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Heiko Boumann: Diagnose: Störung des Sozialverhaltens

Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 04.02.2009

Cover Heiko Boumann: Diagnose: Störung des Sozialverhaltens ISBN 978-3-89806-850-5

Heiko Boumann: Diagnose: Störung des Sozialverhaltens. Kinder- und Jugendpsychiatrie unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2008. 332 Seiten. ISBN 978-3-89806-850-5. 39,90 EUR.
Reihe: Forschung psychosozial.

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Thema

Störungen des Sozialverhaltens sind gekennzeichnet durch ausgeprägtes dissoziales Verhalten, wie schwere Formen des Ungehorsams, Aggressionen, Grausamkeit und Delinquenz. Während sie quantitativ die häufigste Diagnose in der Kinder- und Jugendpsychiatrie darstellen, erfahren sie im Vergleich zu Essstörungen oder dem Symptomkomplex ADHS relativ wenig öffentliches Interesse.

Außer, wie der hessische Wahlkampf 2008 zeigte, wenn sie auf der politischen Bühne – beispielsweise in der Forderung nach härteren Jugendstrafen – instrumentalisiert werden. Dieser plakativ verkürzenden Sichtweise begegnet Heiko Boumann mit seinem Buch: Dort vertritt er im Gegenteil die These, dass unsere Gesellschaft, die einerseits mit härteren Gesetzen und "Null Toleranz" sozial deviante Jugendliche ausgrenzen will, an der Hervorbringung ihres Verhalten beteiligt ist. Darum sei es aus seiner Sicht auch angebracht, das Störungsbild in seiner soziologischen Dimension wahrzunehmen.

Autor

Der Autor, Heiko Boumann, ist Psychotherapeut, Analytischer Paartherapeut und Diplom-Sozialpädagoge. Beruflich ist er zudem als Sozialarbeiter an einer hessischen Einrichtung der Kinder- und Jungendpsychiatrie, in der Erziehungsberatung sowie der ambulanten Jugend-, Drogen- und Suchthilfe tätig. Ein Interessenschwerpunkt Boumanns gilt der kritischen Sozialpsychologie. Neben dieser Veröffentlichung hat der Autor bereits einige zum Teil viel beachtete Beiträge zur Sozialpsychologie in Geschichte und Gegenwart verfasst.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in vier Teile:

