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Andreas Marneros: Sexualmörder- Sexualtäter - Sexualopfer

Rezensiert von Dr. biol. hum. Michael Stiels-Glenn, 23.03.2009

Cover Andreas Marneros: Sexualmörder- Sexualtäter - Sexualopfer ISBN 978-3-88414-423-7

Andreas Marneros: Sexualmörder ... Sexualtäter ... Sexualopfer .... Eine erklärende Erzählung. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2007. 3. Auflage. 380 Seiten. ISBN 978-3-88414-423-7. 29,90 EUR.
Edition Narrenschiff.

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Thema und Hintergrund

Sexualstraftäter und der gesellschaftliche Umgang mit ihnen ist seit zwanzig Jahren ein hitzig diskutiertes Thema. Diskussionen um Todesstrafe, um „Wegsperren – und zwar für immer“, oder um Kastrationen wie jüngst in Tschechien geistern durch Talk-Shows und Stammtische. Dabei sind Sexualstraftaten mit etwa 1% nur ein winziger Teil der Kriminalität, machen aber zusammen mit Gewaltdelikten die Hälfte der Berichterstattung aus. Viele Bürger glauben deshalb, die Zahl der Taten nehme erheblich zu – was nicht stimmt. Richter und Staatsanwälte, Therapeuten und Gutachter verrichten ihre Arbeit mehr und mehr unter dem Druck dieser öffentlichen Meinung.

Prof. Dr. Andreas Marneros ist Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Halle. Er ist seit Jahrzehnten als Arzt und als forensischer Sachverständiger vor Strafgerichten tätig. In dieser Funktion hat er hunderte dieser Täter untersucht. Sein heute rezensiertes Buch erschien bereits vor zehn Jahre in einer ersten Auflage, damals unter dem kürzeren Titel „Sexualmörder. Eine erklärende Erzählung“. Bereits in diesem ersten Werk von 1997 versuchte Marneros die Debatte um Sexualstraftäter zu versachlichen. Er konnte deutlich machen, mit welch heftigen Gefühlen man konfrontiert wird, wenn man Sexualmörder zu begutachten hat. Die deutlich erweiterte dritte Auflage des Buches aus dem Jahr 2007 habe ich mit Gewinn neu gelesen.

Aufbau und Inhalt

Sexualmörder, Sexualtäter, Sexualopfer ist weniger ein Fachbuch als ein Sachbuch – und zwar ein spannendes. Es geht wirklich um eine Erzählung, die man ungern aus der Hand legt, bevor man sie zu Ende gelesen hat. Anton, Bern, Christian, David… Uwe, Volker, Winfried, Xavier, Yvonne, Zacharias – für jeden Buchstaben im Alphabet hat Marneros in einem Kapitel eine Fallgeschichte aus seiner Praxis als forensischer Gutachter geschrieben. Er versucht seinen Lesern detailliert, faktenreich und dabei ruhig schwere Sexualdelikte und die dahinter stehende Dynamik nahezubringen und dabei anhand von Lebensgeschichten zu beleuchten, wer die Täter sind und was sie antreibt. Beinahe nebenbei können interessierte Leser erfahren, worum es vor Gericht geht und was die Rechtsfolgen von Taten sein können. Er berichtet darüber, was mit Tätern geschieht, wenn die Strafgerichte ihr Urteil gesprochen haben. Sein thematischer Bogen beginnt bei Störungen und Diagnosen, die hinter den Delikten stehen, geht über Fragen der Schuldfähigkeit, der Behandelbarkeit bis zur Problematik der Lockerungsprognose. Er schildert Tötungsdelikte vor dem Hintergrund von aggressiven, von (sehr seltenen) kannibalistischen und (viel häufigeren) selbstunsicheren Störungen. Er beschreibt Perversionsbildungen, aber auch Delikte, die nicht tödlich für die Opfer ausgingen und erzählt auch über die Geschädigten von Sexualdelikten. Marneros macht deutlich, dass eine Reihe von Tätern früher auch Opfer anderer Täter waren, ohne dass er hieraus ableitet, jeder Täter sei früher selbst missbraucht oder vergewaltigt worden.

