Christian Berndt, Robert Pütz (Hrsg.): Kulturelle Geographien
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.09.2008

Christian Berndt, Robert Pütz (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn.
transcript
(Bielefeld) 2007.
381 Seiten.
ISBN 978-3-89942-724-0.
29,80 EUR.
CH: 48,30 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Nach dem Cultural Turn ist vor der kulturtheoretischen Wende in den Sozialwissenschaften
Bei der Besprechung des Bandes "Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften" (2008, vgl. dazu die Rezension) haben wir von der "Raumvergessenheit der Raumwissenschaften", speziell der Geographie gesprochen; weil in dieser theoretischen und Metadiskussion erstaunlicherweise die "eigentlichen Raumexperten", die Geographen nämlich, sich einerseits allzu zurückhalten, andererseits in diesem internationalen Diskurs auch zu kurz kommen. Deshalb, so beanspruchen die Herausgeber des Bandes, Jörg Döring und Tristan Thielmann jedenfalls, stelle das Raumparadigma auch eine neue Herausforderung für Human- und Kulturgeographie, genau so wie für Philosophie, Kulturwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Geschichte, Literatur- und Naturwissenschaften, dar.
In der Diskussion um Daseinsberechtigung, Bedeutung und Wirkungsmöglichkeiten der Geographie in einer sich immer interdependenter entwickelnden und entgrenzenden EINEN WELT, wird seit einigen Jahren der aus dem englischsprachigen Raum in den deutschen Diskurs herüber gewachsene Begriff der "New Cultural Geography" benutzt und ansatzweise als "Neue Kulturgeographie" übersetzt. Dabei wird der Kulturbegriff in den existenziellen Zusammenhang des Menschseins, "als vom Menschen selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe" (Clifford Geertz), gestellt; was bedeutet, dass "in einer vom Cultural Turn inspirierten kulturellen Geographie die Prozesse einen festen Platz haben sollten, die unseren Alltag ausmachen, die Beziehungen und Kämpfe sowie die Exklusions- und Inklusionsprozesse, die soziale Identifikation begleiten und machtungleiche soziale Systeme konstruieren".
Herausgeber und Entstehungshintergrund
Die beiden Frankfurter Wissenschaftler, der Wirtschaftsgeograph Christian Berndt und der Humangeograph Robert Pütz als Mitherausgeber, fassen in dem Sammelband die Diskussionsergebnisse der vierten Kulturgeographietagung 2007 in Frankfurt/M. zusammen und ergänzen sie um weitere Reflexionen – aus zweierlei Gründen: Zum einen warnen sie davor, dass die deutschsprachige Geographie(wieder einmal) Gefahr laufe, "eine wichtige Quelle von Kreativität und Innovation unnötigerweise austrocknen zu lassen"; zum anderen geben sie zu bedenken, dass der deutschsprachigen Geographie auch die Gefahr drohe, "international (weiter) den Anschluss zu verlieren". So erhebt das Autorenteam den (für manche Ohren provozierend klingenden) Anspruch, jenseits von Versuchen, die (Neue) Kulturgeographie abzugrenzen etwa von der Sozial-, Wirtschafts-, oder Politischen Geographie, doch einen gemeinsamen Forschungs- und Arbeitsstil der kulturellen Geographien auszumachen: "Er ist konsequent nicht-essenzialistisch und erkenntnistheoretisch ’nicht-fundamentalistisch’…; er liest die Welt konstruktivistisch und relational und erteilt somit der Annahme sozialer Praxis vorgängiger Letztelemente, wie Individuen, Staaten, Märkte, Kulturen, Handlungen oder Strukturen eine Absage; er gibt ’chaotischen’ Alltagsrealitäten gegenüber aseptisch gereinigten Abstraktionen und Prognosen den Vorzug und lässt das Nebeneinander konkurrierender Erklärungen ausdrücklich zu".
Inhalt
- Der Osnabrücker Sozialgeograph Andreas Pott setzt sich in seinem Beitrag mit "Identität und Raum" auseinander, indem er auf die durch den Cultural Turn veränderten Sicht- und Zugangsweisen zur Identitätsbestimmung der Menschen eingeht. Identitäten sind dabei nicht individuelle Eigenschaften, als Natürliches, Begabtes oder Gegebenes im menschlichen Dasein, sondern "kontingente, unstabile, flüssige, wandelbare und hybride, oft widersprüchliche Formen" und Uneindeutigkeiten; letztlich also "Verhandlungssache, ein Kampf um Bedeutungen innerhalb von Diskursen, Machtoperationen, sozialen Beziehungen oder Netzen". Dabei bleibt er nicht auf der Meta- und beobachtungstheoretischen Ebene der Fachdiskussion, sondern formuliert die "Raumdimension von Identitäten" an ganz konkreten, national- und europa-gesellschaftlichen Themen, wie etwa "Muslime in Deutschland – deutsche Muslime" und "Pilgerwege nach Santiago de Compostela" im Kontext des vom Europarat initiierten Projektes "Erste Europäische Kulturstraße".
