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Stephan Selke: Fast ganz unten (Lebensmitteltafeln)

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 10.11.2008

Cover Stephan Selke: Fast ganz unten (Lebensmitteltafeln) ISBN 978-3-89691-754-6

Stephan Selke: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2008. 240 Seiten. ISBN 978-3-89691-754-6. 19,90 EUR.

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Autor

Stefan Selke ist Professor für Soziologie Digitaler Medien an der Hochschule Furtwangen University. Seine Forschungsschwerpunkte sind neben den virtuellen Welt des Cyberspace auch ganz reale Phänomene wie soziale Ungleichheit.

Thema

Wie keine andere soziale Einrichtung sind in den letzten 15 Jahren die Lebensmitteltafeln gewachsen. Von der ersten Tafelgründung 1993 in Berlin bis heute hat die aus den USA kommende Tafelidee weite Verbreitung gefunden. Heute versorgen deutschlandweit etwa 32.000 ehrenamtliche HelferInnen in knapp 800 Tafeln fast eine Millionen Menschen in Nahrungsnot mit Lebensmitteln. Was wie eine Erfolgsstory klingt, wäre ohne die gesellschaftlichen Entwicklungen und sozialen Verwerfungen der letzten Jahre nicht möglich.

Aufbau und Inhalt

Am Anfang war es die Empörung darüber, dass in einem reichen Land wie Deutschland Menschen hungern müssen, die den Cyberspace-Professor Stefan Selke dazu brachten, sich mit dem ganz realen Phänomen Armut beschäftigt (Teil 1). Wie können Überflussgesellschaft und Ernährungsarmut nebeneinander existieren? Die Tafeln lösen diesen "Widerspruch", indem sie den Wohlstandmüll an die gesellschaftlich "Überflüssigen" (Heinz Bude) verteilen. Aber ist das die Lösung? Die Ausgangsfrage des Autors ist deshalb, ob die Tafeln "Teil einer Lösung oder vielmehr Teil des Problems" (10) sind.

Die Tafeln sind trotz ihres Booms bislang kaum von der Wissenschaft beachtet worden. Stefan Selke nahm über ein Jahr lang als Hospitant an der Praxis der Tafeln teil, holte Lebensmittel bei Supermärkten ab, teilte sie in der Tafel aus, unterhielt sich mit "KundInnen" und HelferInnen, nahm an Vereins- und Regionaltreffen teil und tat, was Soziologen können sollten: auf Distanz beobachten. Dieses essayistische Buch zwischen wissenschaftlicher Analyse und Erlebnisbericht ist das Ergebnis seiner über einjährigen Beobachtungen.

Der Erfolg der Tafelbewegung ist zugleich Ausdruck der sozialen Schieflage unserer Gesellschaft. Seit 2005 ist die Tafelkundschaft rapide angewachsen, eine direkte Folge der Hartz-Gesetzgebung in Deutschland. Hartz IV hat die Mittelschicht aufgeschreckt – und verängstigt. Mit Einführung von Hartz IV ist vielen schlagartig bewusst geworden, wie schnell der soziale Abstieg vonstatten gehen kann; für viele ist er zum greifen nahe gerückt. "Demokratisierung der Armut" (36) nennt dies der Autor. Tafelkunden sind Menschen "fast ganz unten", so Titel und These des Buchs. Dies sind Menschen, die irgendwann die geregelte Bahn durch Arbeitsplatzverlust oder einen Schicksalsschlag verlassen haben und eine Armutskarriere eingeschlagen haben; "ganz unten" sind die Wohnungslosen, Suchtkranken und Menschen mit geistigen Behinderungen. Für diese existieren soziale Einrichtungen mit spezialisierten SozialarbeiterInnen, für die "fast ganz unten" sind die Tafeln als "institutionalisierte Form des gesellschaftlichen Überflusses" (38) da mit ihren ehrenamtlichen HelferInnen, die keine Spezialkenntnisse bräuchten.

Nach dem einleitenden Kapitel über das Phänomen der neuen Armut und die Entwicklung der Tafelbewegung in Deutschland und knapp 20 Seiten mit zahlreichen Fotos aus dem Tafelalltag gibt der Autor im zweiten Teil detailreiche Einblicke in das Innenleben der Tafeln und ihre drei Akteursgruppen SpenderInnen, HelferInnen und KundInnen.

Nach Schätzungen werden 20 bis 40 Prozent aller Lebensmittel weggeworfen, weil sie nicht mehr ansprechend aussehen oder das Mindesthaltbarkeitsdatum näher rückt – genaue Zahlen gibt es nicht. Weil die Entsorgung für die Supermärkte enorme Kosten bereitet, geben sie die Lebensmittel oft an die Tafeln ab. Die TafelmitarbeiterInnen holen diese ab und sortieren Brauchbares heraus. Für die Lebensmittelläden ist das größte Spendenmotiv meist die Kosteneinsparung. "Tafeln und Supermärkte befinden sich oft in einem symbiotischen Verhältnis" (67).

