Stephan Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 03.01.2009
Stephan Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus.
transcript
(Bielefeld) 2008.
169 Seiten.
ISBN 978-3-89942-746-2.
18,80 EUR.
CH: 36,80 sFr.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.
Autor und Intention
Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Die vorliegende Veröffentlichung basiert z. T. auf früheren Arbeiten, nimmt deren Inhalte wieder auf, erweitert diese und reiht sich damit zugleich in eine Serie von Schriften zum Thema „sozialpolitischer und sozialstaatlicher Wandel“ ein, die der Autor in den letzten Jahren publiziert bzw. mit herausgegeben hat.
Die „Neuerfindung des Sozialen“ und damit die gesellschaftliche Bedeutung der aktuellen Sozialpolitik stehen für Lessenich in einer funktionalen und legitimatorischen Verbindung mit historisch sich wandelnden „Gesellschaftsidealen“. Die Aufgabe soziologischer Analyse müsse deshalb letztlich darin bestehen, „den über diese Verbindung vermittelten Wandel der Sozialpolitik zu beschreiben, zu deuten und zu verstehen. Eben dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch gewidmet.“ (S. 11).
Aufbau
Die Untersuchung gliedert in sich in fünf Kapitel.
1. „What´s going on?“ – Der Sozialstaat im Wandel
Im ersten Kapitel („What´s going on?“ – Der Sozialstaat im Wandel) setzt sich Lessenich einleitend kritisch mit den aktuell kursierenden Interpretationen und Deutungen der gegenwärtigen Sozialstaatsentwicklung auseinander:
- Im Rahmen des „Abbau-Diskurses“, werde der Sozialstaat wahlweise „demontiert“, „gekappt“ oder „zerstört“, was Lessenich in Anbetracht nach wie vor hoher und anhaltend steigender (jedenfalls nicht sinkender) Sozialausgaben und Sozialleistungsquoten veranlasst – aller selektiven Kürzungen, Rückbauten und Verschlechterungen zum Trotz – der These vom „Ende des Sozialstaates“ schon empirisch zu widersprechen [1].
- Ähnlich kritisch stellt er sich gegen eine Deutung des sozialstaatlichen Wandels als „neoliberal“, weil dieser Begriff oftmals nicht analytisch, sondern als bloße Etikettierung benutzt werde, um das „Böse in der Sozialpolitik“ sprachlich dingfest zu machen. Dieser Hinweis sei insbesondere deshalb von Belang, „weil die kritische Rede vom „Neoliberalismus“ bereits selbst die Suggestion stützt, es handele sich hierbei um eine „liberales“ Programm. Nichts weniger jedoch, so wird in diesem Buch zu argumentieren sein, ist tatsächlich der Fall.“ (S. 13-14). Dies gelte, weil bezüglich des gegenwärtigen Wandels der Sozialpolitik weder von einem „Rückzug“ des Staates noch von einer Förderung „individueller Autonomie“ die Rede sein könne.
Im Gegensatz dazu entwickelt Lessenich in der Folge seine zentrale Argumentationslinie einer „Neuerfindung des Sozialen„:
- Sozialpolitik stelle in historischer Sicht eine gesellschaftliche Reaktion auf die „fundamentale Verunsicherung der menschlichen Existenz im Industriezeitalter“ dar, womit sie im Laufe ihrer Entwicklung zugleich zum zentralen Element der Stabilisierung und Integration industriegesellschaftlicher Verhältnisse geworden sei. Dadurch würde das Wohlergehen des „doppelt freien Individuums“ in der Marktgesellschaft gleichzeitig unter den „Schutz“ und die „Kontrolle“ der Gesellschaft gestellt.
- Diese wohlfahrtsstaatliche Formation erreichte in den 1970er Jahren ihr „historisches Zenit“, bevor (welt-)wirtschaftliche und (sozial-)politische Veränderungsprozesse (Stichworte: Entwicklung des Finanzmarktkapitalismus, Zusammenbruch des Staatssozialismus, Europäische Integration, infomationstechnische Revolution, Massenarbeitslosigkeit und Krise der öffentlichen Haushalte etc.) einsetzten. Sie tangierten schließlich auch den Sozialbereich und führten zu seiner Dauerreform im Gefolge der Proklamation eines „neuen Geistes des Kapitalismus“ (Boltanski & Chiapello 2003).
- Dieser „neue Geist“ ist für Lessenich „jener der Aktivität und Mobilität, der Flexibilität und Beweglichkeit, der Eigentätigkeit und Selbststeuerung. Die Gesellschaft der Gegenwart gibt sich als „Aktivgesellschaft“, und „ihr“ Sozialstaat atmet den Geist der „Aktivierung“.“ (S. 16). Dieser teils nur proklamierte, teils wirklich praktizierte Wandel hin zur „aktivierenden“ (auch: „investiven“, „präventiven“ oder „vorsorgenden“) Sozialpolitik und die darin „aufscheinende Redefinition, ja Neufindung des Sozialen ist zentrales Thema des vorliegenden Buches.“ (S. 17).
