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Gerhard Wagner: Paulette am Strand

Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 28.08.2009

Cover Gerhard Wagner: Paulette am Strand ISBN 978-3-938808-52-8

Gerhard Wagner: Paulette am Strand. Roman zur Einführung in die Soziologie. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2008. 144 Seiten. ISBN 978-3-938808-52-8. 19,90 EUR. CH: 38,40 sFr.
Reihe: Velbrück Wissenschaft.

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Eine Einführung in die Soziologie als Roman

Vor langer, langer Zeit arbeitete ich in der Bibliothek des Heidelberger Instituts für Soziologie als studentische Hilfskraft. Es war eine Blütezeit der universitären Soziologie und eine Hochzeit der Max Weber Renaissance, und ich saß mitten in der Hochburg der Max Weber Rezeption, umgeben von fleißigen Max-Weber-Forschern, die emsig ihr Scherflein zum Gedeihen der Max-Weber-Gesamtausgabe beitrugen. Aus allen Ecken und Enden der Erde pilgerten Weberianer nach Heidelberg, um daran mitzuwirken, das Erbe des Soziologen-Riesen lebendig zu halten und auf seine Schultern zu steigen, von wo aus sich ein grandioser Ausblick auf die Weltkulturen mit besonderer Berücksichtigung des Okzidents und seines eigenartigen Rationalismus auftat. Was war es für eine Lust, die Leistungsfähigkeit des genialen „Idealtypus“ oder der legendären „Charismatischen Herrschaft“ am historischen und konkreten Gegenstand zu erweisen!

Diese Atmosphäre zog auch eine Professorin aus dem fernen China an die Ruperto Carola, die mir nach einer Reise ins deutsche Soziologen-Mekka Bielefeld ihre Ratlosigkeit gestand. In Bielefeld, so die Professorin, habe sie 28 Lehrstühle der Soziologie und 56 Arten Soziologie kennen gelernt. Jetzt kenne sie sich nicht mehr aus. „Was ist ,Soziologie‘?“ fragte sie, und: „Kennen sie eine gute Einführung?“ Damals verwies ich sie auf die „Einladung zur Soziologie“ von Peter L. Berger; heute, ja heute würde ich ihr Gerhard Wagners Büchlein empfehlen.

Im Gegensatz zur Professorin fand ich den Soziologie-Pluralismus gut, weil er die Disziplin für mehr gesellschaftliche Wirklichkeit offen hält, von der richtige Soziologen nie genug kriegen können und die in einem Paradigma nie vollständig unterzubringen ist, wie man bei Max Weber, Georg Simmel & Co. lernen kann. Schaut man in den Markt für ein- oder mehrbändige Soziologie-Einführungen, so tummeln sich dort viele gelehrte Abhandlungen von sehr unterschiedlicher Qualität und Nachfrage, in denen mehr Soziologie als soziale Wirklichkeit vorkommt. Jetzt bin ich ganz und gar nicht der Meinung, dass der Markt über die Qualität theoretischer und wissenschaftlicher Werke ein Wort mitzureden hätte, und schon gar nicht, dass Nachfrage und Verkäuflichkeit ein Kriterium für Wahrheit wären. Im Gebiet des Geistigen, des Intellektuellen, des Kontemplativen setzt sich à la longue sowieso Wahrheit gegen den jeweils nachfragenden Zeitgeist durch. Denn Bücher mit Wahrheit sind Bücher mit Währung, also solche, die währen, weil sie wahr sind.

Aber bis es soweit ist, bis überdauernde Währung von vergänglicher Ware zu scheiden ist, bringt der Markt viele Soziologie-Einführungen, die sich zwischen zwei veritable oder virtuelle Deckel pressen lassen. Solche Bücher erscheinen und werden verkauft und werden vergessen und zu Makulatur und werden recycelt und wieder zu geduldigem Papier und werden zu Büchern und wieder verkauft und ewig so fort. Ein paar bleiben, die meisten aber vergehen. Das jedenfalls ist das Schicksal so vieler im akademischen Stil verfassten Einführungen, die nichts anderes als Wiederaufbereitungsanlagen von Theorie-Geschichte sind, die umfängliche Ansätze auf Zitate herunterhungern, so dass sie in markierte Kästchen am Kapitelende zu sperren sind.

