Tim Rohrmann: Zwei Welten? - Geschlechtertrennung in der Kindheit
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Büttner, 20.05.2009

Tim Rohrmann: Zwei Welten? - Geschlechtertrennung in der Kindheit. Forschung und Praxis im Dialog.
Budrich Academic Press GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2008.
426 Seiten.
ISBN 978-3-940755-14-8.
42,00 EUR.
Reihe: Erziehungswissenschaft.
Entstehungshintergrund
Um es gleich vorweg zu sagen: Das Buch ist die Dissertation eines Autors, der seit vielen Jahren als Praktiker im Bereich geschlechtsbewusster Frühpädagogik bekannt ist. Man muss sich also auf einen Text einstellen, der in erster Linie den Ansprüchen an eine wissenschaftliche Prüfungsarbeit genügt. Das Positive daran: Promovenden müssen in der Regel akribisch sammeln, von daher bietet das Buch einen umfassenden Überblick nicht nur über die wissenschaftliche Literatur, sondern auch über mögliche Teilfragestellungen zum Thema.
Thema
Rohrmanns Interesse gilt in erster Linie den Fragen: „Lernen Jungen ander(e)s als Mädchen? Braucht es eine geschlechtsspezifische Pädagogik? Sollten Mädchen und Jungen in der Schule und in Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe zumindest teilweise getrennt werden?“ Im klassischen Stil der Dissertation diskutiert er zunächst die vorhandene Fachliteratur, stellt dann ein eigenes Forschungsvorhaben vor, um abschließende Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ausgewählte Inhalte
Die Differenziertheit der Diskussion über die Bestandsaufnahme der Forschung und die Fülle an zitiertem und kommentiertem Material lässt sich in einer Rezension kaum würdigen. Ich gebe deshalb nur einige kleine Einblicke.
Tim Rohrmann stellt zunächst Forschungsarbeiten zur Geschlechtertrennung vor, einerseits Beobachtungsstudien, andererseits Befragungen von Kindern. Wie zu erwarten, wenn man sich mit der Diskussion von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen beschäftigt, gibt das Resümee in diesen, aber auch in späteren Kapiteln die uneinheitlichen, ja auch widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen wieder. Z.B.: „Die Ergebnisse der Befragungen von Kindern zeigen sich ähnlich uneinheitlich wie die Ergebnisse von Beobachtungsstudien“ (S. 58), jüngere Kinder bevorzugen tendenziell gleichgeschlechtliche Spielpartner, brauchen aber auch das jeweils andere Geschlecht, nicht zuletzt um sich ihrer eigenen geschlechtlichen Identität zu versichern. Die Erklärungsansätze für Geschlechtsunterschiede und das Miteinander von Mädchen und Jungen sind also zwangsläufig uneinheitlich und eher verwirrend als erhellend. Gleichwohl ist es durchaus interessant, die detaillierten Ergebnisse der Teilfragestellungen nachlesen zu können. Bei den Arbeiten zur pädagogischen Praxis sieht das Resümee kaum anders aus. Hier werden die bekannten Themen Männer und Frauen in der Arbeit mit kleinen Kindern sowie Mädchen und Jungen in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen wiederum sehr ausführlich präsentiert und diskutiert: „Es lässt sich zusammenfassen, dass die Erziehung kleiner Kinder einer der Bereiche ist, in dem die Geschlechtertrennung in der Erwachsenenwelt besonders deutlich hervortritt“ (S. 153, was die Problematik in der Fragestellung der Rohrmannschen Arbeit eher als eine der Erwachsenen erscheinen lässt und nicht unbedingt eine der Kinder). Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Präsentation der Ansprüche, die weibliche pädagogische Fachkräfte an männliche Kollegen haben: Sie müssen von Kindern begeistert sein und einen ganzheitlichen Ansatz zur Erziehung kleiner Kinder vertreten, müssen zuhören können und dürfen nicht arrogant sein, müssen teamfähig sein und Humor haben und müssen „richtige“ Männer sein und keine „Weicheier“ (S. 175).