Das Buch zeigt deutlich, dass Sexualmorde völlig unterschiedliche Tathintergründe haben und dass man Kindesmissbraucher nicht über einen Kamm scheren kann. So wird über junge neofaschistische Schläger berichtet, die gemeinsam ein Sexualdelikt begehen. Es geht dabei am wenigsten um eine Triebtat, sondern Sexualität wird als Mittel von Demütigung und Unterwerfung benutzt; zugleich wirft die Fallgeschichte einen Blick auf die Beziehung mehrerer Täter untereinander. Auch Täterinnen tauchen in Marneros Erzählungen auf; zwar ist die übergroße Mehrheit der Täter Männer, aber es gibt eben auch Frauen unter ihnen. Dass es den Sexualstraftäter nicht gibt, klingt banal, ist aber angesichts vereinfachender Diskussionen und dem Ruf nach (scheinbar) einfachen Lösungen selbst in Fachkreisen ein Hinweis, der immer wieder gemacht werden muss. Marneros erliegt nicht der Versuchung, Sexualdelinquenten zu dämonisieren. Geduldig und mit allen notwendigen Details schildert er nachvollziehbar, wie es zu Delikten gekommen ist. Ohne zu bagatellisieren, bringt er den Lesern Motive und Tathintergründe nahe. Die Aufzählung schrecklicher Kinderschicksale aus Täterbiographien macht deutlich, wie früh sinnvolle Präventionsmaßnahmen ansetzen müssten. Marneros´ Ärger wird spürbar, wenn man absehbare Wiederholungstaten hätte vorhersehen können, sich aber aus unterschiedlichen Motiven nicht zu einer sachgemäßen Entscheidung hat durchringen können oder wollen. Ob es um mangelhafte Gutachtenpraxis in der ehemaligen DDR ging oder um Nachlässigkeiten der bundesdeutschen Justiz, ob sich mehrere Gutachten widersprechen oder Richter völlig ohne Gutachter zu Entscheidungen kamen – oft mussten weitere Opfer diese fehlerhaften Entscheidungen mit ihrem Leben bezahlen.

Marneros macht aber auch das Elend deutlich, das aus falschen wie richtigen Unterbringungsentscheidungen entsteht. Immer wieder scheint seine Auffassung durch, dass Sexualstraftäter einer Behandlung bedürfen. Er hat – eine Seltenheit heutzutage – auch einen Blick dafür, wie sehr die Täter unter den Bedingungen von Haft, Sicherungsverwahrung und Maßregelvollzug leiden, vor allem wenn zeitlich kein Ende absehbar ist. Nüchtern muss er an einigen Stellen konstatieren, dass man Patienten hätte entlassen können, aber dass zu lange Unterbringungszeiten für eine Hospitalisierung gesorgt haben, bei der Gutachter trotz eines schalen Gefühls eine Entlassung nicht mehr empfehlen können. Für Leser, die schnelle und einfache Problemlösungen für möglich halten, bietet Marneros Buch Stoff zum Nachdenken. Es bietet auch Fachfremden einen guten Gesamtüberblick über die Problematik der Sexualdelikte. Es ist für Interessierte aus verwandten Berufsgruppen verständlich und gut lesbar.

Zielgruppen

Sozialpädagogen, Psychologen und Ärzte, Beschäftigte der forensischen Psychiatrie, der Straffälligenhilfe und der Strafrechtspflege.

Fazit

Marneros Buch ist zum Einstieg in die Thematik sehr gut geeignet. Häufigere Störungsbilder, aber auch seltene Delikte und Perversionen werden erläutert, was Lesern hilft, einen Überblick über die Spannweite des Themas zu erhalten. Die Sprache ist lebendig und anschaulich, die Erklärungen komplexer psychiatrischer und juristischer Sachverhalte auch für Interessierte aus anderen Berufsgruppen – z. B. Polizisten und Juristen – und für interessierte Laien gut verständlich.

Rezension von
Dr. biol. hum. Michael Stiels-Glenn
Kriminologe & Polizeiwissenschaftler M.A.
Integrativer Therapeut M.Sc.
Supervisor (DGSv)
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Es gibt 11 Rezensionen von Michael Stiels-Glenn.

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ISSN 2190-9245