Peter Lüssi: Systemische Sozialarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Heiko Kleve, 20.04.2009

Peter Lüssi: Systemische Sozialarbeit. Praktisches Lehrbuch der Sozialberatung. Haupt Verlag (Bern Stuttgart Wien) 2008. 6. Auflage. 501 Seiten. ISBN 978-3-258-07386-6. D: 42,00 EUR, A: 43,20 EUR, CH: 68,00 sFr.
Das Buch
Das vorliegende Werk ist ein moderner Klassiker der Sozialen Arbeit. In der 1. Auflage ist es 1990 erschienen, und nun liegt die 6. Auflage aus dem Jahre 2008 vor. Das ist beachtlich! Außergewöhnlich ist, dass die Nachfrage des Buches auch ohne umfangreiche Überarbeitungen und Korrekturen ungebrochen ist. Der Autor hat lediglich für die 2. Auflage aus dem Jahre 1992 ausführliche, differenzierte und damit sehr hilfreiche Sach- und Personenregister angelegt. Für die 3. Auflage (1995) wurden sehr kleine inhaltliche Veränderungen vorgenommen. „Sie ändern die Theorie nicht, sondern verdeutlichen sie“ (S. 19).
Obwohl sich die Praxis und die Theorie der Sozialen Arbeit – zumindest an ihren Oberflächen – permanent wandeln, bleiben offenbar die Grundlagen der Profession und Disziplin relativ konstant. Auf diese Grundlagen bezieht sich die Systemische Sozialarbeit.
Autor
Peter Lüssi (geboren 1946) war von 1990 bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2006 Professor für Sozialarbeitstheorie an der Fachhochschule in Bern (CH). Er hat Recht, Philosophie, Psychologie und Theologie studiert und wurde 1976 an der theologischen Fakultät der Universität Zürich mit dem tiefenpsychologischen Werk „Atheismus und Neurose“ promoviert. Lüssi ist also kein gelernter Sozialarbeiter, sondern kann eher als ein Quereinsteiger bezeichnet werden. Dennoch war er dreizehn Jahre lang in der Funktion eines Sozialarbeiters in verschiedenen Bereichen praktisch tätig und engagierte sich zwischen 1983 und 1990 als Vorsitzender einer Berufsvereinigung von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist ein sehr umfangreiches Werk und behandelt nahezu alle Grundlagenthemen der Sozialen Arbeit. Dies soll hier nur in Form einer Auflistung veranschaulicht werden.
Der Einleitungsteil ist in drei Kapitel gegliedert. Zunächst wird „Der Sozialarbeiter und die Sozialarbeitslehre“ problematisiert. Hier fokussiert Lüssi vor allem Erscheinungen, die er als Defizite, als Mangel bewertet, z.B. die vermeintliche Theorieschwäche, den mangelnden Praxisbezug, den Mangel an sozialarbeiterischer Spezifität und die mangelende Konzentrierung. Sein Buch intendiert nun, diese Mangelerscheinungen, diese Defizite zu beheben. Dies wird in den beiden nächsten Kapiteln des Einleitungsteils vorbereitet, in dem zunächst die „Sozialberatung als Zentrum der Sozialarbeit“ markiert und sodann das Konzept der „Systemische[n] Sozialarbeit“, das Lüssi präferiert, erläutert wird.
Der Hauptteil des Buches gliedert sich in drei große Kapitel: Das erste Kapitel ist überschrieben mit „Die Aufgaben der Sozialarbeit“. Hier geht es um die Kernbereiche der Profession: um soziale Probleme und ihre Lösung. In sehr differenzierter Weise arbeitet Lüssi heraus, was er unter diesen beiden Phänomenen versteht und welche Bedeutung sie in der Praxis der Sozialarbeit haben.
Das zweite Kapitel des Hauptteils thematisiert „Die Mittel der Sozialarbeit“. Darunter versteht der Autor die Institutionen, Geld und Sachen, freiwillige Helfer, Dienstleistungen, das Recht, das Berufswissen, die Sprache sowie die Persönlichkeit des Sozialarbeiters. Allen genannten Aspekten ist jeweils ein umfangreicher Abschnitt mit sehr anschaulichen Ausführungen gewidmet.
Das dritte Kapitel des Hauptteils ist das umfangreichste, hier geht es um „Die Methoden der Sozialarbeit“. Für Lüssi ist das der Kern der Sozialarbeit, der sehr eng verquickt ist mit der Sozialberatung. Zunächst erläutert der Autor das Wesen der sozialarbeiterischen Methodik. Sehr detailiert und differenziert führt er sodann die „methodischen Prinzipien der Sozialarbeit“ an: Konzeptprinzipien, Handlungsprinzipien und Akzeptanzprinzipien.
Die dezidierte Erläuterung von sechs Handlungsarten der Sozialarbeit bildet den Abschluss: Beratung, Verhandlung, Intervention, Vertretung, Beschaffung und Betreuung.
