Julia Haberstroh: Berufliche psychische Belastungen [...] (Altenpflege)
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 02.06.2009
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Julia Haberstroh: Berufliche psychische Belastungen, Ressourcen und Beanspruchungen von Altenpflegern in der stationären Dementenbetreuung.
Logos Verlag
(Berlin) 2008.
218 Seiten.
ISBN 978-3-8325-1827-1.
D: 40,50 EUR,
A: 41,60 EUR,
CH: 72,10 sFr.
Reihe: Psychosoziale Interventionen zur Prävention und Therapie der Demenz - Band 1.
Thema
Die Pflege Demenzkranker in stationären Einrichtungen der Altenhilfe ist in Deutschland ein äußerst Problembehafteter Arbeitsbereich, der eine durchdringende Hauptkomponente besitzt: Stress bei den Pflegenden und damit automatisch zugleich Stress bei den Demenzkranken, denen dieser Stress bei der Pflege und Betreuung regelrecht übertragen wird. Der Personalbesatz in den Heimen ist ausgerichtet auf einen durchrationalisierten Pflegeprozess gemäß der Devise „jeder Handschlag muss sitzen“. Doch Demenzkranke widersetzen sich aus vielfältigen Gründen dieser Handlungslogik, indem sie sich z. B. der Pflege widersetzen. Oder indem sie durch ihr Verhalten einen immensen Mehraufwand an Arbeitszeit verursachen. Es können z. B. die Beseitigung von Kotschmierereien sein, Suchaktionen beim Verirren im Haus oder bei einem unbeaufsichtigten Verlassen der Einrichtung. Für den Umgang mit all diesen demenzspezifischen Verhaltensauffälligkeiten ist der Personalschlüssel zu eng bemessen, denn eine Demenzpflege erfordert Zeitpuffer oder personale Reservekapazitäten, um ruhig und gelassen auf diese Widrigkeiten eingehen zu können. In der Fachdiskussion wird dieser Sachverhalt jedoch kontrovers gesehen. Während eine Richtung für eine angemessene Personalbesetzung plädiert, wird von anderer Seite auf eine verstärkte Anpassung und damit Immunisierung des Personals bezüglich des ständigen Überstresses durch verschiedene Interventionen gesetzt (siehe die Rezension zu Berger u.a. Band 1 und die Rezension zu Berger u.a. Band 2).
Autorin und Entstehungshintergrund
Bei der Autorin handelt es sich um eine Diplom-Psychologin, deren Dissertation an der Technischen Universität Darmstadt den Inhalt vorliegender Veröffentlichung darstellt.
Aufbau und Inhalt
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Interventionsstudie in Gestalt der Durchführung und Bewertung eines Trainingsprogramms bei Altenpflegern zur Verbesserung ihrer sozialen Kompetenzen im Umgang mit den Demenzkranken und den Kollegen.
Im theoretischen Teil der Arbeit (Seite 3 – 72) werden auf der Grundlage des Forschungsstandes die arbeitswissenschaftlichen Kategorien Belastung, Ressourcen und Beanspruchung in der stationären Altenpflege unter Berücksichtigung der Demenzpflege expliziert. So werden bei den psychischen Belastungen der Pflegenden besonders die Kommunikationsprobleme im Umgang mit den Demenzkranken und deren demenzspezifischen Verhaltensauffälligkeiten und psychopathologischen Symptome dargestellt. Des Weiteren werden die ungünstigen Arbeitsbedingungen in der stationären Altenpflege wie Personalmangel, Zeitdruck, Mangel an Qualifikation und das oft ungünstige sozialen Klima in den Einrichtungen als weitere Ursachen der psychischen Belastung erörtert. Als Formen der Ressourcen in der stationären Altenpflege definiert die Autorin soziale Kompetenz, soziales Coping oder Bewältigungsverhalten und die soziale Unterstützung.
Hieran anschließend werden die Formen der psychischen Beanspruchung und deren Folgen aufgeführt: emotionale Erschöpfung, reduzierte Motivation, Arbeitsunzufriedenheit, Klientaversion und teils reduzierte Lebensqualität der demenzkranken Bewohner. Es folgt die Entwicklung eines Modells sozialer Kompetenz in der stationären Altenhilfe und deren Umsetzung in Gestalt von Interventionsmaßnahmen wie Supervision und Trainingsprogramme.
