Barbara Ortland: Behinderung und Sexualität
Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 04.11.2008
Barbara Ortland: Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2008.
164 Seiten.
ISBN 978-3-17-020373-0.
24,00 EUR.
CH: 48,50 sFr.
Reihe: Heil- und Sonderpädagogik.
"Es ist normal, verschieden zu sein."
Mit diesem Leitwort Carl Friedrich von Weizsäckers haben Sonderpädagogik und Behindertenbewegung in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ihr neues Selbstverständnis markiert. So genannte "Behinderungen" werden nicht länger nur als Normabweichungen definiert, sondern Verschiedenheit im Sinne von Vielfalt ist Ausgangspunkt für pädagogische Überlegungen und das gestärkte Selbstbewusstsein der betroffenen Menschen.
Ganz klar, dass dabei auch Sexualität als ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Identität nicht ausgeklammert wird. Für die Sexualpädagogik bedeutet das, eine optimale Entwicklung angesichts der individuellen Beeinträchtigungen zu unterstützen. Das funktioniert aber nur, wenn förderliche Bedingungen und wesentliche Einflussfaktoren bekannt sind. Genau dies will das Buch von Barbara Ortland erreichen: Es informiert über die Grundlagen, behinderungsspezifische Faktoren und die fördernden Bedingungen einer gelingenden Sexualpädagogik mit Menschen mit Körperbehinderung.
Autorin
Barbara Ortland ist Privatdozentin am Lehrstuhl Rehabilitation und Pädagogik bei Körperbehinderung an der Universität Dortmund. Die Autorin kann zahlreiche Veröffentlichungen im Bereich Sexualpädagogik mit Menschen mit Behinderungen vorweisen. Frau Ortland ist zudem Leiterin des Forschungsprojektes "Kompetente, integrierende Sexualpädagogik für Menschen mit körperlicher Schädigung an der Förderschule" (KiSS).
Aufbau und Inhalt
Der Textteil des Buches entfaltet das Thema stringent in mehreren aufeinander aufbauenden Kapiteln:
Beginnend mit den "Einleitenden Ausführungen" wird ein relationales Modell von Behinderung und Sexualität eingeführt. Damit lenkt die Autorin den Blick weg vom medizinischen Störungsbild hin zu funktionalen Aspekten und gesellschaftlicher Partizipation.
Der Begriff "Sexualität" wird dann im gleichnamigen zweiten Kapitel aus medizinischer, psychoanalytischer und soziologischer Perspektive erörtert. Ortland vertritt ein Verständnis des Begriffes, der weit über die rein genitale Sexualität hinausgeht und verschiedene Ebenen, von der Identität bis hin zum Lustaspekt, besitzt.
Im dritten Kapitel, "Einflüsse auf sexuelles Erleben bei Menschen mit Behinderung", stellt die Autorin dar, welche funktionalen Auswirkungen verschiedene Schädigungskomplexe von Körperbehinderungen auf die Sexualität der Betroffenen haben. Gemäß der relationalen Perspektive besitzen neben den körperlichen auch gesellschaftliche Faktoren einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Sexualität von Menschen mit Behinderung, wie Ortland ausführt.
Daran schließt sich logischerweise die Frage für Kapitel 4 an: Wie verläuft eigentlich "Die sexuelle Entwicklung bei Kindern mit und ohne Behinderung"? Angesichts der Crux einer heterogenen Zielgruppe und mangelnder Forschungsergebnisse für Menschen mit Körperbehinderung nähert sich die Autorin dem Thema dann über eine feinschrittige Analyse der sexuellen Entwicklung nichtbehinderter Kinder, die sie durch mögliche Entwicklungserschwernisse augrund von Behinderungen ergänzt. Dabei fokussiert sie insbesondere die ersten sechs Lebensjahre.
Ähnlich geht Ortland dann im fünften Kapitel vor, mit dem Unterschied, dass sie für diese Altersgruppe bestimmte Entwicklungsaufgaben beschreibt, und zwar nach einem entwicklungspsychologischen Modell, welches Robert Havighurst - allerdings bereits weit vor 1972 – als "developmental tasks" bezeichnete. Hiermit hebt die Verfasserin das enge Zusammenwirken sozialer und biologischer Faktoren hervor; ein wesentlicher Gedanke beispielsweise auch für Erik H. Eriksons psychosoziale Entwicklungstheorie. In diesem fünften Kapitel werden zwei fundamentale sexuelle Entwicklungsaufgaben des Jugendalters beschrieben, die dann durch die Perspektive der Körperbehinderung vertieft werden. Da neben einer Körperbehinderung auch häufig noch eine kognitive Beeinträchtigung auftreten kann, ergänzt Ortland die Darstellung mit Ausführungen zur sexuellen Entwicklung von Menschen mit geistiger Behinderung.
Wie der Name schon sagt, bringt das sechste Kapitel, "Zusammenfassende Begründung einer behinderungsspezifischen Sexualerziehung", eine knappe Auflistung der bereits herausgearbeiteten Faktoren, die eine spezifische Sexualpädagogik erforderlich machen, einschließlich der potentiell ambivalenten Einflussfaktoren auf Ebene der Erwachsenen und der Schule.
