialreportage. Das Verhältnis virtueller und realer (Sozial-)Räume wird diskutiert und es werden Methoden beschrieben, die sich virtueller Räume bedienen. Zu den besonderen sozialräumlichen Bedingungen des ländlichen Raumes werden spezifische methodische Verfahren und Projekte vorgestellt.
Den Band kennzeichnet eine unausgesprochene Dreiteilung:
-
Ein erster Block ist dezediert mit „Theoretischen
Grundlagen“ übertitelt: Der
Herausgeber selbst setzt sich hier mit sozialräumlichen
Haltungen und Arbeitsperspektiven (S. 45 - 62) auseinander, einer
Arbeit, die wichtig für die Reaktivierung einer Gemeinwesen
gestaltenden Perspektive Sozialer Arbeit ist (wobei der Autor dies am
Beispiel der Kinder- und Jugendarbeit exemplifiziert, jenem
Handlungsfeld, aus dem selbst entstammt). Er wählt Bezüge
zu Konzepten der Praxisforschung, die er in einem Ansatz der
Beteiligung verdichtet. „Mit den Arbeitsprinzipien und Haltung
eines sozialräumlichen Blicks“, schreibt Deinet
(S. 59f), würde sich die Kinder- und Jugendarbeit „auch
weitergehende Einflussmöglichkeiten eröffnen“:
Sozial- und Lebensweltanalysen im Rahmen einer sozialräumlichen
Konzeptentwicklung, so Deinets
Credo, machten sie „lokal stark, zum einen nach innen, d. h. im
Rahmen der Weiterentwicklung der Konzepte, aber auch nach außen,
d. h. in die Sozialräume und kommunalpolitischen Felder hinein“.
Damit wird ein Verständnis deutlich, das die Beiträge des
Bandes insgesamt bemerkenswert kennzeichnet: Sozialräumlich
konturierte und entwickelte Praxis (wieder-) gewinnt gestalterische
Spielräume im Gemeinwesen.
In diesem Sinne liefern auch die beiden übrigen Beiträge Material für die Argumentation: Christian Reutlinger zu Raumdeutungen (S. 17 – 32) und Christian Spatschek zur Theorie- und Methodendiskussion (S. 33 – 43). - Zu einem zweiten Block lassen sich drei grundlegende Aufsätze zu übergeordneten methodischen Grundfragen zusammenfassen: Deinet setzet sich mit Analyse- und Beteiligungsmethoden auseinander (S. 65 – 86), während Barbara Valentin Hinweise zur Gestaltung von Interviews mit jungen Menschen liefert (S. 87 - 94). Der knappe Aufsatz von Valentin erweist sich als besonders geeignet, in der Ausbildung befindlichen Nachwuchskräften allererste Hinweise zu geben, wie Interviews im Kontext sozialräumlicher Fragestellungen vorbereitet, durchgeführt und ausgewertet werden können. Deinet argumentiert an dieser Stelle grundsätzlicher und fächert das Tableau verschiedener Analyse- und Beteiligungsverfahren (z. B. von der Stadtteilbegehung, Subjektiven Landkarten bis hin zur Fremdbilderkundung) grundlegend auf. Karl-Heinz Braun und Konstanze Wetzel (vgl. auch die Rezension) schließlich führen in die Sozialreportage als grundlegendem Handwerkszeug sozialräumlich und lebensweltnah inspirierter Analysen ein (S. 213 bis 234).
- In einem dritten Block schließlich lassen sich
Methoden der Sozialraumanalyse, die Handlungsfeldern
folgen, zusammenfassen: Den Bereich der Jugendarbeit thematisieren
dabei aus unterschiedlichen Blickwinkeln Marc
Schulz (Mikroanalyse des Raumes, S. 95 –
107) und Caroline Kohlmey
(Methoden und Konsequenzen – von den Ergebnissen der Methoden
zu neuen Zielen für die Jugendarbeit, S. 109 – 128). Nimmt
man noch den Beitrag von Manfred Grimm
und Ulrich Deinet
(Öffnung von Schule – Methoden sozialräumlich
orientierter qualitativer Lebensweltanalysen und ihre
Anwendungsmöglichkeiten in Unterrichtsprojekten, S. 129 –
153), den Aufsatz von Nina Blankenburg
und Regina Rätz-Heinisch
(Kindertageseinrichtungen – Sozialräumliche Methoden in
der Arbeit mit Kindern, Familien und Nachbarn, S. 163 – 188)
sowie den Beitrag von Herrenknecht
und Tschöke (s.
u.) am Ende des Werkes hinzu, dann wird ersichtlich, dass die
sozialräumliche Arbeit mit jungen Menschen eindeutig im
Mittelpunkt des Bandes steht.