Ein anderes Einführungsverfahren bietet den Lesern Bücher, die mit didaktischen Marginalien arbeiten und dort die auf Essenzlosigkeit reduzierte Essenz dessen an den Seitenrand pinnen, was schon von anderen zigfach über etwas ursprünglich Substantielles gesagt und geschrieben wurde. Im Bücherwald lockt diese Einführungsspezies besonders Schnellleser mit dem Versprechen an, den schweren Stoff als leichte Kost zu servieren, um ihn rasch aufzunehmen und im Gedächtnisspeicher gelesen aber undurchdacht ablegen zu können. Sie wollen das Wichtigste und Feinste, ohne sich der Mühe und dem Abenteuer des Selbstlesens und Erlesens unterziehen zu wollen, das allein das Selbstdenken in Gang zu bringen vermag. Eine andere Variante sind die einführenden Darstellungen einer speziellen Theorierichtung, die die Vielfalt der Disziplin auf eine Perspektive zusammenschrumpft wie die der zwar anspruchsvollen aber in ihrer dräuenden Superklugheit und hintersinnigen Esoterik nur schwer erträglichen Systemtheorie in der Luhmann-Nachfolge.

Gerhard Wagner geht mit seiner Einführung einen ganz anderen, einen ganz eigenen Weg, der auf eine originelle Alternative zur konturlosen Wiederaufbereitung und überkonturierten Supertheorie führt: Eine Einführung, geschrieben als Roman. Das ist etwas Neues, das gibt es– jedenfalls im deutschen Sprachraum - so noch nicht. Zwar ist das 19te Jahrhundert - im 20ten ließe sich diese Reihe mühelos fortsetzen - reich an Romanen, die es an soziologischem Gehalt mit jeder soziografischen Studie aufnehmen können. Gogol, Gontscharow, Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi und Tschechow, Balzac, die de Goncourts, Flaubert, Maupassant und Zola, Jane Austen, Emily Brontë, Bulwer-Lytton und Charles Dickens, Hawthorne, Melville und Edith Wharton, Goethe, Stifter, Keller und Fontane und viele viele andere mehr stehen für diese Tradition, die immer auch ihre Gesellschaft miterzählen. Umgekehrt aber, von der Soziologie her gesehen, gab es bis zu diesem „Roman zur Einführung in die Soziologie“ keine vergleichbaren Versuche, Soziologie literarisch unter die Leser zu bringen, auch wenn es im Kielwasser der Postmoderne einmal modisch war, von den „Grand Theories“ als den „großen Erzählungen“ zu sprechen. Und, um es gleich ganz klar zu sagen: Gerhard Wagner wagt und gewinnt und – wie ich meine – wird währen.

Im Mittelpunkt des „Romans zur Einführung in die Soziologie“ steht „Paulette am Strand“, so der Haupttitel. Die 19jährige Paulette jobbt sich in Paris durch ihr noch taufrisches Erwachsenenleben, als sie sich zu einem Urlaub nach Saint Nazaire an die Atlantik Küste begibt. Dort trifft sie auf die Surf-Lehrerin Agnes, die offensichtlich Soziologie studiert hat und mit Pauline einen Dialog über Gott und die Welt aufnimmt, der mit Theoremen und Einsichten aus der klassischen Soziologie vor allem der deutschen Tradition bestritten wird – also von einer Position aus, in der Essenz noch mit Substanz identisch war, und so viele geistvolle, erkenntnisstrotzende und deshalb zitierwürdige Sätze versammelt sind, die in keiner lerntechnisch ausgefuchsten Merkkästchenhaltung und keinem noch so ausgeklügelten Zitatenzoo zu bändigen sind. Motto: „Über Soziologie plaudern heißt über die Gesellschaft plaudern…Nichts ist spannender!“(Wagner 2008:14)

Und voller Esprit plaudern denn auch Agnes und Paulette von Samstag auf Freitag, tatsächlich sechs Tage lang, und zwar so mühelos und leicht, wie es nur Franzosen können, über die Soziologie des ganz Kleinen und des ganz Großen. Das kommt voll gut und läuft auch geil rein und erinnert mich an ein krasses Gespräch Goethes mit Eckermann. Dieser berichtet von jenem, dass Goethe den französischen Stil für anmutig und klar hielt, weil Franzosen stets ein Publikum vor Augen hätten, dem sie gefallen und von dem sie verstanden werden wollten.