  1. In der sehr knapp gefassten Einleitung, in welcher das Thema in die Grauzone "zwischen psychiatrischem Störungsbild und soziologischem Tatbestand" (Seite 8) verortet wird, umreißt der Autor kurz den Gang durch die Thematik.
  2. Anschließend bringt das umfängliche Kapitel 2 eine "Beschreibung, Ätiologie und Therapie der Störung des Sozialverhaltens". Dabei geht der Autor zunächst ganz "klassisch" deskriptiv vor: Zunächst beschreibt Boumann die Untergruppen der Störung nach dem ICD-10 und stellt sie im Vergleich zu zwei weiteren diagnostischen Manualen dar. Insgesamt bietet das zweite Kapitel in ausführlicher Form die Merkmale und differentialdiagnostischen Kriterien sowie eine Übersicht über die wissenschaftlich diskutierten Ursachen, gängige Erklärungsmodelle und Behandlungsformen. Ein umfängliches Fallbeispiel eines 14jährigen Jugendlichen aus der eigenen Arbeit ergänzt die Darstellung. In der anschließenden Diskussion reißt der Autor verschiedene Problematiken des Störungsbildes aus therapeutischer Sicht an, darunter Aspekte der Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Stärker von Belang für den Fortgang des Buches ist allerdings die Beobachtung, dass soziales Verhalten im Grunde eine gesellschaftlich und kulturell variable Größe darstellt. Eine Beobachtung, die nach Ansicht des Autors durch das bio-psycho-sozialen Modell nur unzureichend erklärt werde. Was Boumann dann dazu berechtigt, "den zu Grunde gelegten Kernkonflikt der dissozialen Störung, also den zwischen Autonomie und Abhängigkeit, soziologisch zu erweitern" (s. 101f.).
  3. Damit ist die Brücke geschlagen zu dem mit rund 200 Seiten umfangreichsten Kapitel über die "Störung des Sozialverhaltens als »social sicknesss« – psychische Störung als Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Bedingungen von Kindern und Jugendlichen". Hierin wartet der Autor mit umfänglichen empirisch gesicherten Daten auf, um seine These der soziologischen, eigentlich sozio-ökonomischen, Mit-Verursachung des Störungsbildes zu untermauern. Als Systematik dient Boumann dabei die Kapital-Theorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. Dieser unterscheidet in seiner konstruktivistischen Konzeption der Erzeugung sozialer Wirklichkeit drei verschiedene Arten gesellschaftlich erzeugten Kapitals, die Boumann als soziologische Systematik des Störungsbildes heranzieht: "ökonomisch", "sozial" (Netzwerke) und "kulturell" (Bildung, Beruf). Diese Einteilung, die der Autor um die Dimensionen "symbolisch" (Konsumstile, Mediennutzung) und "Gesundheit" erweitern wird, bietet in diesem Kapitel den Leitfaden, um die sozio-ökonomischen Risikofaktoren der so genannten "Störungen des Sozialverhaltens" zu identifizieren. Jede der nunmehr fünf Kapitalformen wird durch umfangreiche aktuelle demografische Daten und einschlägige Studien vertieft. In der umfangreichen Diskussion vermeidet Boumann den Rückgriff auf kurzschlüssige Mechanismen, verweist aber auf die frappante Ähnlichkeit von so genannten Risikofaktoren für Störungen des Sozialverhaltens und den Befunden der soziologischen "Kapital-Dimensionen". Ferner sieht er aufgrund der soziologischen Analyse zwar keinen Automatismus, wohl aber ein mehrfaktoriell wirkendes Risikogefüge für bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen, einschlägige Störungsbilder zu entwickeln. Als Konsequenzen daraus leitet er einige Überlegungen zur Arbeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ab, insbesondere die Forderung, die sozio-ökonomischen Kapitaldimension explizit im diagnostisch-therapeutischen Profil zu nutzen. Wieder stärker theoretisch widmet sich der Autor vor dem Hintergrund der Ergebnisse dem Zusammenhang von seelischer Krankheit und Gesellschaft. Generell geht es dabei um die Frage, wie angesichts eines zunehmend de-sozialeren gesellschaftlichen Klimas überhaupt noch sinnvoll von einer Störung des Sozialverhaltens gesprochen werden könne. Dabei analysiert Boumann unter anderem die sich verändernde Formalitäts-Informalitäts-Spanne (Norbert Elias) im gesellschaftlichen Umgang, den zunehmenden Einfluss einer neoliberal-ökonomisch geprägten Selbstkompetenz und das Phänomen sozialer "Atomisierung", Verschiebung von Schamgrenzen und die objektivierende Sprache einer marktorientierten Gesellschaft.
  4. Im Resümee (Kapitel 4) fasst der Autor die wesentlichen Erkenntnisse seiner Arbeit noch einmal zusammen. Dabei legt er erwartungsgemäß den Fokus auf die überindividuellen Bedingungslagen der Störungen des Sozialverhaltens. Wichtigste Aussage ist wohl die Feststellung, dass sich dessen Risikofaktoren aus soziologischer Perspektive "geradezu als Verarbeitung einer sozial deprivierten Lebenslage" (S. 308) erweisen.

Zielgruppe

Das Buch eignet sich aufgrund seiner detaillierten Darstellung vor allem für Studierende und Lehrende aus den Bereichen Soziologie, Sozialpädagogik/Erziehungswissenschaft, Psychologie oder Psychiatrie. Praktiker/innen aus den genannten Bereichen, die sich um eine reflektierte Standortbestimmung ihrer Arbeit bemühen, werden das Buch mit Gewinn lesen.

