Jeffrey D. Sachs: Wohlstand für viele. Globale Wirtschaftspolitik [...]
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 06.10.2008
Jeffrey D. Sachs: Wohlstand für viele. Globale Wirtschaftspolitik in Zeiten der ökologischen und sozialen Krise.
Siedler Verlag
(München) 2008.
475 Seiten.
ISBN 978-3-88680-860-1.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 43,90 sFr.
Originaltitel: Common wealth. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Stephan Gebauer und Heike Schlatterer.
Schaut euch die Zahlen an!
In unserer sich immer interdependenter und entgrenzender Welt fehlt es nicht an Prognosen, dass die "Grenzen des Wachstums" (1972) erreicht seien, sich die "Menschheit am Wendepunkt" (1974) befinde, die "Menschheit an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte" (1992) angelangt sei und vor der Herausforderung stehe, "umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden" (1995). Als Menetekel scheinen die Aufforderungen nicht zu wirken; wenn überhaupt, doktern die Menschen, beim nationalen Regierungs- und gesellschaftlichen Handeln, wie auch im internationalen Diskurs, an einzelnen Symptomen der Krise des menschlichen Daseins auf der Erde herum, gewissermaßen medikamentös, aber nicht grundlegend. Beim Menschen, als vernunftbegabtem Wesen, versagt die Vernunft, weil sein Denken und Tun scheinbar immer noch "aus einer Weltsicht heraus, die vom Denken unserer Ahnen und Urahnen geprägt ist. Unsere Existenz wird bestimmt von einer bizarren Kombination steinzeitlicher Instinkte, mittelalterlicher Ansichten und gottähnlichen Technologie". Diese Warnung schickt Edward O. Wilson von der Harvard University in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts einem bemerkenswerten Buch voraus. Er weist darauf hin, dass alle Krisen der Weltwirtschaft – vom Klimawandel, der Umweltverschmutzung, Wassermangel, Bodenerosion, Ausbeutung der Rohstoffe, bis hin zur Armut in der Welt, den bedrohlichen Pandemien und dem gefährlichen Ungleichgewicht der Ressourcenverteilung - ihre Ursachen in der Umwelt haben und nur bewältigt werden können, wenn eine ganzheitliche Betrachtung der Probleme und Entwicklungen vorgenommen wird.
Autor und Zielsetzung
Der 1954 in Detroit / Michigan geborene Jeffrey D. Sachs, Entwicklungsökonom und Leiter des Earth Institute der Columbia Universität in New York, meldet sich mit seiner Analyse über den Zustand der Welt nicht zum ersten Mal zu Wort. Als Direktor des UN-Millennium-Projekts zur globalen Armutsbekämpfung hat er mit der globalen Terminsetzung 2015 eine Wegmarke postuliert, die als Ausrufezeichen für die Menschheit gelten kann: "Ob unsere globale Gesellschaft im 21. Jahrhundert gedeihen oder untergehen wird, hängt davon ab, ob es der Menschheit gelingen wird, sich auf eine Reihe gemeinsamer Ziele und auf praktische Maßnahmen zu deren Verwirklichung zu einigen". Die Zielsetzung und der Tenor seiner Studie dabei ist bestimmt von einer durchaus optimistischen Betrachtung: "Die Menschheit kann sich selbst retten".
Es sind besonders vier Gefährdungen der menschlichen Existenz, die als gemeinsame, globale Verantwortung betrachtet werden müssen:
- Der Druck des Menschen auf die Ökosysteme der Erde und das Klima wird, wenn wir ihn nicht erheblich verringern, einen gefährlichen Klimawandel, das Aussterben zahlreicher Arten und die Zerstörung lebenswichtiger ökologischer Funktionen zur Folge haben.
- Die Weltbevölkerung wächst weiterhin bedrohlich schnell, vor allem in Regionen, die am wenigsten in der Lage sind, weitere Menschen zu ernähren.
- In einem Sechstel der Welt herrscht nach wie vor extreme Armut, die trotz des globalen Wirtschaftswachstums nicht gemildert wurde. Diese Armutsfalle bedeutet Not und Elend für die Armen und hohe Risiken für den Rest der Welt.
- Im Prozess der Problemlösung sind wir wie gelähmt, Zynismus, Defätismus und veraltete Institutionen blockieren uns.