Eben diesem empathischen Imperativ der Franzosen folgt auch die Darstellung Wagners. Er schreibt flüssig und klar, und hat Leserinnen und Leser vor Augen, die sich gerne in Agnes und Paulette hinein versetzen mögen und ganz ohne Hektik und ohne Hetze, ganz cool und lässig sich mit dem, was sie wahrnehmen und erleben, auf soziologisch interessante Weise beschäftigen wollen. So lernen die Leser das Einmaleins der Mikrosoziologie der Sinneswahrnehmungen, der sozialen Wechselwirkungen und der Wirkungsweise sozialer Kraftfelder, die Typisierung der Wahrnehmung, die soziologischen Grundbegriffe des Handelns, der Handlungsroutinen und Handlungsordnungen kennen. Auch schließen sie mit der Gattung Homo Sociologicus Bekanntschaft und erhalten auch eine Idee von seiner „Präsentation of Self in Everyday Life“, ohne dass ihnen vor lauter Soziologismen der Bezug zum eigenen Leben und Self verloren ginge und ihnen langweilig würde. Aber auch die weniger eingängige und weniger beliebte, weil kontraintuitive Makrosoziologie der bürgerlichen Gesellschaft, der sozialen Ungleichheit, der Mode, der Individualisierung, der Faulheit und der Arbeit und vieles andere mehr kommen bei Wagner nicht zu kurz, und das alles im gefälligen Ton der Konversation vorgetragen, anmutig und klar.

Auffällig ist die Konzentration auf die deutschen und französischen Klassiker, Georg Simmel, Max Weber, auch Marx, Auguste Comte treten auf, Durkheim fehlt, dafür ist sein moderner Nachfahre, Bourdieu, dabei, der zwar nicht gerade einen salonesken Stil pflegt, aber in seiner Leidenschaftlichkeit seinesgleichen sucht. Es ist eine Art Soziologie der ersten Stunde, in der Wagner seine Protagonistinnen schwelgen lässt, also eine Soziologie, die ihre Gegenstände gerade erst entdeckt hat und sich voller Neugierde und Interesse auf sie stürzt, Grundbegriffe erfindet und diese am Realen ausprobiert. Geschrieben ist diese erste Soziologie in einer schönen Sprache, die noch nicht im Fachjargon über Dinge spricht, also blasiert und so, als müsse sich die Realität für ihre Existenz vor diesem qualifizieren und nicht umgekehrt. Ganz en passant, wie das zum Plaudern gehört, werden der Aufstieg und der Niedergang des Bürgertums, die Diffusion seiner Formen des Wirtschaftens und Vergesellschaftens in die Gegenwartswelt in geschliffenen Dialogen am französischen Beispiel geschildert. Dabei kommen auch die literarischen Beispiele nicht zu kurz. Besonders der enttäuschte Romantiker Houellebecq und seine als trauriger Roman angelegte Geschichte der erträglichen Unempfindbarkeit des Seins wird immer wieder zitiert, um den Pulsschlag derjenigen „Elementarteilchen“ fühlbar zu machen, die auf den Wellenkämmen der Moderne ihre reflexive Subjektivität balancieren und durchs Leben surfen.

Würde mich die chinesische Professorin heute fragen, „Kennen Sie eine gute Einführung in die Soziologie“, so würde ich antworten: „Ja, lesen sie Paulette am Strand, die romanhafte Einführung von Gerhard Wagner!“ „Warum?“ – „Weil dort gezeigt wird, dass Soziologie die Menschen und die Sachen selbst zu Wort kommen lassen kann und so jedem klar wird, was Soziologie ist und was sie den an ihr Interessierten zu geben vermag.“ Denn wer solches erreicht, macht Lust auf mehr von demselben, auf das, was soziologisch Währung hat. Und kann es eine bessere Orientierung durch die Paradigmenvielfalt der Soziologie geben als die Lust auf ihre Wahrheit? So weicht das Interesse an einer Antwort auf die Frage: „Was ist Soziologie?“ dem an der Lust auf die Frage als Frage, die hoffentlich nie endgültig und bündig zu beantworten ist, so dass die geistreiche Plauderei über diese Frage nie zu einem Ende kommt…

Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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Es gibt 34 Rezensionen von Richard Utz.

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ISSN 2190-9245