Nicht überraschend sind Rohrmanns Ergebnisse der Sichtung von Bildungsplänen zur geschlechtsspezifischen Erziehung. In diesen Plänen werden lediglich Einzelpunkte genannt, ohne Konkretisierungen für die pädagogische Praxis bereitzustellen (S. 197), geschlechtsbewusste Erziehung gilt dort als Querschnittsaufgabe. Wenn aber in Bildungsplänen von solchen Querschnittsaufgaben die Rede ist, dann rangieren diese bei Praktikern meist vor pädagogischen Einzelanforderungen: „Querschnittsthema bedeutet, dass es hier und da mal auftaucht, aber dann kommt es nicht mehr vor“, so eine zitierte Aussage (S. 186).
Für seinen empirischen Teil hat Tim Rohrmann in Gruppendiskussionen mit pädagogischen und psychologischen Fachkräften versucht, die Ergebnisse seiner Literaturrecherche zu bewerten. Diese Diskussionen stellt er detailliert dar und bewertet sie insofern kritisch, als er einerseits seine eigene Verstricktheit in die Thematik geschlechtsspezifischer Erziehung und andererseits die Zusammenstellung der Diskussionsgruppen beleuchtet. Er bezieht sich damit auf ein Forschungsparadigma von Devereux (Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften), das den Zusammenhang von Forscher und Beforschtem als ein zentrales Problem von Humanwissenschaften diskutiert.
Rohrmann stellt fest, dass sich seine Ergebnisse der Literaturrecherche in der Expertendiskussion bestätigt haben. Was die Perspektivenvielfalt und die Tatsache betrifft, dass man hinterher kaum schlauer ist als vorher und dass man in dem, was man liest, vorwiegend das findet, was man darin zu finden hoffte, zu diesen Aspekten kann ich Tim Rohrmann nur zustimmen. Und mir scheint es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich im Endeffekt ein wesentlicher Aspekt seiner Thematik in den Ergebnissen spiegelt: Zuviel geredet wurde über Jungen, zuwenig über Macht und Geschlechterhierarchie (S. 327). Schließlich die vielleicht auch nicht überraschende Erkenntnis, dass „…kollektive Orientierungsmuster durch die Lektüre einzelner empirischer Studien oder theoretischer Argumentationen nur wenig beeinflussbar sind…“ (S. 328). Was ließe sich also in dem abschließenden Kapitel „Zusammenfassung und Konsequenzen“ erwarten?
Die Zusammenfassung bestätigt letztlich die an vielen Stellen des Buches hervorgehobene Widersprüchlichkeit von Perspektiven und Meinungen. Die Einzelaspekte versucht Rohrmann im Zusammenhang mit pädagogischen Kontextfaktoren zu diskutieren, etwa, dass die Unübersichtlichkeit von Einrichtungen für Kinder dazu beitrage, dass sich diese eher getrennt-geschlechtlich organisieren würden (S. 336). Die Geschlechtsproblematik weist in diesem Sinne die zwei Seiten einer Medaille auf: „ Kinder erfahren die Welt der Erwachsenen als in starkem Maße von der Geschlechterunterscheidung und teils auch von der Geschlechtertrennung geprägt, und dies auch gerade dann, wenn sie es mit beiden Geschlechtern zu tun haben“ (S. 339). Folgerichtig ist eines seiner stärksten Argumente seines Schlussplädoyers, den Dialog zwischen den Geschlechtern zu organisieren und zu fördern, und zwar sowohl der Kindern untereinander, als auch zwischen Kindern und Erwachsenen: „Entscheidend ist, dass Mädchen und Jungen, Männer und Frauen in einer Welt leben. Misslingende Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind ein Risiko für alle Menschen“ (S. 391).
Fazit
Summa summarum ein äußerst materialreiches Buch, allerdings eher für wissenschaftlich arbeitende Fachkräfte geeignet als für Pädagogen und Pädagoginnen vor Ort, angenehm engagiert und in selbstkritischer Haltung gegenüber den eigenen Sichtweisen und Handlungsoptionen formuliert.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Büttner
Website
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Zitiervorschlag
Christian Büttner. Rezension vom 20.05.2009 zu:
Tim Rohrmann: Zwei Welten? - Geschlechtertrennung in der Kindheit. Forschung und Praxis im Dialog. Budrich Academic Press GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2008.
ISBN 978-3-940755-14-8.
Reihe: Erziehungswissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6821.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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