Nicole Busse: Der Kinder- und Jugendzirkus [...]
Rezensiert von Lorena Rautenberg, 02.07.2009
Nicole Busse: Der Kinder- und Jugendzirkus als erlebnispädagogischer Lern- und Erfahrungsort. Theoretische Hintergründe.
Edition Erlebnispädagogik
(Lüneburg) 2008.
124 Seiten.
ISBN 978-3-89569-077-8.
11,50 EUR.
Schriftenreihe kleine Schriften zur Erlebnispädagogik - Band 39.
Thema und Aufbau
In ihrem Buch befasst sich Nicole Busse mit den Möglichkeiten, welche die Zirkuspädagogik für die Schule bietet. Sie leitet zunächst die Zirkuspädagogik als einen Teilbereich der Erlebnispädagogik ab und stellt so die wissenschaftliche, theoretische Basis her, welche als Rechtfertigung und Begründung für Zirkusprojekte in der Schule dienen soll. Nach einer allgemeinen Darstellung des Zirkus und seiner Geschichte sowie einer Darstellung der pädagogischen Aspekte der Zirkusarbeit stellt Busse den Kinder- und Jugendzirkus Mignon aus Hamburg vor; abschließend ergänzt sie ihre Ausführungen mit einem Erfahrungsbericht über die Durchführung eines Mitmachzirkusprojekts an einer Schule bei Stuttgart.
Entstehungshintergrund
Nicole Busse, die selbst Lehramt studiert hat, befasste sich nach der Teilnahme an einem Seminar zur Zirkuspädagogik bei Prof. Dr. Ziegenspeck auch im Rahmen ihrer Examensarbeit mit diesem Thema. Sie war nach dem Seminar von den Inhalten und pädagogischen Möglichkeiten dieses Bereichs überzeugt und betrachtet in ihrem Buch nicht nur die theoretischen Hintergründe der Zirkuspädagogik und begründet so, weshalb Zirkusprojekte sinnvoll in der Schule eingesetzt werden können, sondern bringt auch ihre eigenen praktischen Erfahrungen ein, welche die tatsächliche Umsetzbarkeit der zirzensischen Arbeit in die Schule zeigen.
Inhalt
Das erste Kapitel beginnt mit einem Definitionsversuch von Erlebnispädagogik, wobei Busse auf die Problematik einer allgemein anerkannten Definition und einer Begriffsklärung des Wortes Erlebnis an sich eingeht. Festgehalten wird, dass Erlebnis immer etwas Aktives ist, im subjektiven Empfinden des Individuums verankert, wobei ein Erlebnis erst dann pädagogisch wird, wenn es reflektiert wird und auf Grund dessen eine Verhaltensänderung in den Alltag transportiert. Wenn es auch nicht die Definition für diese Phänomene liefert, so befasst sich das erste Kapitel doch weiter mit der Bedeutsamkeit erlebnispädagogischer Arbeit in der Zeit der veränderten Kindheit und der gelenkten Bedürfnisbefriedigung der Kinder und Jugendlichen nach Abenteuern und Risiko in einer Gesellschaft, die das persönliche Risiko und direkte Erlebnisse durch Medienberichterstattung und zahlreiche Sicherheitsmaßnahmen weitgehend ausgeschaltet hat. Daran schließt sich ein kurzer historischer Abriss über Platon und Rousseau , Pestalozzi, Thoreau, Dewey, die Reformpädagogik bis hin zu Kurt Hahn als dem Begründer der heutigen Erlebnispädagogik an, die Problematik der Erlebnispädagogik im Dritten Reich wird beschrieben und schließlich ihre Wiederentdeckung in der Gegenwart, besonders auch als Einsatzmöglichkeit in der Schule, geschildert.
Im zweiten Kapitel geht es der Autorin
um den Zirkus als Institution und seine historischen
Wurzeln sowie die theoretische Verankerung der Zirkuspädagogik
als Teildisziplin der Erlebnispädagogik. Ein Phänomen des
Zirkus ist es, dass er in veränderter Form bereits in der Antike
existierte und sein Publikum unterhielt, durch gesellschaftlichen
Wandel sowie die Weltkriege jedoch mehr als einmal für tot
erklärt worden war. Immer wieder erwachte der Zirkus, dann
angepasst an die neuen Bedürfnisse des Publikums, zum Leben, bis
die heute bekannte Form entstanden war. Durch die Jahrhunderte, sagt
Busse, zieht sich die
Faszination, welche der Zirkus immer auf sein Publikum ausübte.