- Der am Frankfurter Institut für Humangeographie tätige Pascal Goeke diskutiert am Beispiel von "Divided Societies" im Balkan Aspekte von "Handeln und Erleben im Krieg". Es geht um die Sinn- und Seins-Dimension als Habhaftwerdung von historischen Gewissheiten und existentiell erlebten Entfremdungen, den Fragen nach Schuld und Unschuld, Vergeltung und Vergebung, Verantwortung und Logik. Dabei arbeitet der Autor mit einer Methode der Beobachtung und Analyse, die es ihm ermöglicht, die Entstehung von Vorurteilen, Stereotypen und sozialen Handlungen "als mögliches Ergebnis sozialen Miteinanders zu verstehen".
- Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Geographischen Institut der Universität Heidelberg, Annika Matissek, reflektiert in ihrem Beitrag "Diskursive Konstitution städtischer Identität", also von eher auf das Kollektiv hin orientierten Selbstvergewisserungen. Mit welchen Methoden Identitätskonstruktionen entstehen und für den Beobachtungs- und Forschungsprozess erkennbar und analysierbar gemacht werden können, ist eine für kulturgeographische Fragestellungen wichtige Anforderung. Für den empirischen Verlauf einer Studie bedarf es lexikometrischer und argumentationsanalytischer Formen, die in dem diskutierten Fallbeispiel aufgezeigt werden
- Der wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster, Jörg Mose, blickt über den Gartenzaun, indem er über die "Dynamik raumbezogener Identität in Spanien" nachdenkt und den Wandlungsprozess "von der Nation zur Multi-Level-Identity" beobachtet und am Beispiel von Schulbuchanalysen und medienwirksamen Signalen, wie etwa der Wetterkarte aufzeigt.
- Die stellvertretende Direktorin des Leibnitz-Instituts für Länderkunde in Leipzig, ?? ??, und der wissenschaftliche Mitarbeiter Bruno Schelhaas, stellen das interdisziplinäre Forschungsprojekt "Kartenproduktion als Weltbildgenerierung" vor, indem sie aufzeigen, "wie man Welt mittels Karten sichtbar macht". Sie brechen dabei eine Lanze für die "Kartographiehistoriographie" und gegen den "spatial turn". Am Beispiel der Kartographie Ostafrikas zeigt das Autorenteam den Paradigmenwechsel von der Geographie als Textwissenschaft hin zu einer Bild- und Kartenwissenschaft auf, der nicht erst im 19. Jahrhundert begonnen, sondern bis in die Zeiten der Globalisierung Gültigkeit hat.
- Der im Bereich Stadt- und Regionalforschung des Geographischen Instituts der Universität Bonn tätige Rainer Kazig setzt sich mit dem Atmosphärenbegriff in der Humangeographie auseinander, indem er auf die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt eingeht. Weil Atmosphären immer auch gefüttert sind mit leiblichen und seelischen Befindlichkeiten, wie Emotionen. Aggressionen, Gesten, Mimik und Motorik, deshalb sind sie auch Grundlagen für Einstellungen, Wahrnehmungen und Wohlbefinden, also auch raumorientiert.
- Auf das Wahrnehmungsverständnis von Landschaften und geographischen und soziologischen Räumen reflektiert auch der Frankfurter Humangeograph Werner Bischoff. Es geht ihm um "korrespondierende Orte". Durch die "Vorherrschaft des Auges" und des in Bildern fixierte Wahrnehmungspotentials werden, so der Autor, andere Möglichkeiten der sinnlichen Aneignung von Welt, wie etwa eine haptisch wie visuell – greifbar-dingliche - Welterschließung ausgeblendet. Dabei macht er auf "Duftmarken" von städtischen Räumen aufmerksam: "Zwischen den polarisierenden Dimensionen Aversion und Zuneigung … kann sich im Abgleich des olfaktorischen und visuellen Eindrucks die Bewertung eines Raumes als eine soziale Zuschreibung konkretisieren".
