Brigitta Michel-Schwartze: Handlungswissen der sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Fischer, 30.06.2003

Brigitta Michel-Schwartze: Handlungswissen der sozialen Arbeit: Deutungsmuster und Fallarbeit. Leske + Budrich (Leverkusen) 2002. 176 Seiten. ISBN 978-3-8100-3551-6. 12,90 EUR.
Einführung in das Thema
Die Praktikerinnen und Praktiker der Sozialen Arbeit stehen - wie Vertreter anderer Professionen auch - in einem mehrfachen Dilemma. Ihr gesellschaftlicher Auftrag dient der Reduktion konkreter Probleme, die aber von Klient und Professionellem oft unterschiedlich gesehen werden. Die geforderten Hilfen sind notwendigerweise fallbezogen, das verfügbare Wissen, durch Studium und Praxis erworben, ist allgemein. Was also tun im Zickzack zwischen den Ansprüchen und Welten theoretischer Diskurse einerseits und praktischen Verhandlungen mit Betroffenen und Anstellungsträgern andererseits?
Brigitta Michel-Schwarze ist so mutig, auf diese Megafrage nach dem Handlungswissen der Sozialen Arbeit auf weniger als 180 Seiten eine klare Antwort zu geben, die beansprucht, die Paradoxien und Dilemmata nicht unter den Teppich zu fegen, sondern ihnen als Bedingungen der Felder Sozialer Arbeit dauerreflexiv (?) gerecht zu werden. Ob sie sich nicht zu viel vorgenommen hat, wird längerfristig eine solche Praxis zeigen, die sich nach ihren Empfehlungen auszurichten trachtet. Jedenfalls ist es ihr schon jetzt gelungen, ein interessantes und wichtiges Buch zu schreiben, das sich, so dem Wunsch der Verfasserin entsprechend, bestimmt als längerer Wegbegleiter im Studium und in der Praxis sehr gut eignet.
Fallarbeit als Herzstück Sozialer Arbeit
Fallarbeit macht die Praxis der Sozialen Arbeit aus, und ihr ist das abschließende, mit gut 50 Seiten längste Kapitel des Buches gewidmet. In den einleitenden Notizen zum Gebrauch stellt die Verfasserin anheim, hier mit der Lektüre zu beginnen. Die sechs vorangehenden Kapitel versteht sie als Theoriediskussion, die die selbstreflexive Praxis konturieren soll.
Nehmen wir die Autorin beim Wort, und beginnen wir am Schluss. Für die Fallarbeit - eine berufliche Praxis jenseits von Fallarbeit wird gar nicht erwogen - werden die vier Handlungsebenen Informationssammlung, Problemdefinition, Intervention und Evaluation unterschieden. Dabei wird betont, dass keine "Fiktion einer schrittweisen Handlungsabfolge" (121), also kein Stufenmodell gedacht ist, vielmehr angenommen wird, dass die Ebenen sich zeitlich variabel und wiederholt aufeinander beziehen lassen.
In der Darstellung verfährt die Autorin so, dass sie bei der Diskussion der Ebenen immer wieder Fallbeispiele einfügt, um ihre Prinzipien der Fallarbeit, die sie als sozialarbeiterische Imperative formuliert, zu erläutern. Es handelt sich dabei überwiegend um beobachtende Fallbeschreibungen von Studierenden aus Praktikakontexten. Generell gelingt es hier sehr gut, die Perspektivität dieser Texte, die blinden Flecken und kulturellen Vorannahmen der BeobachterInnen und die Präselektivität des Systems beruflichen Handelns an diesem Material aufzuzeigen. Die Darstellung verrät so analysiert mehr über den Darsteller und seine Weltsicht selber, als über das, was er darzustellen vorgibt.
Weniger gut, obgleich es von der Verfasserin zu Recht thematisiert wird, können Klientenperspektiven sichtbar gemacht werden. Dazu müsste anderes Fallmaterial - nach Meinung des Rezensenten am besten eigensprachliche Darstellungen und Interaktionsaufzeichnungen (z.B. in Form von narrativen Interviews oder transkriptiven Beobachtungsprotokollen von Videodokumenten) - betrachtet und struktural analysiert werden. Dieser Einwand soll jedoch die Leistung der vorgelegten Analyse keineswegs schmälern. Überzeugend wird jeweils die berufliche, gesellschaftliche und subjektive Konstruiertheit des Klienten durch den Experten, also die Herstellung des Gegenstands der professionellen Hilfe durch die Hilfe dargestellt. Als professionelle, praktische Lösung aus diesem Problem der Eigen-Konstruiertheit beruflichen Handelns und seiner "Objekte", die ja gleichzeitig Subjekte sein sollen, werden Verhaltensregeln aufgestellt, die allesamt dazu führen, das eigene professionelle Verhalten in seiner Vorauswahl (auch aus Wissensbeständen der privaten Lebenswelt) zu problematisieren - und dann trotzdem zu handeln. Etwa: sich der eigenen Deutungsmuster bewusst sein (125), oder Informationen von Annahmen und Bewertungen trennen (126), oder sich der Gefahr eigener Normalitätsstandards bewusst sein (131), oder Auftragslagen von Klient und Hilfesystem unterscheiden (135). Auch für den Interventionsbereich gilt dieselbe Prinzipien-Logik: Intervention nicht am eigenen sondern Klientenbedarf ausrichten (146), Macht bewusst, verantwortungsvoll einsetzen und nicht missbrauchen (148), Hilflosigkeit nicht legitimieren, sondern bewältigen helfen (150), Differierung von Ergebniserwartungen und Zieladäquanz in Rechnung stellen (usf.).