Entgegen anderer, eher pessimistischerer Einschätzungen zur Lage der Welt, geht Jeffrey Sachs davon aus, und das überrascht erst einmal, dass Wohlstand für alle Menschen durchaus möglich sei. Um dies zu erreichen, stellt er seiner Bestandsaufnahme vier Ziele gegenüber, die Jetzt, Lokal, Global und Gemeinsam angegangen werden müssen, nämlich
- nachhaltige Systeme zur Nutzung von Land, Energie und Ressourcen zu entwickeln, mit deren Hilfe sich die gefährlichsten Entwicklungen des Klimawandels, des Artensterbens und der Zerstörung von Ökosystemen verhindern lassen;
- durch eine auf das Jahr 2050 hin orientierte, perspektivische, freiwillige Senkung der Geburtenraten, die Weltbevölkerung bei acht Milliarden Menschen oder weniger zu stabilisieren;
- das Ende der extremen Armut auf der Erde und eine verbesserte wirtschaftliche Sicherheit auch in den wohlhabenden Ländern bis zum Jahr 2025 sicher zu stellen;
- neue, effektivere Formen der globalen Zusammenarbeit der Staaten, unter Einbeziehung der Kreativität des nichtstaatlichen Sektors, zu schaffen.
Dabei begnügt Sachs sich nicht damit, dass er die Probleme benennt, die falschen Entwicklungen aufzeigt und das konterkarierende Handeln der Menschen verdeutlicht, sondern er untermauert mit zahlreichen und interessanten Fakten, Zahlen, Statistiken und Forschungsergebnissen den dringenden Appell zum Perspektivenwechsel.
Aufbau und Inhalt
Er gliedert sein umfangreiches Buch in fünf Teile.
- Im ersten Kapitel diskutiert er die Bedingungen für ein "neues Wirtschaftssystem für das 21. Jahrhundert".
- Im zweiten geht es um "Nachhaltigkeit und Umweltschutz",
- im dritten um die "demographische Herausforderung",
- im vierten um das Ziel "Wohlstand für alle" zu ermöglichen; und
- im fünften Teil darum, wie "globale Problemlösungen" aussehen können.
Der aufmerksame Leser, der die Studie getrost auch als Handbuch und Nachschlagewerk für den eigenen wie den lokalen und globalen gesellschaftlichen Paradigmenwandel benutzen kann, wird zu den einzelnen Aspekten und Problemstellungen eine Reihe von überraschenden, möglicherweise auch irritierenden, in jedem Fall aber herausfordernden Argumenten finden; etwa die Infragestellung unserer gängigen Vorstellungen vom Markt und vom wirtschaftlichen Funktionieren unseres ökonomischen Handelns: Der Marktpreis muss mehr als den direkten Konsumwert ausdrücken; nämlich auch den gesellschaftlichen, humanen und Überlebenswert. Denn "wir werden uns nicht retten, wenn wir den Dingen ihren Lauf lassen und nur auf die Kräfte des Marktes vertrauen".
Die "Kraft des Faktischen" freilich hat uns im Griff. Das, was noch vor wenigen Jahrzehnten nur von vermeintlichen Phantasten prognostiziert wurde, ist Fakt: "Der Klimawandel findet bereits statt, und er wird sich verschlimmern". Es geht also Hier und Heute nicht mehr darum, den Klimawandel zu verhindern, sondern sich möglichst allgemeinverträglich und human an das Phänomen anzupassen, also mit dem Klimawandel zu leben. Dazu muss endlich eine wirksame und allgemeinverbindliche, globale Klimakooperation stattfinden, ohne Wenn und Aber. Die enormen Auswirkungen, die uns bereits allabendlich in unsere Fernsehwohnzimmer bildhaft geliefert werden, wie Wassermangel, Überflutungen, Dürrekatastrophen, Hungersnöte, Landschaftszerstörungen, usw., müssen von allen Menschen getragen werden; in erster Linie von denen, die zu den Wohlhabenden zu rechnen sind.