Diskussion

Es ist das Anliegen des Buches, in einer "Grauzone" zwischen individuellem Störungsbild und soziologischem Tatbestand den Zusammenhang von gestörtem Individuum und gesellschaftlich erzeugten Risikofaktoren herzustellen. Sicherlich ist die soziologische Dimension kein überraschendes Novum in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, insbesondere wenn es um Störungen des Sozialverhaltens geht. Ebenso wie das systemtheoretische Paradigma in der Sonderpädagogik, welches anlässlich der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen neues öffentliches Interesse zu erfahren scheint.

Es ist jedoch das besondere Verdienst Boumanns, diesen Ansatz in Bezug auf das Störungsbild konsequent empiriebasiert und theoretisch anspruchsvoll darzustellen. Der Autor hat mit dem Kapital-Modell Bourdieus eine ebenso intelligente wie griffige Systematik für eine unübersichtliche Datenlage gewählt, was wesentlich dazu beiträgt, dem eher schwammigen Begriff der "gesellschaftlichen Einflüsse" klare Konturen zu geben.

Zur Untermauerung seiner Kernhypothese bedient sich Boumann eines reichhaltigen Fundus‘ an demografischen Daten und empirischen Studien, die er teilweise auch recht dezidiert darlegt. Weil diese Daten meistens nicht spezifisch auf die Personengruppe mit einer Störung des Sozialverhaltens zugeschnitten sind, sondern allgemeinen demografischen Charakter tragen, war ich trotz der interessanten Details gelegentlich von der Fülle regelrecht „erschlagen“. Es gelingt Boumann jedoch, auch nach längeren statistischen Exkursen, die Kurve zu kriegen, sprich: zusammenfassende Schlussfolgerungen im Blick auf die Kernhypothese zu ziehen. Was diese Schlussfolgerungen betrifft, so ist ihre Reichweite meines Erachtens eher noch zu kurz. Nicht nur, dass Konsequenzen für die Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu ziehen wären, hier sind auch sozialpolitische Entscheidungen im Sinne der Prävention zu treffen.

Darüber hinaus finde ich die Umsicht begrüßenswert, mit welcher Boumann die Befunde seiner Untersuchung verallgemeinert. Was daran liegt, dass weder die Form der Analyse noch die Datenlange dazu berechtigen, einen einfachen Wirkungszusammenhang von der sozio-ökonomischen Dimension auf das Individuum zu postulieren. Ferner reduziert der Autor das Störungsbild nicht auf rein gesellschaftliche Ursachen oder bloße Symptomzuschreibungen eines psychiatrischen Systems, jedoch sind Ähnlichkeiten zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und psychiatrisch relevanten Risikofaktoren nicht von der Hand zu weisen. Neben dem starken Bezug auf empirische Daten hat mich jedoch auch deren profunde Einbettung in soziologische Modelle und Interpretationen beeindruckt, was den empirischen Befunden einen interessanten Deutungsrahmen und eine ungewöhnliche Perspektive auf das Thema gewährt. Dennoch empfand ich den gut lesbaren Schreibstil an keiner Stelle abgehoben, sondern man kann dem Autor die praktische Arbeit und den Bezug zur Lebenswelt seiner Klientel anmerken.

Fazit

Insgesamt hat Heiko Boumann ein ebenso intelligentes wie interessantes Buch geschrieben, das die vielfältigen gesellschaftlichen Einflüsse auf ein scheinbar individuelles Störungsbild sichtbar macht.

Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.

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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 04.02.2009 zu: Heiko Boumann: Diagnose: Störung des Sozialverhaltens. Kinder- und Jugendpsychiatrie unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2008. ISBN 978-3-89806-850-5. Reihe: Forschung psychosozial. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6803.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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