Dirk Eichler: Veränderungsprozesse pädagogischer Institutionen
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 22.05.2009

Dirk Eichler: Veränderungsprozesse pädagogischer Institutionen. Organisationstheoretische Reflexionen vor dem Hintergrund gestiegener Anforderungen.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2008.
224 Seiten.
ISBN 978-3-531-15921-8.
35,90 EUR.
Reihe: VS research.
Thema
„Das Thema Organisation wird gegenwärtig in der Erziehungswissenschaft verstärkt als Schwerpunkt entdeckt. Dies hat u. a. damit zu tun, dass pädagogische Institutionen häufig einem erheblichen Veränderungsdruck ausgesetzt sind, um veränderten Umweltbedingungen gerecht werden zu können. Die theoretische und empirische Beschäftigung mit diesem Themenfeld betritt ein in der Erziehungswissenschaft noch wenig erschlossenes Gebiet. Dirk Eichler entwickelt auf der Grundlage verschiedener Ansätze der Organisationstheorie ein Konzept für das Verstehen und das Begleiten des Wandels von pädagogischen Institutionen. Seine Arbeit ist anwendungsorientiert und betrachtet im empirischen Teil Veränderungsprozesse in Schulen und bei freien Jugendhilfeträgern“ (Klappentext).
Autor
Dr. Dirk Eichler promovierte als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Hans Merkens an der Freien Universität Berlin. Er ist als Berater im Kompetenzmanagement der Audi Akademie GmbH tätig.
Bei der vorgelegten Untersuchung handelt es sich um seine eingereichte Dissertation.
Aufbau
- Allgemeine Annäherung an pädagogische Institutionen
- Ausgewählte pädagogische Institutionen und ihre spezifischen Merkmale
- Veränderte Rahmenbedingungen pädagogischer Institutionen und die Bedeutung des organisationalen Wandels
- Konzept eines organisationstheoretischen Doppelansatzes der Veränderung
- Veränderungsprozesse in der Praxis
Inhalt
- Im Kapitel „Allgemeine Annäherung an pädagogische Institutionen“ werden die Begrifflichkeiten eingeführt. Dabei geht es schwerpunktmäßig um typische Eigenschaften von pädagogischen Einrichtungen, um das, was man „Organisation“ nennt. Es wird aber auch der Systembegriff eingeführt, der im Folgenden als Erklärungsparadigma verwendet wird.
- Das Kapitel „Ausgewählte pädagogische Institutionen und ihre spezifischen Merkmale“ befasst sich mit der Definition des Systembegriffes sowie einer kurzen Anwendung auf pädagogische Organisationen, besonders auf Schule und freie Jugendhilfeträger.
- Im Abschnitt „Veränderte Rahmenbedingungen pädagogischer Institutionen und die Bedeutung des organisationalen Wandels“ geht es nach einer eher allgemeinen Einleitung zu globalen Veränderungen um konkrete, für Schule und Jugendhilfeträger relevante Veränderungen ihrer Umwelt (z. B. Wertewandel, Familienstruktur, Risikogesellschaft, PISA-Studie, Wissensgesellschaft). Daraus werden konkrete Entwicklungen beschrieben (z. B. neue Steuerung in der Jugendhilfe) und Forderungen erhoben (z. B. Wirkungskontrolle für die Schule). Es schließt sich eine eher allgemeine Betrachtung über Geschichte und Instrumente von Organisationsentwicklung an.
- Das Kapitel „Konzept eines theoretischen Doppelansatzes der Veränderung“ setzt sich mit Theorien des Wandels von Organisationen auseinander. So wird z. B. das Konzept der „Lernenden Organisation“ referiert, es werden Träger der Veränderung benannt, Widerstände und fördernde Bedingungen beschrieben. Ausführlich kommt der „Neo-Institutionalismus“ zu Wort. Überschrieben ist der Abschnitt mit „Die vernachlässigte Symbolik: Neo-institutionalistische Reflexionen“. Ziel ist es, Widerstandsformen (z. B. Fassadenbildung) zu erklären.