Die Zirkuspädagogik als solche wird zurückgeführt
auf Pater Flanagan aus Nebraska, der 1920 heimatlosen Jungen
nach dem Ersten Weltkrieg eine Zuflucht bot und gemeinsam mit den
Kindern durch Zirkusvorführungen das Geld zum Unterhalt seiner
Zufluchtstätte zu verdienen versuchte. Obwohl dieses Projekt
scheiterte, fand es immer weitere Nachahmer, welche die Chancen der
Zirkusarbeit, einen Zugang zu den Kindern zu finden, erkannt hatten,
bei dem das klassische Autoritätsverhältnis weitgehend
abgebaut war. Die Erwachsenen fungieren in der Zirkusarbeit als
Partner und Begleiter, welche den Kindern helfen, sich in einer
zirzensischen Disziplin zu üben, die jedoch nicht die
klassische, in fast jeder Hinsicht bzgl. Wissens- und
Handlungskompetenzen überlegene Autoritätspersonen sind. So
ist eine weitgehend freie Entfaltung der Selbstkompetenzen der Kinder
viel leichter möglich.
>Dadurch, dass im Zirkus eine große
Vielfalt an Disziplinen und Aufgaben bestehen, kann jeder den frei
gewählten, zu ihm passenden Platz einnehmen und sich dort
entfalten. Durch das Hinarbeiten auf ein gemeinsames Endziel –
die Aufführung – hat Zirkuspädagogik immer auch
ernsthaften Charakter, und eine
Motivation von außen ist meist nicht nötig, nicht zuletzt
auch deshalb, weil in der Zirkuspädagogik jeder selbst sein Ziel
auswählt.
Durch die körperliche Schulung und den
damit verbundenen Zuwachs an Körperbeherrschung und
Selbstvertrauen, zugleich aber auch die nötige Zusammenarbeit
auf das gemeinsame Ziel hin, erfüllt die Zirkuspädagogik
eine Vielzahl von pädagogischen Anforderungen der heutigen Zeit.
Es werden neben Kernkompetenzen wie sozialer Kompetenz, Ich-Kompetenz
und Sachkompetenz noch eine Vielzahl von weiteren Fähigkeiten
fast nebenbei gefördert, was mit anderen pädagogischen
Maßnahmen nur schwierig und nicht in dieser Vielzahl möglich
ist. Zusätzlich kommt noch ein therapeutischer Aspekt in der
Zirkuspädagogik hinzu, der sich ebenfalls weitgehend von selbst
ergibt. Seit Anfang der 90er Jahre wird
die Zirkuspädagogik zunehmend in die (Sport-)Lehrpläne der
Schulen integriert, jedoch weist das Buch darauf hin, dass
zirzensische Arbeit auch fächerübergreifend möglich
ist.
Das dritte Kapitel schildert die
Entstehung des Kinder- und Jugendzirkus Mignon aus Hamburg von
seiner Gründung 1992 als ursprünglich therapeutisches
Angebot im Rahmen des Instituts Haus Mignon
(einer Einrichtung für ambulante Heilpädagogik) über
seine Ablösung von diesem Institut 1996 bis hin zu seiner
heutigen Form und Größe. Die Autorin berichtet, dass der
Initiator des Zirkusprojekts Martin Kliewer mittlerweile
Zirkusdirektor des Circus Mignon ist.
Im Laufe der
Entwicklung öffnete der Zirkus seine Türen sowohl für
behinderte wie auch nicht-behinderte Kinder. Die ursprüngliche
Bezeichnung ‚integratives Kinder- und Jugendprojekt‘
wurde allerdings auf Wunsch der Kinder nunmehr in ‚Kinder- und
Jugendprojekt‘ verändert, denn in der Wahrnehmung der
Kinder bestand kein Unterschied mehr zwischen den behinderten und
nicht-behinderten Kindern. Eine weitere große Besonderheit ist,
dass der Circus Mignon keine öffentlichen Fördergelder
bezieht, sondern sich eigenständig über Spenden, Beiträge
und selbst erwirtschaftete Mittel finanziert und somit auch in diesem
Bereich Vorbildcharakter hat.
Das vierte Kapitel gibt den
Erfahrungsbericht der Autorin wider, den sie über ihre
eigene Teilnahme an einem Mitmachzirkusprojekt an einer Schule in
Schorndorf (Nähe Stuttgart) verfasst hat. Nicole Busse
war selbst eine von zwölf Betreuungspersonen, die das Projekt
durchführten und hatte so die Gelegenheit, selbst praktische
Erfahrungen in der Zirkuspädagogik zu sammeln.