Diskussion
Peter Lüssis Buch ist wahrlich – im klassischen Sinne – ein Lehrbuch der Sozialarbeit: Es führt aus, wie Sozialarbeit sein sollte. Lüssi beschreibt und erklärt zwar auch, aber seine Hauptintention scheint zu sein, zu bewerten, wie eine gute professionelle Praxis sein sollte. Insofern ist das Buch weniger eine Entfaltung von Sozialarbeitstheorie als eher die Darstellung eines normativen Konzeptes von Sozialarbeit. Allerdings, so könnten wir vielleicht ein wenig ironisch sagen, mogelt der Autor: Er tut so, als ob Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter so handeln, wie er es ausführt. Denn Lüssi verwendet keine präskriptiven Aussagen („Der Sozialarbeiter soll …“), sondern er arbeitet mit Beschreibungen („Der Sozialarbeiter macht …“). Jedoch weiß er selbst, dass er etwa bei der Erörterung der Sozialarbeiter-Persönlichkeit und bei der sozialarbeiterischen Methodik keinen Ist-Zustand beschreibt, wie er alltäglich in der Praxis beobachtet werden kann, sondern einen Idealtypus. Lüssi, offenbar sehr von seinen Perspektiven auf die Sozialarbeit überzeugt, schreibt, dass „der kompetente, methodisch richtig vorgehende, primär systemorientierte Sozialarbeiter“ (S. 212) eben in der Weise handelt, wie dies in dem Buch beschrieben wird.
Mit diesem Vorgehen, das deskriptiv-beschreibend aussieht, aber eigentlich präskriptiv-vorschreibend, also normativ gemeint ist, wird zugleich das große Potential und die nicht zu übersehene Schwäche des Buches deutlich: Die Stärke dieser Vorgehensweise ist, dass nun endlich einmal Klarheit hergestellt wird, über das, was Sozialarbeit sein sollte und für Lüssi eben ist. Alle, die immer schon verärgert und entnervt waren, von der diffusen Offenheit der Sozialarbeit, von ihrer zur Schau getragenen Komplexität, alle also, die sich danach sehnen, Sozialarbeit eindeutig zu definieren, fest zu schreiben auf klare und sinnvolle Ansätze, Prinzipien und Methoden, werden Lüssis Buch lieben. Diejenigen jedoch, die erfahren haben, dass Sozialarbeit ein so vielfältiges und immer wieder neu sich austarierendes Unterfangen ist, die wissen, dass jede Situation neue Sichtweisen und Handlungsmaximen benötigt, werden Lüssis Buch zwar auch zur Hand nehmen können, aber merken, dass sie die meisten Antworten auf ihre Fragen letztlich dennoch selbst finden müssen. Sozialarbeit ist eben nicht einfach lernbar wie ein Handwerk. Dies allerdings suggeriert Lüssi.
Mit diesen Aussagen will ich keineswegs die Bedeutung des Werkes schmälern, sondern nur die Reichweite der Aussagen des Autors relativieren. Vielleicht könnten wir hier auch an Ludwig Wittgenstein (1918/1921, 6.54) denken, der bekanntlich seinen Tractatus logico-philosphicus, seine logisch-philosophische Abhandlung folgendermaßen schließt: „Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)“
Schließlich will ich ein Letztes erwähnen: Die Systemische Sozialarbeit eignet sich nicht als Einführungsbuch in das Konzept der systemischen Sozialarbeit. Denn die jüngste Literatur zu diesem sich permanent und rasant weiter entwickelnden Ansatz kommt nicht zur Sprache. Auch ist das Systemverständnis, das Lüssi nutzt, eines, das als „vorautopoietisch“ bezeichnet werden kann. Die Systemtheorie hat mit der Einführung des Autopoiesis-Konzeptes (Humberto Maturana/Francisco Varela), der Kybernetik zweiter Ordnung (Heinz von Foerster) oder der Theorie selbstreferentieller sozialer Systeme (Niklas Luhmann) wahrlich mehrere Revolutionen hinter sich, die auch das Verständnis der Sozialen Arbeit verändert haben. All dies wird in dem Buch nicht thematisiert.
Fazit
Peter Lüssis großes Werk – ich wiederhole mich – ist ein Klassiker moderner Sozialarbeit. Schon deshalb gehört es in die Buchregale aller Fachbibliotheken, aber auch in die Hände von Studierenden, Praktikern und Lehrenden der Sozialen Arbeit. Bei der Lektüre des Buches werden einem nahezu die gesamte Methoden- und Theoriegeschichte der Sozialen Arbeit und die zentralen Fragen der Profession und Disziplin vor Augen geführt. Es handelt sich eben um eine Schrift, die an die Grundlagen der Sozialarbeit heranführt. Dass dann die Methodik sehr normativ präsentiert wird, kann – wie ausgeführt – zugleich als Stärke und Schwäche gesehen werden. Wer weiß, dass passendes sozialarbeiterisches Handeln und Denken nur durch eigenes Tun, vor allem durch das Bewältigen und das konzentrierte Reflektieren komplexer Aufgaben, ambivalenter Prozesse und schwieriger Entscheidungssituationen erlernt wird, der kann sich ausgezeichnet anregen lassen von Lüssis Ausführungen.
Rezension von
Prof. Dr. Heiko Kleve
Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft, Department für Management und Unternehmertum, Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
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