Wenn es dann im siebten Kapitel um die Skizzierung einer "Sexualerziehung bei Menschen mit Behinderung" geht, wird klar, dass diese mit der Selbstreflexion der Erziehungspersonen beginnen muss, das Elternhaus einzubeziehen hat und dabei offen und kompetenzorientiert – nicht defizitär oder restriktiv - erfolgen sollte. So gelangt Ortland zur Darstellung ihres Konzeptes der "kompetenten, integrierenden Sexualpädagogik" (KiS). Diese erfordert eine Kompetenzerweiterung auf Seiten der Lehrkräfte ebenso wie der Eltern und wird spiralcurricular von der Primarstufe bis in die Sekundarstufe entfaltet. Die Autorin untermauert einzelne Aspekte durch Ergebnisse ihrer – 2005 veröffentlichten - empirischen Forschungsarbeit an Förderzentren für Schüler/innen mit Körperbehinderung.
Das achte Kapitel widmet Ortland den "Übergreifenden Aspekten der Sexualerziehung bei Menschen mit Behinderung": dem Schutz vor sexuellen Übergriffen durch Erwachsene, durch Gleichaltrige oder im Internet sowie relevanten Aspekten der körpernahen Pflegesituation und der Auseinandersetzung mit dem eigenen Behinderungsbild.
Mädchen, homosexuelle Schüler/innen und solche mit schwerster Behinderung sind dann die "ausgewählten Adressatengruppen der Sexualerziehung", die im neunten Kapitel mit ihren spezifischen Inhalten entfaltet werden.
Neben einem marginalen 10. Kapitel als "Schlusswort" bietet das Buch ergänzend zum Textteil ein umfangreiches Literaturverzeichnis.
Im Anhang finden sich eine Reihe von Impulsfragen, die zur Reflexion der "sexuellen Biografie" genutzt werden können, eine Anregung zur Abfrage von sexualpädagogischen Themen für die schulinterne Fortbildung und eine ausführlich kommentierte Liste mit knapp 40 hilfreichen Adressen (Institutionen und Internetangebote).
Zielgruppe
Das Buch ist vor allem für Personen geeignet, die Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Köperbehinderung begleiten, sei es an Schulen, in Wohneinrichtungen oder in Beratungsinstitutionen. Ihnen bietet das Buch umfangreiches Hintergrundwissen. Fachwissenschaftlich Interessierten, beispielsweise Studierenden der Sonderpädagogik, liefert die Veröffentlichung einen umfassenden Überblick über die Grundlagen und behinderungsspezifische Forschungsergebnisse und bietet ihnen den sonderpädagogischen „state of the art“ der Sexualpädagogik.
Diskussion
Auch wenn der Titel: "Behinderung und Sexualität" sehr umfassend klingt, sollte man ehrlicherweise sagen, dass die behandelte Thematik im engeren Sinne die Sexualität von Menschen mit Köperbehinderung betrifft, auch wenn eine geistige Behinderung mit berücksichtigt wird. Diese Einschränkung schmälert aber die Bedeutung des Buches nicht wirklich. Liegt mit dieser Veröffentlichung für diese Zielgruppe doch eine umfassende, sauber komponierte und fachlich fundierte Darstellung vor.
Dem Anliegen entsprechend ist der Schreibstil sachlich-informativ. Ob man dabei soweit gehen muss, den Begriff "Geschlechtsverkehr" streckenweise durch "GV" zu ersetzen (S. 54ff.) sei mal dahingestellt. Den Aufbau des Buches fand ich sachlogisch gut durchdacht und zur Durchdringung des Themas geeignet.
Inhaltlich ist es aus meiner Sicht nicht nur die Einbettung der Sexualität in die gesamte Persönlichkeit, die es hier besonders herauszuheben gilt, sondern die kompetenzorientierte, optimistische Wahrnehmung der Schüler/innen. Auch die besondere (nicht nur lapidar geforderte) Verpflichtung der Erziehungspersonen zur Selbstreflexion und die Einbeziehung der Eltern fallen hier positiv auf, selbst wenn die Rolle letzterer eine ausführlichere Würdigung erfahren könnte. Ebenso die Darstellung der Schüler/innen mit schwerster Behinderung als spezielle Zielgruppe ist ein erfreulicher Aspekt. Auch "heiße Themen" wie beispielsweise Homosexualität und Selbstbefriedigung werden im Buch nicht ausgeklammert.
Wie der Untertitel "Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik" bereits andeutet, darf man Unterrichtsrezepte allerdings nicht erwarten. Angesichts des hohen Individualisierungsgrades gerade in dieser Frage würde ich auch tippen, dass die Autorin dies nicht für sinnvoll erachtet. Zweitens gibt es dafür bereits didaktisches Material. Trotzdem entbehrt das Buch nicht des praktischen Nutzwertes: Ich kann es mir beispielsweise als Lektüre in Kollegien und Teams vorstellen, die an einer sexualpädagogischen Konzeption arbeiten und sich notwendiges Hintergrundwissen aneignen möchten.
Fazit
Barbara Ortland hat mit ihrem Buch ein zeitgemäßes, fachlich fundiertes Grundlagenwerk zur Sexualpädagogik mit Menschen mit Körperbehinderung vorgelegt. Neben einer grundlegenden Orientierung bietet es auch erfahrenen Pädagog/innen eine differenzierte Perspektive auf die Thematik.
Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 04.11.2008 zu:
Barbara Ortland: Behinderung und Sexualität. Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2008.
ISBN 978-3-17-020373-0.
Reihe: Heil- und Sonderpädagogik.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6780.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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