Mit feiner soziologischer Beobachtungsgabe analysiert Stefan Selke die Feinstrukturen des Tafelalltags, die Codes und Normalisierungsstrategien der HelferInnen – die schönen wie die hässlichen Seiten der Lebensmittelausgabe einer Tafel. Eine solche Normalisierungsstrategie ist beispielsweise, dass die Tafelläden (die sich von den Tafelvereinen konzeptionell unterscheiden) oft wie ein normaler Supermarkt aufgebaut sind – mit Einkaufswagen, Preisschildern und Kasse. Den "KundInnen" eines Tafelladens wird der "normale" Einkauf in einem "normalen" Supermarkt simuliert, indem sie zu einem Bruchteil des ursprünglichen Preises einkaufen können. In den allermeisten Tafelvereinen bezahlt man die Ware mit einem "symbolischen Euro" . Was als Ausdruck der menschlichen Würde gilt, um die an sich entwürdigende Situation zu verschleiern, wird zugleich damit konterkariert, dass die "KundInnen" auf der Straße Schlangestehen oder sich als "Kunde" einer Tafel registrieren und einer regelmäßigen Bedürftigkeitsprüfung unterziehen müssen. Zu Recht verweist Stefan Selke darauf, dass der Begriff der Würde vielschichtiger thematisiert werden müsste, als dies in den Tafelorganisationen geschieht.

Er zeigt, dass die Ehrenamtlichen nicht allein aus altruistischen Motiven helfen, sondern zugleich eigene Bedürfnisse befriedigen: ihren Wunsch nach Anerkennung, sinnvolle Tätigkeit zu leisten, die Anwendung ihrer beruflichen Qualifikation oder indem sie die Tafeln als Strukturgeber für ihr eigenes Leben nutzen. Die TafelhelferInnen verbindet meist eine "relative Nähe" (105) zu den "Klienten". Denn sie wissen, dass die Wahrscheinlichkeit, auf der anderen Seite des Ausgabetisches zu stehen, oftmals nur einen Schicksalsschlag weit entfernt ist.

Die KundInnen der Tafel nutzen deren Lebensmittelhilfe meist als ergänzende Überlebensstrategie. Für viele erfüllen die Tafeln nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine soziale Funktion als ein zentraler Ort sozialer Kommunikation, obwohl bei den meisten KundInnen das "Gefühl der Machtlosigkeit" (131) und die "Sprachlosigkeit der Armut" (132) vorherrschen.

Im dritten Teil thematisiert Stefan Selke auf struktureller Ebene die inneren Konflikte der Tafelorganisationen, die unterschiedlichen Ansätze der Tafeln in Deutschland und wirft einen kritischen Ausblick auf ihre Funktion und Entwicklung.

Der Erfolg der Tafeln weckt vielfach Begehrlichkeiten. Auf organisatorischer Ebene stehen die Tafeln vor einem enormen Professionalisierungsdruck, da die meisten Ehrenamtlichen an der Grenze ihrer Belastbarkeit stehen. Zugleich erschließen sich viele Tafeln immer neue Betätigungsfelder oder Spendenstrategien, die nach Ansicht des Autors die Grundidee der Tafeln grundsätzlich infrage stellen.

Den Grundwiderspruch vermögen sie nicht aufzulösen. Während sie auf praktischer Ebene hervorragende Arbeit leisten, ist ihre Wirkung auf struktureller Ebene problematisch: "Arme werden ruhiggestellt" und sie tragen ungewollt zur "Legitimation sozialer Ungleichheit" (213) bei, so dass Fazit des Autors. Gerade die Tafelläden "als ein gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends" (182) betrachtet er kritisch, denn sie etablieren eine Parallelwelt und Schattenökonomie auf dem "neuen Markt der Bedürftigkeit" (183).

Abschließend fasst der Autor seine Überlegungen zur Zukunft der Tafeln zugespitzt in acht Thesen zusammen.

Fazit

Zu Beginn des Buchs mag mancher Leser zunächst einige Befürchtungen hegen. Ein Soziologieprofessor, der entdeckt, dass es Armut auch in Deutschland gibt und sich in diese ihm fremde Welt begibt, um sie uns zu erklären, macht sich zunächst verdächtig. Doch die anfänglichen Zweifel weichen schnell. Der Autor entwickelt eine tiefgreifende Analyse der alltäglichen und praktischen Arbeit der Tafeln und ihrer strukturellen Auswirkungen. Stefan Selke hat ein spannendes und couragiertes Buch geschrieben. Seine Sympathien für die Tafelidee sind in seiner aufschlussreichen Analyse spürbar. Zugleich schafft er es bis zum Schluss, das Spannungsfeld "Teil der Lösung oder Teil des Problems" aufrechtzuerhalten.

Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich wissenschaftlich oder praktisch mit Armut beschäftigen. Menschen, die sich in Tafeln oder Suppenküchen engagieren, sei es ans Herz gelegt. Es bietet die Chance, aus dem analytischen Blick und einer wohldurchdachten Analyse kritische Anregungen für die eigene Tätigkeit zu ziehen. WissenschaftlerInnen sei dieses Buch deswegen empfohlen, weil hier vorgeführt wird, wie gegenstandsbezogen und realitätsnah Armut analysiert werden kann.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 10.11.2008 zu: Stephan Selke: Fast ganz unten. Wie man in Deutschland durch die Hilfe von Lebensmitteltafeln satt wird. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2008. ISBN 978-3-89691-754-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6835.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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