Wieviel Reflexivität verträgt die Praxis Sozialer Arbeit?
Dies ist alles sehr gut dargestellt und in seinen selbstreflexiven und ethischen Dimensionen plausibel nachzuvollziehen. Was die Verfasserin nicht leistet - und meines Erachtens auch prinzipiell nicht leisten kann - ist, zu zeigen, ob das Geforderte überhaupt geht und vor allem wie das geht. Es könnte sein, dies ist bei allem Wohlwollen dem ganzen Vorhaben gegenüber doch eine etwas ketzerische Anfrage aus der Ecke der Soziologie, dass die Soziale Arbeit als Praxis - wie auch andere Professionen zeigen - soviel Reflexivität im Vollzug gar nicht aufbringen kann, weil sie das Handeln zwar nachträglich evaluieren, aber nicht wirklich vorab steuern kann. Dies gilt vor allem für kommunikative Bereiche des Alltagshandelns, die sich einem instrumentellen Zugriff entziehen. Handlungswissen braucht blinde Flecken, und der Doppelbegriff verschleiert in der Verbindung zweier Sphären, was prekär, nur auf Zeit möglich und immer wieder für Überraschungen gut ist: eine Versöhnung zwischen Handeln und Wissen. Man mag sagen, dass sich hier die Eigenselektivität eines zwar beobachtenden aber nicht handelnden Soziologen niederschlägt. Dem würde der Rezensent nicht widersprechen, aber es wäre ihm als Replik noch nicht ausreichend. Jedenfalls lohnt es sich, sich auf den Text einzulassen. Man sollte mit ihm das tun, was man im besten Fall mit einem Text tun kann, ihn lesen, sich inspirieren lassen, diskutieren und vielleicht dran denken, wenn man etwas tut: hier sind die praxisleitenden Prinzipien höchst verdienstvoll.
Wer nun nach der Lektüre des "Ergebniskapitels" erst recht neugierig geworden ist, wird bei der Verfolgung der theoretischen Herleitungen dieser Praxisempfehlungen in den sechs vorangehenden Kaptiteln fündig und sicherlich nicht enttäuscht werden.
Im ersten Kapitel verdeutlich die Verfasserin ihren Wissensbegriff. Neben den kognitiven und emotionalen Dimensionen des Wissens streicht sie besonders die enge Korrespondenz von Alltagswissen und Berufswissen heraus. In der Tat liegt hier für die Profession der sozialen Arbeit ein zugespitztes Problem vor. Die Inhalte der Arbeit, die diffuse Allzuständigkeit und der jederzeit mögliche Wechselbezug beruflichen Wissens und privater Lebenswelt der Sozialarbeiterin und des Sozialarbeiters machen die besondere Abhängigkeit beruflichen Handelns vom stets unreflektierten Alltagswissen aus (18f.). Wie mit diesem Problem umgegangen werden kann, ob es geheilt werden kann, ausgehalten werden muss oder ob man sich sonst irgendwie darauf einstellen kann, ist die explizite und implizite Leitfrage des ganzen Buches. Dabei schwankt nach Wahrnehmung des Rezensenten die Verfasserin zwischen einer analytischen Haltung reflexiver Betrachtung und Erwartungen an eine geänderte Handlungspraxis, die am deutlichsten im bereits besprochenen Schlusskapitel zu Tage tritt.
Kapitel 2 nimmt das zentrale Konzept des Helfens unter die Lupe. Der Konflikt eines alltagsweltlichen Hilfeersuchens und - verständnisses mit einem professionellen Hilfebegriff wird herausgearbeitet. Das doppelte Mandat zwischen Hilfe und Kontrolle wird ebenso schlüssig präsentiert wie die Ambivalenz für die Klienten.
