Sascha Neumann: Kritik der sozialpädagogischen Vernunft
Rezensiert von Prof. Dr. Peter Erath, 25.01.2009
Sascha Neumann: Kritik der sozialpädagogischen Vernunft. Feldtheoretische Studien. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2008. 352 Seiten. ISBN 978-3-938808-43-6. 32,00 EUR. CH: 54,00 sFr.
Thema
Neumann will der "Krisenrhetorik", die seiner Ansicht nach die theoretische Debatte in der Sozialpädagogik derzeit weitgehend bestimmt, eine "Theorie der Sozialpädagogik" "unter entgegengesetzten Vorzeichen" (S.26) gegenüberstellen. Gemeint ist damit eine Theorie, die nicht in ontologischer Manier den "Gegenstand" der Sozialpädagogik theoretisch (z.B. als "pädagogische Autonomie") bzw. empirisch (z.B. als "Erziehungswirklichkeit") unbesehen definiert, sondern "die ihre eigenen Voraussetzungen in ihrer eigenen Begrifflichkeit thematisieren kann." (ebd.) Dabei orientiert sich Neumann sehr stark an der von Bourdieu entwickelten "Theorie der Felder" und ist möglicherweise die Anleihe seines Buchtitels (Kritik der sozialpädagogischen Vernunft) am Titel eines Buches von Bourdieu (Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt 2001) nicht rein zufällig. Dessen Theorie erlaubt es nämlich, den Geltungsanspruch sozialer Felder - und damit auch der wissenschaftlichen Sozialpädagogik und ihrer Vertreter/innen - als Schauplatz einer erheblichen Dynamik und von Kämpfen um die (Definitions-) Macht zu interpretieren.
Will man den vorhandenen - unzulänglichen weil ontologischen - theoretischen Positionen der Sozialpädagogik keine weitere hinzufügen, so muss nach Neumann an die Stelle der "Theorie der Sozialpädagogik" eine "Theorie des Sozialpädagogischen" bzw. eine Theorie "der Sozialpädagogik der Sozialpädagogik (S.286 ) treten, die unter Verzicht auf Vorstellungen von der je besonderen Bestimmtheit seines Objekts im Rahmen einer "sozioepistemologischen Methodologie" objekttheoretische Aussagen anstrebt, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sie "konstruktivistische oder gar hermeneutische Reflexivität einerseits und empirische Affizierbarkeit andererseits" (S. 280) verknüpfen.
Am Beispiel der Debatte um die Wirkungen von Anti-Aggressions-Trainings versucht Neumann zu zeigen, wie der Verzicht auf eine ontologische Wissenschaftsauffassung "sich letztlich in einem Zugewinn an Erfahrungsmöglichkeiten auszahlt" (ebd.) und zu einer kritischen Durchdringung theoretisch und praktisch vorhandener Pseudogewissheiten und damit zu einer "Theorie der Empirie" führen kann, "die sich in einer empirisch informierten Theorie entfaltet." (S.288)
Autor
Dr. Sascha Neumann ist Lehrbeauftragter an der Universität Trier sowie im Hochschulmanagement des Saarlandes tätig. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind: Theorie und Geschichte der Sozialpädagogik, Qualitäts- und Evaluationsforschung im Erziehungs- und Bildungswesen, sozialwissenschaftliche Feldtheorien sowie sozialpädagogische Bildungsforschung.
Aufbau
Der Aufbau des Buches gliedert sich in vier Hauptteile, jeweils mit einigen Unterkapiteln.