- Unter das Aktivierungsparadigma als dem „neuen Modus sozialstaatlicher Interventionen“ fallen für Lessenich insbesondere die Neujustierung von privaten und öffentlichen Verantwortlichkeiten, die Umdeutung von Bürgerrechten und -pflichten sowie die Reformulierung gesellschaftlicher Leistungs- und Produktivitätserwartungen. Im Kern entpuppe sich der „aktivierende Sozialstaat“ damit letztlich als „eine große institutionelle Bewegung zur Bewegung der Individuen“, die in diesem Sinne sozial handelten, „wenn, soweit und solange er/sie Eigenverantwortlichkeit, Selbstsorge und pro-aktives Verhalten zeigt“ (S. 17), womit die „subjektiven Wertbezüge sozialen Handelns […] zu politischen Steuerungsformeln des individuellen Selbstzwangs in sozialer Absicht verkommen.“ (ebd.).
- Zum Abschluss des Kapitels thematisiert Lessenich Rolle und Position der Soziologie bei der Umsetzung der geschilderten Programmatik, wenn er fragt, ob und gegebenenfalls wie die Soziologie dabei „mit von der Partie ist“? Er unterstellt ihr dabei, die Relativierung sozialer Rechte oder die Individualisierung sozialer Risiken selbstverständlich als „zeitgemäß“ und „systemgerecht“ hinzunehmen. Im Rahmen seiner Untersuchung will er dieser „bloß affirmative Neigung widerstehen und nach dem sozialen Sinngehalt sozialpolitischer Interventionen und sozialstaatlicher Institutionen“ (S. 18) fragen.
2. Die Erfindung des Sozialen: Zur historischen Soziologie des Sozialstaats
Im zweiten Kapitel wird die der Argumentation zu Grunde liegende Leitidee – der Wohlfahrtsstaat ist die moderne, kapitalistisch und demokratisch fundierte Form der Vergesellschaftung – dargelegt. Die Fragen nach dem „Warum“ des Sozialstaates bzw. danach, „was der Sozialstaat ist?“ (S. 22 f.) behandelt Lessenich im Rahmen der Darstellung von fünf soziologischen Wesensbestimmungen (Modernisierung, Normalisierung, Umverteilung, Sicherung, Integration, Relationierung) um sich darauf folgend der Frage zu widmen, „wie es zum Sozialstaat kam“?
- Funktionalistische Ansätze erklären die „Risiken und Nebenwirkungen“ der industriellen Revolution zum wesentlichen Grund für sozialpolitische Eingriffe des Staates. Der Sozialstaat ist demnach die Antwort auf die systemreproduktiven Erfordernisse der kapitalistischen Produktionsweise („saving capitalism from itself“ (S. 39 f.).
- Interessen- bzw. konflikttheoretischer Ansätze betonen vor allen Dingen die Mobilisierung der Bevölkerung und hier insbesondere der Arbeiterbewegung, die der Ausweitung staatlicher Lohnarbeitsregulierung und öffentlicher Daseinsvorsorge historisch zum Durchbruch verholfen habe.
- Institutionelle Ansätze gehen hingegen davon aus, dass die Akteure im Feld der Sozialpolitik immer schon im Rahmen institutioneller Kontexte handeln. Insbesondere der Staat – in Gestalt seiner Funktions- und Positionseliten (etwa im Bismarck„schen Sozialstaatsmodell) – sei als eigenständiger, autonomer Akteur zu betrachten, der den politisch-sozialen Kampf der Interessen nicht nur zulässt, sondern ihn auch steuert, lenkt und aktiv interveniert.
- Ideenpolitische Ansätze zur Erklärung sozialstaatlicher Entwicklungen (z.B. die „Drei Welten des Wohlfahrtkapitalismus“ (Esping-Andersen 1990)) basieren auf der wachsenden Relevanz, die den ideellen Grundlagen sozialstaatlichen Handels zugeschrieben wird. Die historisch relevanten Akteure kämpfen demnach für die Realisierung spezifischer sozialpolitischer Ordnungsideen und damit für die politische Umsetzung eigener Vorstellungen von Gesellschaft.
- Krisentheoretische Ansätze gingen schließlich von der Beobachtung aus, dass die Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse einen „äußerst unwahrscheinlichen Aggregatzustand des Sozialen darstellt“, weshalb der Sozialstaat „zum wesentlichen Moment im Prozess gesellschaftlicher Kriseninstitutionalisierung“ (S. 55) und damit zugleich zu einem „institutionellen Arrangement gesellschaftlicher Krisenbearbeitung“ (S. 57) wird bzw. werden musste.