Im nächsten Kapitel (3) werden soziologische Kernkonzepte zur Frage sozialer Ordnung durchgemustert (Norm, Soziale Probleme, Devianz, Soziale Kontrolle etc.). Am Beispiel von Norm und Normalität wird der grundsätzliche konstruktivistische Zugang der Verfasserin erneut deutlich. Normalität erscheint ihr als Fiktion. Theoretisch ist dem zuzustimmen, wenn man alles, was sozial konstruiert ist, gemacht und fiktional nennen möchte. Allerdings birgt die Verwendung des Fiktionsbegriffs die Illusion, dass man um solche Konstruktionen einfach herumkommt. Dies ist sicherlich nicht der Fall, soziale Konstruktionen machen eben die objektiven Gegebenheiten gesellschaftlichen Zusammenlebens aus. Ob und wie leicht sie zu re-konstruieren oder vollständig durch andere Konstruktionen zu ersetzen sind, ist immer eine Frage sozialer Praxis und nicht ein Moment von "Fiktion" oder "Fakt". Positiv vermerkt der Rezensent hier (S. 37) wie öfter, dass die Verfasserin um die Differenz der alltagsweltlichen Deutungsmuster von alten und neuen Bundesländern weiß. Hier besteht sicherlich ein großer Forschungsbedarf, auf den die Verfasserin mit ihren kundigen Nebenbemerkungen häufiger implizit aufmerksam macht.
Mit dem vierten Kapitel geht die Autorin den Abhängigkeiten der Sozialen Arbeit von einigen ihrer Bezugswissenschaften (Soziologie, Psychologie, Sozialpädagogik) nach. In der Wahrnehmung des Rezensenten wird hier vom Standpunkt der Vertreterin einer künftigen Sozialarbeitswissenschaft (Plädoyer ab S. 71) eher das Leiden an den Bezugswissenschaften und Missverständnisse bei deren Rezeption als Rezeptwissen herausgearbeitet, als deren fundierenden Funktionen. Etwas disproportional angesichts der Rezeption soziologischer Wissensbestände erscheint mir auch die sensible Wahrnehmung der (kritischen?) Darstellung der Sozialen Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Funktionen in vereinzelten soziologischen Untersuchungen (S. 59ff.). Interessant, überraschend aber stimmig für den Rezensenten ist die kritische Einschätzung der "Stiefzwillingschaft" zur Sozialpädagogik, die sich nicht vom Integrationstheorem des Sozialwesens blenden lässt. Ich hätte noch gerne gehört, was die Verfasserin über Recht und Sozialgeschichte zu sagen hat, da vor allem vom Rechtsbereich - verglichen mit anderen Professionen - sehr starke Handlungszwänge auf die Soziale Arbeit ausgehen.
Im Kapitel 5 werden unterschiedliche Klientenkonzepte (sozialpädagogische, soziologische, psychologische) untersucht. Der Hauptkritikpunkt ist die durchgängige Defizitannahme. Die Autorin fordert hier andere Klientenkonzepte, damit das Problem nicht erfüllbarer Handlungsziele der Sozialen Arbeit besser berücksichtigt werden kann. Sie hinterfragt das Experten - Klientenmodell und empfiehlt konstruktivistische und systemtheoretische Konzepte zur Abhilfe.
Der letzte theoretische Abschnitt (Kapitel 6) stellt das Interaktionskonzept in den Mittelpunkt. Wer hier - wie der Rezensent - eine Aufnahme soziologisch interaktionistischer Traditionen erwartet, wird enttäuscht werden. Dennoch gelingt es der Autorin auch hier, einige zentrale Themen sehr gut herauszuarbeiten. Macht und Geschlecht, das interaktive Zusammenspiel von Klienten und Experten, die Desillusionierung im Prozess der beruflichen Sozialisation (108f.), die interaktionsrelevante Unterscheidung von Orientierung am Selbstkonzept der Klienten oder am Hilfekonzept, dies alles sind wichtige Interaktionsparameter. Die Fassung der professionellen Interaktion als Dialog zwischen Ungleichen deutet auf prinzipielle Spannungen, wenn nicht Paradoxien hin, macht aber zugleich im Dialogbegriff Hoffnung, dass eine Kooperation überhaupt möglich sein kann.
Fazit
Der gesamte Text ist problemorientiert, dicht und konzise geschrieben, was insgesamt einen angenehm geringen Seitenumfang zur Folge hat. Wie schnell man dies tatsächlich lesen kann, ist eine andere Frage. Da eine Fülle von Literatur eingearbeitet ist, kann man sich auch bei Bedarf weiterempfehlen lassen. Der Band erfüllt so voll die angezielte Orientierungsfunktion.
Theoretisch und in den abschließenden Praxisempfehlungen ein außerordentlich lesens- und empfehlenswertes Buch, das man auf der Suche nach theoretischem Überblick und bei aktiver Fallarbeit immer wieder zur Hand nehmen kann.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Fischer
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