1. Die Beobachtung beobachten: Reflexive Sozialwissenschaft
In einem ersten Kapitel stellt Neumann die zentralen Grundannahmen der Bourdieu‘schen "Theorie sozialer Felder" vor. Bourdieu ging es im Rahmen von "Sozioanalysen" vor allem darum, die soziale Bedingtheit von wissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungsprozessen herauszuarbeiten und ein methodologisches Instrumentarium zu entwickeln, das es erlaubt, "eine methodisch kontrollierte Fremdbeobachtung vermittelt über eine ebenso methodisch kontrollierte Selbstbeobachtung ins Werk zu setzen" (S. 55). Damit das gelingen kann, muss sich der Forscher in das konstruierte Objekt selbst einschließen um so "zugleich von der Zugehörigkeit, der Teilnahme und von der Position des Außenbeobachters, des Betrachters und der objektivierenden Distanz zu profitieren." (Bourdieu, zitiert S. 71) Im Rahmen einer solchen "sozioepistemologisch instruierten Reflexivität" (S.79) muss es gelingen, "sowohl die Konstruktion der Realität wie auch die Realität des Konstruierten" (S.75) auf methodischem Wege empirisch / theoretisch sichtbar zu machen und damit die "Beobachtungsabhängigkeit des Beobachteten" (ebd.) zu überwinden. Auf diese Weise lassen sich dann vielfältige Irrtümer und Verzerrungen ausfindig machen und wird das Feld zum "Ensemble von Blickwinkeln" (Bourdieu, zitiert S. 90), in dem sich der Forscher noch selbst in Frage stellt. Auf diese Weise wird wissenschaftliches Erkennen von Verzerrungen befreit und in die Lage versetzt, etwas anderes und mehr zu sehen als z.B. die Praxis, ohne allerdings je zur endgültigen Erkenntnis zu gelangen.
2. Objektivierung der Objektivierung: Sozioepistemologie der Sozialpädagogik
Im zweiten Kapitel versucht Neumann zunächst den Begriff der "Beobachtung" ausgehend von Charles Sanders Peirce Unterscheidung in "Erstheit", "Zweitheitlichkeit" und "Drittheitlichkeit" neu zu qualifizieren. Dabei kommt es ihm vor allem darauf an, zu zeigen, dass es dem Forscher durchaus möglich ist, "drittheitlich" zu beobachten und auf diese Weise zu einem Erkenntnisfortschritt zu gelangen. Eine solche Beobachtung führt er dann im Bereich der Theorien der Sozialpädagogik durch (Kap. 2.2 Sozio-Logik). Dabei versucht er zu zeigen, wie die verschiedenen Theoretiker der Sozialpädagogik in ihren Theorien sowohl auf vorgegebene Reflexionsbegriffe wie auch auf vorhandene Objektbereiche (z.B. Jugendwohlfahrt bzw. Jugendhilfe) rekurrieren und damit "ontologisch" bzw. "wesensanalytisch" (S.179) bleiben. Zugleich misst sich die sozialpädagogische Idee nur an sich selbst: "Will heißen: Nur derjenige, der sich dieses pädagogischen Erlebnisses als fähig erweist und den pädagogischen Blick habitualisiert hat, verfügt über die Art des Dekodierungswissens, das ihm Zugang zur "Erziehungswirklichkeit" eröffnet." (S. 190) Gleiches geschieht im Bereich der empirischen Sozialpädagogik: auch z.B. die rekonstruktive Sozialpädagogik bezieht den Beobachter nicht in die Beobachtung mit ein, sondern löscht ihn aus (S.192).
3. Teilnehmende Objektivierung: Feldtheorie als Forschungsstrategie
Im dritten Kapitel stellt Neumann die Logik der "teilnehmenden Objektivierung" vor, eine Forschungsstrategie die wiederum von Bourdieu stammt und die für sich in Anspruch nimmt, "Drittheit im Horizont eines drittheitlichen Selbstverständnisses" (S.223) etablieren zu können, d.h. in einer Form, die selbst noch die Objektivierung "in einen Vorgang methodisch kontrollierter Objektkonstruktion" (ebd.) bringen will. Damit werden Beobachter, Feld und Objekt nicht auseinander gerissen, sondern stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander; das Vorfindliche wird "als Feld im Feld" (S.242) repräsentiert. "Das Sozialpädagogische" erscheint somit "als eine Form bedingender und bedingter Relationalität, als eine Form des Sozialen also (im Sinne dieser Überlegungen), die als solche zugleich eine sozialpädagogische ist." (S.255) Eine Immunisierung des Sozialpädagogischen durch Theorien jedweder Art wird somit verhindert, es bleibt dynamisch, veränderbar und entwicklungsoffen.