- Der Mitherausgeber Christian Berndt und der wissenschaftliche Assistent am Lehrstuhl für Kulturgeographie der Katholischen Universität Eichstädt, Marc Boeckler machen auf den ab den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sich vollziehenden Perspektivenwechsel in der Geographiewissenschaft auf die Modelle der neoklassischen Ökonomik aufmerksam. Zum einen ist es die sozioökonomische Perspektive mit der besonderen Berücksichtigung auf die soziale Einbettung ökonomischen Handelns; zum anderen die Perspektive einer kulturellen Ökonomie. Dabei geht es um "die performative Herstellung globaler Wirklichkeit" und nicht zuletzt um die sicherlich notwendige und kritische Auseinandersetzung mit den "unhinterfragten Selbstverständlichkeiten der Globalisierung".
- Der Leipziger Geograph Bastian Lange setzt sich in seinem Beitrag mit den "jungen Märkten" und den "neuen Ökonomien" in der globalisierten Welt auseinander. Das ist deshalb im Sinne der neuen Kulturgeographie notwendig, weil "junge Märkte durch ein hohes Maß an strukturellen Unbestimmtheiten hinsichtlich Formierungslogik, Regelverfahren, Umgangsregeln, Evaluierungsmodalitäten und Bewertungsinstanzen" gekennzeichnet sind. Mit den drei P-Begriffen – Positionings, Publics und Performances – werden Kriterien an die Hand gegeben, um Markt und Marktformierung zu erklären, zu bewerten und als berufliche Qualifikation auch für Geographen aufzuzeigen.
- Der Heidelberger Kulturgeograph Heiko Schmid stellt einen Analyseansatz für die zunehmende Inszenierung von Stadtlandschaften vor. Mit der Konzeption einer "Ökonomie der Faszination" weist er auf Beispiele einer "inszenierten Stadt" – Dubai und Las Vegas - hin, die für eine Analyse sowohl politische Aspekte, als auch wirtschaftliche Dimensionen, vor allem konsumtive Mechanismen, wie etwa Inszenierung und Erlebnisorientierung, verdeutlichen.
- Der Leipziger Ulrich Ermann fragt, ob in der "Fusion von Ökonomie und Kultur im globalen Konsumkapitalismus" ein "neuer Kapitalismus" entsteht. Sind es die neuen "magischen Marken", die dazu führen, dass mit dem Motto "Brands, not products" nicht mehr in erster Linie physische Produkte verkauft werden, sondern Symbole und damit ein tatsächlicher "Gebrauchswert" hinter den "magischen Werten" zurück tritt? Wenn die Marke zum Fetisch wird, besteht Erklärungsbedarf, auch für die kulturgeographische Betrachtung und Bewertung von ökonomischen Prozessen.
- Der Jenenser Sozialgeograph Marc Redepenning beschließt den Band mit der Frage nach einer "Ästhetik der Unverbindlichkeit". Dabei setzt er sich mit dem Diskurs auseinander, der sich in den letzten Jahren im Bereich der "neuen Kulturgeographen" etabliert hat, die "Selbstbeschreibung der Geographie durch die Geographie" zu behandeln. Sein Verdacht, dass sich in der akademischen Diskussion und neukulturgeographischen Forschung Zugangs- und Zuständigkeitszuweisungen ergeben, die "sich kaum noch von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächern unterscheiden". Dabei kommt es, so der Autor, zu einer paradox anmutenden Situation: "Die jüngere Kulturgeographie als (eigentlich) Differenzen betonende Disziplin wird selbst differenzlos und allumfassend". Mitnichten plädiert er etwa nun dafür, etwa den Begriff und die Bedeutung von "Kultur" aus dem Reflexions- und Aufgabenfeld der Kulturgeographie heraus zu nehmen; vielmehr geht es im darum, mit den Mitteln und Verantwortlichkeiten der Geographie eigene Begriffe zu bilden und diese mit den neuen Möglichkeiten kulturgeographischer Reflexion zu füllen.
Fazit
Im Steinbruch der wissenschaftlichen "kulturtheoretischen Wenden", bei denen für den geographischen Diskurs der Claim des Cultural Turn abgesteckt wurde, kann es ja nicht darum gehen, um des brachialischen Steinebrechens Willen Brocken heraus zu sprengen. Vielmehr müssen die Produkte, als Begriffe und Zeichen markiert, wissenschaftlichen Gütekriterien entsprechen. Weil eben alles Kulturelle auch immer politisch ist. Deshalb hat die (neue) Kulturgeographie die immens wichtige und aktuelle Aufgabe, Raum und Ort menschlichen Daseins und Agierens "kulturpolitisch" zu betrachten, zu bewerten und nicht zuletzt auch zu steuern. Die im Sammelband "Kulturelle Geographien" diskutierten Beiträge sind ein Wegweiser dafür!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 23.09.2008 zu:
Christian Berndt, Robert Pütz (Hrsg.): Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn. transcript
(Bielefeld) 2007.
ISBN 978-3-89942-724-0.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6651.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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