- In Abschnitt „Veränderungsprozesse in der Praxis“ werden drei Fallbeispiele vorgestellt und mit den bisher entwickelten Instrumentarien interpretiert. Im ersten Fallbeispiel geht es um einen Jugendhilfeträger, der in zwei Untersuchungsphasen evaluiert wird. Der Autor thematisiert die Veränderungen in der Organisation. Er stellt zunehmenden Koordinations- und Abstimmungsbedarf fest, was in einer Vielzahl von Koordinationsgremien, Supervision, Kieztreffs, Fallteams u. a mündet. Der Autor bewertet die „Einbindung einzelner Mitarbeiter in die verschiedenen Gremienarbeiten“ (S. 158) als positiven Beitrag zum Lernen der Mitarbeiter. Im zweiten Fallbeispiel wird ein Jugendhilfeträger beschrieben, der Familienhilfe anbietet. Hier stellt der Autor den gegenteiligen Effekt fest: Wegen des Wegfalls von Aufgaben und der meisten Mitarbeiter reduziert sich der Koordinationsbedarf und damit die Zahl der Teamsitzungen. Dass dadurch keine Beunruhigung in der Belegschaft hervorgerufen wurde, wird als „Indiz für eine Professionalisierung“ gesehen (S. 174). Dass Eichler angesichts der Tatsache, dass die Umstrukturierung „zum Ausscheiden fast aller Fachkräfte der sozialen Gruppenarbeit, deren Arbeitsverträge ausliefen“ führte, konstatiert, es habe nirgends zu Qualitätsverlusten geführt (S. 172), ist allerdings überraschend. Im dritten Fallbeispiel werden Veränderungsprozesse in einer Schule mittels quantitativer Befragung evaluiert. Die Untersuchung dokumentiert die dramatische Situation in einer Berliner Schule: einerseits mangelnde Ressourcen, große Ankündigungen, neue Gesetze, aber keine substanziellen Verbesserungen oder positive Ergebnisse durch die Reformen; andererseits hohes Engagement einzelner Lehrer und Eltern, das allerorten an der Frustration scheitert und zu unendlichen Konflikten führt. Auch hier allerdings das überraschende Ergebnis: „Doch die Konflikte beeinträchtigen die Leistungsfähigkeit der Schule offenbar nicht.“ (S. 190)
Das Buch schließt mit dem Kapitel „Gesamtfazit“, das im Wesentlichen noch einmal die theoretischen Ansätze zusammenfasst, allerdings mit nicht einmal zehn Seiten für eine Dissertation erstaunlich kurz ausfällt.
Zielgruppen
Dieses Werk wendet sich wohl eher an das theoretisch interessierte Publikum, das sich aus Interessierten aus Sozialpädagogik und Schule zusammensetzen könnte. Der empirische Teil könnte zumindest partiell interessant sein für ähnliche Projekte. Interviewleitfaden und Beispiele der Auswertung der Befragung sind im Anhang abgedruckt.
Diskussion
Grundsätzlich
spannend erscheint zunächst der Versuch, mit einer Untersuchung
von Jugendhilfeeinrichtungen und Schulen einen breiten theoretischen
und forschungspraktischen Bogen über sehr verschiedene
pädagogische Einrichtungen zu spannen. Wirklich gelungen
allerdings ist der Versuch wohl nicht, was der Autor indirekt zugibt,
wenn er sagt, die Ergebnisse der Schuluntersuchung lägen „quer“
zu den beiden Fallstudien von Jugendeinrichtungen (S. 194).
Möglicherweise ist die Schnittmenge doch nicht so groß wie
ursprünglich vermutet. Die Untersuchung der
Jugendhilfeeinrichtungen ihrerseits krankt an der mangelnden
Verarbeitung längst vorhandenen Wissens; es wird kaum der in den
letzten Jahren in erfreulicher Breite gewachsene Fundus von
Untersuchungen im Bereich des „Sozialmanagements“
genutzt, zentrale Werke über Jugendhilfe und Wohlfahrtsverbände
von Arnold, Olk, Badelt, Otto, Rauschenbach usf. finden sich
nicht in der verarbeiteten Literatur. Auch dieses ist für eine
Dissertation eher überraschend. Leider liegen dementsprechend
die Ergebnisse der Studie weit hinter dem Forschungsstand von
jugendbezogenen Non-Profit-Organisationen, ja, sie wirken bisweilen
banal. Um zu wissen, dass das Jugendamt für eine
Jugendhilfeeinrichtung „der überragende Umweltfaktor“
(S. 164, noch einmal S. 145 und S. 173) ist, braucht
es sicher keine Empirie mehr. Auch dass der Handlungsdruck auf
Jugendhilfe durch finanzielle knappe öffentliche Mittel wächst
(S. 157), dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben.
Der weitaus spannendere Teil des Buches ist die
organisationstheoretische Betrachtung der Schulwirklichkeit. Zwar
wird diese durchwegs aus Berliner Sicht beschrieben, zeigt aber in
erschreckender Weise auf, wie wenig sich tatsächlich hinter den
Fassaden der wohlklingenden Worte („Schulprogramm“,
„kontinuierliche Qualitätssicherung“ per Gesetz
verordnet) verbirgt. Vermutlich ist das in anderen Bundesländern
nicht viel anders. Hier sind die verwendeten Forschungsansätze
(Systemansatz, neo-institutionalistische Forschungsrichtung) gut
aufgehoben. Vielleicht wäre es klüger gewesen, sich auf
Schule zu beschränken, statt die ganze Palette von pädagogischen
Einrichtungen abzuhandeln. Das Thema der Einwirkung von Umweltdruck
(z. B. PISA) auf Schulen und deren interner Verarbeitung in der
Schulorganisation sowie daraus abzuleitende Verarbeitungsmuster
erscheint bei Weitem nicht ausgeschöpft.
Ausstattung
Das Buch ist nicht besonders gut ausgestattet: So fehlt ein Stichwortverzeichnis, und auch ein aktuelles Literaturverzeichnis wäre kein Luxus. Der Preis des Buches ist überdies nicht sehr studentenfreundlich.
Fazit
Das Buch ist insbesondere für all diejenigen Praktiker und Wissenschaftler lesenswert, die sich über Organisationstheorie einen Überblick verschaffen wollen, praktische Relevanz hat es allenfalls für die Schulentwicklung.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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