Die
Schule hatte den Circus Mignon gebeten, eine Woche lang ein
zirkuspädagogisches Projekt durchzuführen, das ebenfalls
mit einer Aufführung abschloss. Organisiert und geleitet wurde
dies weitgehend durch den Zirkus, während die Schule im
Hintergrund blieb. Jeder Betreuer begleitete eine Untergruppe in
einer speziellen Disziplin bis zur Aufführung. Besonders
hervorgehoben wird in diesem Erfahrungsbericht die sich fast
automatisch ergebende Zusammenarbeit aller Einzelgruppen,
um eine gelungene Aufführung zu gestalten, sowie die hohe
Bereitschaft der Kinder, sich eine Woche lang auf anstrengendes Üben
und Arbeiten einzulassen.
Im Rückblick bewertet Busse
das Projekt als großen Erfolg, da neben dem Erlernen der
eigentlichen Zirkusdisziplin auch eine Vielzahl von weiteren
Lernprozessen im sozialen Bereich und eine Weiterentwicklung der
Persönlichkeit der Kinder stattgefunden hat.
Das Buch schließt ab mit einer inhaltlichen Zusammenfassung der wichtigsten Gedanken in vierzig Thesen.
Diskussion
Während das Buch in den beiden ersten Teilen sehr theorielastig ist, lässt der Erfahrungsbericht im vierten Teil manchmal die nötige Distanz einer wissenschaftlichen Darstellung etwas vermissen, ebenso wie die Darstellung des Circus Mignon, obwohl durch Bezugsquellen abgesichert, teilweise fast schwärmerisch wirkt.
Immerhin spiegelt das Buch die hohe innere Beteiligung seiner Autorin wider und vermittelt so ein wirklich gutes Bild der Begeisterung über die zirzensische Arbeit. Es wäre dennoch wünschenswert, dass der Erfahrungsbericht etwas mehr den wissenschaftlichen Kriterien entspricht, besonders, da im ersten Teil des Buches so viel Wert auf eine wissenschaftstheoretische Rechtfertigung der zirzensischen Arbeit in der Schule gelegt wurde. Es fehlt der Brückenschlag zwischen theoretischer Herleitung und praktischer Durchführung, welcher ein gewisser Maßstab für den pädagogisch messbaren Erfolg des Projekts sein könnte. Will man eine relativ neue Disziplin in der Schule verankern, ist das wissenschaftliche Belegen seiner pädagogischen Wirksamkeit jedoch unabdingbar.
Der Theorieteil des Buches ist einerseits unerlässlich, um die Wissenschaftlichkeit des Buches zu gewährleisten. Jedoch verfolgt er auf 30 Seiten einen sehr ehrgeizigen Anspruch, indem er die Erlebnispädagogik ihrem Begriff nach definieren und zugleich ihre historische Entwicklung darstellen will. So umfangreich dieses Thema ist, so schwierig ist es, es in solcher Kürze abzuhandeln. Vorausgesetzt, der Leser des Buches verfügt bereits über umfangreiche Vorkenntnisse in diesem Bereich, kann er den Ausführungen sicher folgen und feststellen, dass sie tatsächlich im Rahmen der Möglichkeiten fundiert sind. Leider bleiben sie aber etwas verloren stehen, da die Übertragung auf die Praxis bzw. die Auswertung fehlen.
Abgesehen von diesen inhaltlichen Kritikpunkten ist rein äußerlich anzumerken, dass Bindung des Buches und Schriftgröße nicht unbedingt leserfreundlich sind.
Fazit
Das Buch vermittelt sehr gelungen die Begeisterung und Freude an der zirzensischen Arbeit und macht Lust, es selbst auszuprobieren. Es ist ein Plädoyer für zirkuspädagogische Projekte in der Schule. Allerdings wird nicht klar, an wen sich das Buch richtet. Da der erste Teil große theoretische Kenntnisse voraussetzt und im weiteren Verlauf keine Hilfestellung für interessierte Lehrer oder Eltern gegeben wird, wie konkret ein Zirkusprojekt durchgeführt werden kann, ist es als Handbuch für pädagogisch Tätige wenig geeignet.
Als theoretische Fundierung zirkuspädagogischer Maßnahmen ist es ebenfalls nur eingeschränkt geeignet, da die Übertragung des Projekts auf die theoretisch erhobenen Ansprüche fehlt. Betrachtet man das Buch aber als Veröffentlichung einer Examensarbeit, die beides nicht notwendig leisten will und auch nicht kann, so kann es als Vorreiter für weitere Untersuchungen gelten und als Anregung verstanden werden, selbst ein zirkuspädagogisches Projekt zu initiieren.
Leider gibt das Buch selbst keine Auskunft darüber, welchen Anspruch es erhebt, so dass die Beurteilung dieser Frage jedem Leser selbst überlassen bleiben muss.
Rezension von
Lorena Rautenberg
Amtsleitung Amt für städtische Kindertageseinrichtungen
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