Im empirisch-methodischen Teil der Arbeit (Seite 73 – 105) werden das Vorgehen und der Versuchsplan, die Stichprobe und die Instrumente der Datenerhebung in den Bereichen Belastung, soziale Kompetenz, psychische Beanspruchung und Erfassung der Lebensqualität von Demenzkranken dargestellt. Die Interventionsstudie „Training sozialer Kompetenz in der stationären Dementenbetreuung“ bestand aus zwei Sitzungen – „Kommunikation mit Demenzkranken“ und „kollegiale Beratung in der stationären Dementenbetreuung (Kommunikation mit Kollegen)“, die im Abstand von zwei Wochen in Gestalt von achtstündigen Blockseminaren durchgeführt wurden. Die Probanden, 53 Altenpfleger aus sechs Pflegeheimen in Frankfurt am Main, wurden in vier Gruppen unterteilt: Gruppe 1 nahm am vollständigen Trainingsprogramm teil, Gruppe 2 und 3 erhielt jeweils nur eine Trainingseinheit und Gruppe 4 dientet als Kontrollgruppe. Darüber hinaus wurden von 106 demenzkranken Heimbewohnern Daten über deren Lebensqualität erhoben.
Im Teil Ergebnisse und Replikationsstudie (Seite 107 – 164) ist die statistische Auswertung der Erhebung ausführlich dargestellt. Ausgewertet wurden ein Prätest vor Durchführung des Trainingsprogramms und ein Posttest danach. Die Auswertung eines Selbstevaluationsbogens der Teilnehmer während der Trainingsphase konnte nicht durchgeführt werden, da der Rücklauf von nur 12 Teilnehmern zu gering war.
Im Teil Zusammenfassung und Diskussion (Seite 165 – 193) erörtert die Autorin die Resultate ihrer Studie.
Diskussion
Die Pflege Demenzkranker im stationären Bereich wird gegenwärtig äußerst kontrovers in den Fachkreisen diskutiert. Unterschiedliche Konzepte und Modelle teils mit dogmatischer Ausrichtung und kaum verständlichen Begrifflichkeiten konkurrieren miteinander um die Akzeptanz der Pflegenden. Was für den einen Ablenkung und Beruhigung bedeutet, ist für den anderen nichts weiter als Lug und Trug. In diesem völlig unbefriedigenden Kontext bedarf es bei einer Untersuchung in diesem Bereich einer klaren Standortbestimmung, selbst wenn es nur um den Tatbestand der sozialen Kompetenz und dem Belastungserleben geht. Dieser Themenbereich widersprüchlicher Vorgehensweisen in der Demenzpflege mit teils belastenden Auswirkungen auf die Betroffenen wird in der vorliegenden Studie nicht als ein wichtiges Element eines Rahmenkonzeptes aufgearbeitet und erläutert. Auch werden die bereits vorliegenden empirischen Untersuchungen über den Umgang mit Demenzkranken bei der Pflege nicht dargestellt. So ist es dann auch nicht weiter verwunderlich, dass das Trainingsprogramm keinen überzeugenden Eindruck vermittelt und fachlich recht unfundiert und unstrukturiert wirkt. Auch enthält die Studie keine Daten über die Teilnehmer hinsichtlich Qualifikation, Berufserfahrung und Weiterbildungen. Die Wertigkeit der Studie wird auch durch den Tatbestand eingeschränkt, dass mehrere Datensätze aufgrund zu geringer Rückläufe nicht ausgewertet werden konnten. Und zuletzt wird auch die Darstellung von Referenzstudien als Bezugsrahmen vermisst, um die vorliegenden Ergebnisse angemessen interpretieren zu können.
Fazit
Die Demenzpflege ist gegenwärtig ein weites Feld voller Barrieren, Hemmnisse und auch dogmatischer Erstarrungen. Wer in diesem Bereich Verbesserungen und auch Erleichterungen anstrebt, sollte dieses komplexe Gefüge mit seinen unterschiedlichen Sichtweisen und Leitkonzepten kennen. Der vorliegenden Studie hingegen ist es nicht gelungen, die bloße Ebene des instrumentellen Zugangs zu verlassen, um zu den wesentlichen Aspekten dieses Gegenstandsbereiches vorzudringen.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 02.06.2009 zu:
Julia Haberstroh: Berufliche psychische Belastungen, Ressourcen und Beanspruchungen von Altenpflegern in der stationären Dementenbetreuung. Logos Verlag
(Berlin) 2008.
ISBN 978-3-8325-1827-1.
Reihe: Psychosoziale Interventionen zur Prävention und Therapie der Demenz - Band 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6690.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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