Gleichwohl kommen auch andere Handlungsfelder zu ihrem Recht: die Arbeit mit älteren Menschen (Reinhold Knopp: Sozialraumerkundung mit Älteren, S. 155 - 164), die Arbeit mit Großgruppen (Waldemar Stange und Steffi Holzmann: Großgruppenmethoden, S. 235 - 266) sowie die Arbeit in Städten, im ländlicher Raum und in Regionen (Reinhilde Godulla und Herbert Scherer: Kiezatlas – Virtueller Stadtplan, S. 281 – 285; Jens Claussen, Timm Lehmann und Birgit Weber: Regionale Arbeitsgemeinschaften der Jugendhilfe, S. 189 – 211; und Sabine Behn und Katja Stephan: Regionenspiele, S. 309 - 320). Als hilfreich erweist sich auch der Aufsatz von Franz-Josef Röll, der mit seinen Hinweisen zur (wachsenden) Virtualität der sozialen Raumes (Virtuelle und reale Räume, S. 235 – 279) den Blick weitet.
Lediglich der Aufsatz von Albert Herrenknecht und Thomas Tschöke (Das Dorf als sozialräumlicher Untersuchungsort) wirkt in seiner retrospektiven Ausrichtung auf die 1970er und 1980er Jahre (Konzept der „Politischen Kundschaft“, Verfahren der Spurensicherung und Spurensuche) etwas unpassend. Hinweise zur Dorfanalyse, um die sich die Autoren bemühen, sind an anderer Stelle (vgl. z. B. Joachim Faulde, Birgit Hoyer, Elmar Schäfer [Hrsg.]: Jugendarbeit in ländlichen Regionen. Entwicklungen, Konzepte und Perspektiven, Weinheim 2006, vgl. die Rezension) aktueller in einen aussagekräftigeren Kontext gestellt.
Zielgruppen
Ulrich Deinet sieht drei Zielgruppen für den von ihm editierten Band: in erste Linie die Praxis, also Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik insbesondere im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendarbeit, dann angehende Nachwuchskräfte des Soziales, vor allem Studierende der Studiengänge Soziale Arbeit bzw. Sozialpädagogik an Universitäten und Fachhochschulen, und schließlich die Ausbildungsstelen, mithin Fachwissenschaftler/innen in Lehre und Forschung aus den vorgenannten Bereichen.
Fazit
Mit seiner Veröffentlichung will der Herausgeber ganz offenkundig Brücken schlagen zwischen qualitativer Forschung auf der einen und praxisorientierten Methoden und ihrer Anwendung durch eine sozialräumlich konzipierte Praxis andererseits. Dabei setzt er – im Unterschied zu anderen, eher strukturell und einführend argumentierenden Veröffentlichungen (Frank Früchtel, Wolfgang Budde und Gudrun Cyprian: Sozialer Raum und Soziale Arbeit, zwei Bände: Text- und Fieldbook, Wiesbaden 2007) – Schwerpunkte, indem er zum Beispiel die vorgestellten Methoden Handlungsfelder zuordnet, was wiederum der interessierten (Fach-) Praxis den Zugang erleichtert. Hierbei fallen unvermeidbare Überschneidungen in der Darlegung gleicher oder vergleichbarer Methoden nicht weiter ins Gewicht.
Jedenfalls gelingt dieser Brückenschlag zwischen theoretischen und praktischen Perspektiven in aller Regel sehr gut.
Besonders hervorgehoben werden soll, dass nahezu alle Aufsätze des dritten Blocks durch ihre innere Struktur und Gestaltung überzeugen: In die Ausführung eingelegt sind verschiedene Arten von „Merkposten“, die es dem Leser und der Leserin gestatten werden, das so (Zwischen-) Bilanzierte in die eigene Praxis zu übertragen. Dabei wählen die Autorinnen und Autoren durchaus individuelle Stile und Verfahren, was die Argumentation lebhaft und abwechslungsreich werden lässt. Der Handhabungsgewinn im Verhältnis zu sonst eher „trockener“ Ausführungen dürfte erheblich sein.
Dies in der Summe lässt Deinets Band als sehr geeignet erscheinen, allen drei Zielgruppen – gestaltender Praxis, in der Ausbildung befindlichem Praxis-Nachwuchs und den Ausbildungsstätten – und ihren unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. Dabei dürfte die Fachpraxis am meisten Nutzen aus dieser insgesamt sehr gut gelungenen Sammlung ziehen können.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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