4. Von der Feldtheorie zur Theorie des sozialpädagogischen Feldes: Empirische Erkundungen
Im vierten Kapitel zeigt Neumann mögliche Folgen eines so entwickelten Theoriebegriffs für die sozialpädagogische Forschung exemplarisch am Bereich des Anti-Aggressions-Trainings auf. Seiner Ansicht nach gelingt es der gängigen Evaluationsforschung nicht, die Wirkungen solcher Maßnahmen angemessen zu erfassen. Statt dessen werden mögliche theoretisch vorkonstruierte "Wirksamkeiten", wie z.B. zukünftige Straffreiheit etc., gemessen bzw. werden die Probanden bezüglich bestimmter vorkonstruierter Befindlichkeiten, wie z.B. verbessertes Selbstwertgefühl etc. befragt. Dagegen zeigt Neumann ansatzweise, wie es im Rahmen einer nichtontologischen, theorieoffenen und sozioepistemologischen Vorgehensweise gilt, sich auch noch über die dem (ursprünglichen) Forschungsansatz zugrundeliegenden Messkriterien zu verständigen, in der Absicht, dem "Forschungsfeld" näher zu kommen und möglicherweise neue und unerwartete Ergebnisse zu erzielen.
Zielgruppe
Da es sich hier um eine Dissertation im Bereich der "Theorien der Sozialpädagogik" handelt und die sprachliche Darstellung hoch komplex ausfällt, setzt die Lektüre dieses Buches nicht nur die umfassende Kenntnis der Theorieentwicklung der Disziplin voraus, sondern auch elementare Kenntnisse der Schriften von Pierre Bourdieu. Insofern ist die Lektüre nur für fortgeschrittene Studierende, die sich explizit mit diesem Thema befassen sowie für Lehrende und Forschende im Bereich der Sozialpädagogik bzw. Sozialen Arbeit zu empfehlen.
Fazit
Dem Verfasser ist insgesamt gesehen eine hochrespektable weil sehr kompetente und interessante Darstellung eines bislang noch zu wenig beachteten Aspekts der Theoriedebatte gelungen – der Rezeption des Bourdieu‘ schen Theorems der "sozialen Felder" und der damit verbundenen Methode der "teilnehmenden Objektivierung". Seinem selbstgesetzten Ziel, " (…), ausgehend von einer erkenntniskritischen Analyse der sozioepistemologischen Voraussetzungen sozialpädagogischer Wirklichkeitserfahrung, einen konstruktiven Beitrag zum Gegenstandsproblem einer Theorie der Sozialpädagogik zu leisten" (S. 257), ist er allerdings nur insofern gerecht geworden, als es ihm gelungen ist, mit Hilfe der Bourdieu‘ schen Argumentation gängige Theoriekonzepte der Sozialpädagogik auf ihre jeweils vorhandenen "blinden Flecke" und die Beteiligten im (sozialpädagogischen) Feld auf die diesem Feld zugrundeliegende "sozialpädagogische Illusion" hinzuweisen. Dies mag (wissens-) soziologisch gesehen wichtig sein, würde aber zugleich bedeuten (und der Verfasser müsste dies konzedieren), dass die Entwicklung von konsistenten Theorien der Sozialpädagogik erkenntnistheoretisch nicht möglich ist. Die Praxis der Sozialpädagogik müsste sich dann demzufolge auf der Reflexionsebene mit einer "Soziologie der Sozialpädagogik" zufrieden geben.
Rezension von
Prof. Dr. Peter Erath
Professor für Theorien der Sozialen Arbeit, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Fakultät für Soziale Arbeit.
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