3. Wohlfahrt für alle: Der Sozialstaat im „goldenen Zeitalter“
Das dritte Kapitel erläutert in historischer Perspektive den Übergang vom „sorgenden Staat“ der Nachkriegszeit zum aktivierenden Staat der Gegenwart. Lessenich will den „modernen Sozialstaat als institutionalisierte Form gesellschaftlichen Krisenmanagements“ gedeutet sehen, dessen Konsolidierung und Expansion im Wesentlichen kriegs- bzw. nachkriegsbedingt ist: „Die Liste der mittelbar oder unmittelbar kriegsbedingten sozialpolitischen Innovationen ist […] schier endlos.“ (S. 60). Dazu gehören für ihn nicht nur die Familienförderung, Volksversicherungen und die öffentliche Gesundheitsversorgung sowie der soziale Wohnungsbau, die allesamt in den Bereich sozialstaatlicher Interventionen im Rahmen von Kriegsvorbereitung, Kriegsführung und Kriegsfolgen einzuordnen sind: „Die systematische Großtat des „keynesianischen“ Sozialstaates war es, die antagonistischen und daher tendenziell konfliktreichen, durch die Organisationen von Kapital und Arbeit vertreten Logiken der Gestaltung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses vermittelnd in sich aufzuheben – oder diese jedenfalls als miteinander kompatibel erscheinen zu lassen.“ (S. 61).
Dieser Prozess vollzog sich dabei in der Geschichte des Sozialstaats national in verschiedenartigen Realisationsformen (nach Esping-Andersen: „liberal, sozialdemokratisch und konservativ“). Innerhalb dieser Varianten ist der Sozialstaat „[…] eine Instanz der politischen Konstitution sozialer Beziehungen der Wohlfahrtproduktion, der Positionierung sozialer Akteure in diesem gesellschaftlichen Feld, ihrer herrschaftlichen „Zueinanderordnung“ im kollektiven Wohlfahrtsspiel“, womit er als „[…] gesellschaftlicher Relationsmodus, als ein Instrument der politischen Allokation von Risiken, der Zuteilung von Wohlfahrtpositionen und damit von gesellschaftlichen Lebenschancen“ (S. 67) fungiere. Diese von Lessenich als „golden age“ bezeichnete Nachkriegsära einer scheinbar unaufhörlichen Expansionsbewegung wurde spätestens seit Mitte der 1970er Jahre von sozialstaatskritischen Diagnosen („Anspruchsinflation“ und „government overload“) begleitet, in denen „[…] der Sozialstaat als hypertropher Leviathan erscheint, der in seinem Allzuständigkeitswahn zum (im pejorativen Sinne) Wohlfahrtsstaat mutiere und dabei individuelle Eigeninitiative, ja „das Soziale“ überhaupt, unter sich begrabe.“ (S. 67 f.). Damit wurde nach Auffassung Lessenichs zugleich eine grundlegende Reorientierung sozialstaatlicher Politik eingeleitet, die sich in ihrer Fortentwicklung insbesondere durch die „Verlagerung der „promotion of the social“ in das Individuum“ und damit durch eine „individualisierende Neuerfindung des Sozialen“ (S. 72) auszeichne.
4. Der aktivierende Staat als Arrangement der Produktion selbsttätiger und sozial verantwortlicher Subjekte
Im vierten Kapitel, das thematisch zugleich das Kernkapitel des Buches darstellt, wird die oben dargestellte Hauptthese des aktivierenden Staates als einem „Arrangement der Produktion selbsttätiger und sozial verantwortlicher Subjekte“ (S. 17) entwickelt. Lessenich erläutert das „Ende des Versorgungsstaates“ und damit die „Beerdigung seines Zeitalters“ anhand der Durchsetzung einer nun von den USA und Großbritannien (Reagan/Thatcher) ausgehenden angebotsorientierten (Wirtschafts-)Politik, deren oberstes Credo „Flexibilität“ heißt: flexible Arbeitsorganisation, flexible Arbeitszeiten, flexible Beschäftigungsverhältnisse, flexibles Recht etc., bis hin zum ganz allgemein und zugleich umfassend „flexiblen Menschen“. Ein Topos, der den „alten“ Sozialstaat zugleich in seinen grundsätzlich in Frage stellt: „Der einschlägige institutionelle Mechanismus ist soziologisch wohl bekannt: das „Alte“ wird hier zum offensichtlich Unhaltbaren, ja geradezu Verderblichen und Verwerflichen stilisiert, um das „Neue“ – einen anderen Sozialstaat, eine veränderte Politik des bzw. mit dem Sozialen – als umso naheliegender und zwangsläufiger erscheinen […] zu lassen (S. 75).
Lessenich fragt im Anschluss, was im Gegensatz dazu den „neuen“ Sozialstaat ausmacht und vor allem, was er anders macht als sein Vorgänger? Seine Antwort lautet, dass „[…] der flexible Kapitalismus einer projektbasierten Rechtfertigungsordnung (folgt), die alle sozialen Beziehungen in einer auf Anpassungsfähigkeit und Kurzfristigkeit setzenden, netzwerkförmig angelegten Struktur aufgehen lässt und das Leben in einer „konnektionistischen Welt“ feiert“ (S. 76). In dieser Welt verdränge das Maß an Aktivität, das individuelle Mehr oder Weniger an Beweglichkeit und Bewegung, aller anderen sozialen Unterscheidungen. Diese lassen sich für Lessenich „[…] tendenziell unter die gesellschaftliche Metadifferenz von Aktivität versus Inaktivität, Mobilität versus Immobilität subsumieren. In dieser Welt sind Passivität und Stillstand nichts, