Lars Zumbansen: Dynamische Erlebniswelten
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 18.11.2008

Lars Zumbansen: Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierungen in phantastischen Bildschirmspielen.
kopaed verlagsgmbh
(München) 2008.
250 Seiten.
ISBN 978-3-86736-116-3.
18,80 EUR.
Reihe: Kontext Kunstpädagogik - 16.
Virtuelle Welten als ästhetische Spielräume
Über die vergangenen Jahre hinweg ließ sich beobachten, wie rasant Computerspiele, „Online-Games“ und virtuelle „Parallelwelten" in die Gesellschaft eingedrungen sind. Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind sie längst Teil alltäglicher Freizeitgestaltung und Element der sozialen Interaktion. Jüngst haben Lübecker Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Kunstprojektes Shakespeare-Stücke auf der Internetplattform Second Life inszeniert. Dazu haben sie Avatare programmiert, die ein Theaterstück aufführen. Dies beweist nicht nur den rasanten technischen Fortschritt, sondern auch die Bereitschaft der Nutzer/innen, die virtuellen Welten kreativ zu gestalten.
Von daher macht es Sinn, die Nutzung dieser Welten auch unter ästhetischem Gesichtspunkt zu betrachten, wie dies Lars Zumbansen in seinem Buch anhand von "ästhetischen Orientierungen" in Bildschirmspielen unternimmt.
Es ist die Beobachtung des Autors, dass die virtuellen Bildschirmspielwelten weder von Kunst noch Kunstpädagogik angemessen rezipiert würden - trotz ihrer hohen Akzeptanz bei Kindern und Jugendlichen. In seiner Dissertation, die aus einem Forschungsvorhaben an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn hervorgegangen ist, will Zumbansen mit der Analyse bildlicher und erzählerischer Strukturen die kultursoziologische Bedeutung von Bildschirmspielen als zeitgenössische Erlebnisangebote herausarbeiten.
Autor
Lars Zumbansen hat Kunst, Germanistik und Erziehungswissenschaft studiert. Er war Lehrbeauftragter an der Fakultät für Kulturwissenschaften (Fachbereich Kunst/Musik/Textil) der Universität Paderborn. Zurzeit ist Lars Zumbansen Studienreferendar an einem niedersächsischen Gymnasium.
Aufbau und Inhalt
Zumbansen entfaltet die Thematik in sieben Kapiteln.
Kapitel 1, "Der kultursoziologische Denkrahmen", bringt die soziologischen Modelle, die für die weitere Entwicklung der These notwendig sind. Dabei bezieht sich Zumbansen stark auf den Bamberger Kultursoziologen Gerhard Schulze. Schlüssel-Stichworte sind hier die Begriffe "Erlebnisgesellschaft" und "Steigerungslogik", wobei letztere in Zusammenhang mit der Spielanalyse noch einmal zum Thema gemacht wird. Generell geht der Autor von einer konstruktivistischen Perspektive aus, d.h. dass Erlebnisakte immer auch subjektive Schöpfungen darstellen, die allerdings soziokulturell transportiert und verstärkt werden können. Für Zumbansen sind die Bildschirmspiele somit ein Ausdruck einer Gesellschaft, die sich als mobil, flexibel und stetig dem Neuen zugewandt definiert. Wie sich dies in den Spielen manifestiert, wird in den späteren Kapiteln weiter verfolgt.
Das kurze zweite Kapitel über "die Video- und Bildschirmspielindustrie" stellt dann einige Kennzahlen und Eckdaten zum Nutzerverhalten und zur (wachsenden) Marktsituation bei Bildschirmspielen dar.
Mit den "spieltheoretischen Grundlagen" befasst sich anschließend das dritte Kapitel, wobei zunächst allgemeine Grundlagen mit Blick auf Bildschirmspiele dargestellt werden. Letztere Spielformen sind fiktionale, jedoch realitätsbezogene Erlebnisräume mit hohem Immersionspotential, d.h. sie bieten die Möglichkeit, in hohem Grade ins virtuelle Geschehen einzutauchen. Interessant ist Zumbansens spielteoretische Klassifikationsmatrix unterschiedlicher kultureller Handlungen. Des Weiteren werden Rollen- und Adventurespiele aufgegriffen sowie Grundtypen phantastischer Spielmotive analysiert.
Einen ersten großen Analysezyklus, der für die Zielsetzung der Arbeit besonders relevant ist, bildet das vierte Kapitel: "Bildschirmspiele als narrative Weltentwürfe". Nachdem der Autor verschiedene Interpretationsmodelle und Perspektiven in Stellung gebracht hat, kommt er zu der Erkenntnis, dass es sich bei den meisten Spielen um steigerungslogische Grenzverschiebungen handele, wobei fiktionale Grenzüberschreitungen in den Spieleplots nach wie vor die Ausnahme bilden. Interessant ist ferner die Analyse des (ir-)reversiblen Spieltodes, der weniger als physische Grenze denn als narrative Metapher des Scheiterns aufgefasst werden müsse.
Kapitel fünf, "Modelle ikonischer Repräsentanz in virtuellen Spielwelten", bringt den zweiten großen Analysezyklus unter semiotischer Perspektive. Nach einem Gang durch die Zeichentheorie hebt der Autor vor allem auf den Begriff des Hyperrealismus ab. Diese Kunstform der überdeutlichen Darstellung werde von vielen Spielentwicklern bewusst als Darstellungsstil gewählt und transportiere verschiedene gesellschaftliche Bilder, wie beispielsweise Ordnung und Reinheit oder Verschmutzung bzw. Niedergang. Aber nicht nur das, was direkt zu sehen ist und als Spielumgebung angeeignet wird, ist von Interesse. Auch die Leerstellen, das was nicht gezeigt wird, ist für die Analyse relevant.
Kapitel 6 bringt eine "Zusammenfassung der Ergebnisse", die durch den Ausblick im siebten Kapitel ergänzt werden.
Zielgruppe
Das Buch richtet sich mit wissenschaftlichem Anspruch und Hintergrund vor allem an eine akademische Leserschaft, als Lehrende oder Lernende in den Fachbereichen Medien- und Kunstpädagogik, Kulturwissenschaft, Semiotik und Psychologie.
Diskussion
Mit der vorliegenden Dissertation hatte es sich der Verfasser zum Ziel gesetzt, "Bildschirmspiele als soziokulturell motivierte sowie marktstrategisch organisierte Aggregationen eines zeitgenössischen Erlebnismanagements auszuweisen, welches sich in kollektiven wie individuellen Selbstverwirklichungsphantasmen auf der einen und von ökonomischen Selbsterhaltungs- bzw. Profilierungskalkülen auf der anderen Seite entfaltet" (Seite 213). Gemessen an dieser Zielsetzung muss ich feststellen, dass die Perspektive der Nutzer/innen (individuelle Seite) mitsamt ihrem soziokulturellen Hintergrund gar nicht und die Idee der Spielentwickler und -vermarkter (ökonomischer Part) nur marginal in Erscheinung treten. Vielmehr wird genau das Bindeglied beider Seiten, nämlich das Genre des Videospiels phänomenologisch anhand von rund zwanzig Beispielanwendungen betrachtet. Was Zumbansen ja auch bestätigt, wenn er schreibt, dass sich sein Forschungsdesign bislang nur auf die "Produktkosmen" (Seite 219) beschränke. Die Frage ist also: Was bringt diese rein phänomenologische Analyse an Neuem? Meiner Ansicht nach ist es Zumbansens Erkenntnis, dass Bildschirmspiele in der Regel eine ästhetische Reduktion von erzählerischer und ikonischer Komplexität vornehmen, verglichen mit der Erzählkultur traditioneller und moderner, durch elektronische Medien transportierter Mythen, wie sie etwa Joseph Campbell analysiert. Gemäß der gesellschaftlichen Prämisse der Steigerungslogik gehe es in den Bildschirmspielen vornehmlich um Grenzüberschreitungen durch Steigerung (d.h. Aufstieg im Spiellevel), viel weniger jedoch um sujethafte Grenzüberschreitungen, d.h. inhaltlich-qualitative Transformationen. Diese Reduktion werde andererseits durch Ausweitung der Spielwelt kompensiert. Was sich ganz ähnlich auch bei der bildlichen Gestaltung wiederhole, wo semantische Leerstellen durch die Ausweitung des Navigationsraumes wettgemacht werden.
Damit werden – vorbehaltlich der nichtrepräsentativen, überschaubaren Auswahl untersuchter Spiele - zwei wesentliche ästhetische Strategien der gegenwärtigen Bildschirmspielkultur deutlich. Allerdings bleibt offen, wie dies auf die Nutzer/innen wirkt und ihre ästhetischen Ko-Konstruktionen beeinflusst. Hier wäre zum Beispiel mit Hilfe von qualitativen Interviews und Studien weiter zu forschen. Zumal ja auch virtuelle Spielwelten Handlungs- und Wertmuster anbieten. Von daher wäre die Erörterung des Zusammenhanges von ästhetischer Darstellung und Gewalt ein für die aktuelle Diskussion lohnendes Thema gewesen, wie es in der gelungenen Analyse des virtuellen Todes bereits angerissen wird. Ebenso ist in der vorliegenden Arbeit die soziale Interaktion innerhalb dieser Spielwelten kein Thema, die zurzeit durch viele Online-Rollenspiele zunehmende Bedeutung erlangt hat. Wir erfahren allerdings, wie die Bildschirmspielgestaltung mit größeren soziologischen Erklärungsmodellen korrespondiert und gesellschaftliche Entwicklungen widerspiegelt. Damit sind Bildschirmspielwelten eben nicht von vornherein die ästhetischen Erlebnisräume, die als Korrektive in kritischer Distanz zum Zeitgeist stehen. Dies kann entweder als Kritik des Bildschirmspielmarktes aufgefasst werden oder als Anregung, vorhandenes Potential gezielt weiter zu entwickeln.
Eine kritische Bemerkung möchte ich allerdings mit Blick auf den Sprachstil des Buches nicht ersparen. Ich bin nicht der Ansicht, dass hypertropher Fremdwortgebrauch und kapriziöser Stil – auch in der Medien- und Kunstpädagogik - per se wissenschaftliche Güte erzeugen. Nicht nur, dass die Sinnentnahme unnötig erschwert wird: Es führt mitunter dazu (wie z.B. bei der Spielerläuterung auf Seite 171f.), dass banale Sachverhalte künstlich aufgeblasen und in die Nähe der Realsatire gerückt werden.
Fazit
Mit seiner Dissertation über "Dynamische Erlebniswelten" hat Lars Zumbansen eine beachtenswerte medienästhetische Analyse der Erzähl- und Bildstruktur von rund 20 ausgewählten Bildschirmspielen vorgelegt, welche den Zusammenhang von virtuellen Spielwelten und gesellschaftlichem Zeitgeist zum Ausdruck bringt.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 18.11.2008 zu:
Lars Zumbansen: Dynamische Erlebniswelten. Ästhetische Orientierungen in phantastischen Bildschirmspielen. kopaed verlagsgmbh
(München) 2008.
ISBN 978-3-86736-116-3.
Reihe: Kontext Kunstpädagogik - 16.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6680.php, Datum des Zugriffs 03.12.2023.
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