Allzu euphorisch allerdings dürfte Sachs’ "Strategie für die Entwicklung der Wirtschaft" bei den Realisten ankommen. Seine Vision, dass im 21. Jahrhundert die "große Konvergenz" einsetzen könnte, ein "Wohlstand für alle", bei der sich durch die Entwicklung der Weltwirtschaft die Einkommenskluft zwischen den Wohlhabenden und den Habenichtsen verringere – und zwar nicht, weil das Einkommen in den reichen Ländern sinke, sondern die Menschen in den armen Ländern aufholen würden - klingt sehr nach den sicherlich überholten Vorstellungen der Modernisierungstheorien. Allerdings entscheidet er sich bei seinem Entwurf einer Entwicklungsstrategie gegen die Kräfte der freien Marktwirtschaft und setzt dagegen ein verantwortliches, demokratisches staatliches Handeln im Sinne einer "guten Regierungsführung". Unwidersprochen bleibt sicherlich seine Analyse, dass Menschen, denen es an den Grundbedürfnissen mangelt, an Existenznot und Perspektivlosigkeit, nur schwerlich in der Lage sein werden, "Good Governance" auszuüben und zur Wirkung zu bringen. Die Bekämpfung der extremen Armut in der Welt ist demnach nicht nur eine humane Herausforderung, sondern auch eine Voraussetzung für individuelle und globale Sicherheit.
Als US-Amerikaner geht Jeffrey Sachs in seinen Reflexionen über "globale Problemlösungen" in besonderer Weise mit seinem Land ins Gericht. In zahlreichen Beispielen zeigt er auf, dass eine Korrektur der Außenpolitik dringend notwendig ist, und zwar sowohl strategisch, machtpolitisch, als auch identitätsherausfordernd. Auf nahezu allen politischen Feldern des US-amerikanischen Regierungshandelns sammelt er dabei die "Scherbenhaufen" auf und versucht, ein neues Puzzle einer kooperativen Politik zusammen zu setzen. Damit kommt er schließlich zu dem, was im Millenniumsversprechen von den Völkern der Vereinten Nationen um die Jahrtausendwende plakatiert wurde, nämlich zur Frage, wie diese dort aufgestellten Ziele Jetzt und in den nächsten Jahren erreicht werden können. Dabei wird klar, dass globale Lösungen der ökologischen und sozialen Krisen nicht alleine den Regierungen und internationalen Organisationen überlassen werden dürfen, auch nicht den potenten privaten Kapitalgebern, wie dies z. B. durchaus anerkennenswert und positiv mit den Globalen Fonds geschieht, sondern dass der Einzelne "Träger des Wandels" sein kann. Dabei gilt es, den mentalen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Widerständen gegen eine Reform des lokalen und globalen Denkens und Handelns, ein engagiertes und aufgeklärtes Selbstbewusstsein entgegen zu setzen. Der amerikanische Sozialwissenschaftler Albert Otto Hirschman hat solche Angriffe beschrieben als die "Vergeblichkeitsthese", dass nämlich alle Umgestaltungen einer Gesellschaft vergeblich, weil unlösbar seien; die "Sinnverkehrungsthese", wonach sämtliche Lösungsansätze die Situation nur noch verschlimmerten; und die "Gefährdungsthese", die suggeriert, dass Reformvorhaben bereits Erreichtes in Frage stelle.
Fazit
Jeffrey David Sachshat ein anspruchsvolles Buch geschrieben. Anspruchsvoll zum einen, indem er dem Leser eine Vielzahl von Argumenten und Beweisen liefert, dass die Menschheit, jeder Mensch auf der Erde also, eine Veränderung des menschlichen Daseins mit gestalten muss, und zwar sofort! Anspruchsvoll zum anderen, indem er uns alle ermuntert und ermutigt, dass dies auch möglich ist: "Die Menschheit kann sich selbst retten". Die seriösen und objektiven Daten, die er dafür heran zieht, sind wertvolles Material für die hoffentlich durch das Buch stärker in Gang kommende Diskussion, dass eine gerechtere Welt möglich und die Verwirklichung unser aller Aufgabe ist. Angesprochen sollten sich mit diesem Buch also insbesondere diejenigen, die in den gesellschaftlichen Einrichtungen, in der Schule, Hochschule, Erwachsenenbildung, in der Politik und den Nichtregierungsorganisationen ein waches Auge und eine Empathie dafür entwickeln, dass wir Menschen in Einer Welt leben!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1665 Rezensionen von Jos Schnurer.
Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 06.10.2008 zu:
Jeffrey D. Sachs: Wohlstand für viele. Globale Wirtschaftspolitik in Zeiten der ökologischen und sozialen Krise. Siedler Verlag
(München) 2008.
ISBN 978-3-88680-860-1.
Originaltitel: Common wealth. Aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm, Stephan Gebauer und Heike Schlatterer.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6636.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.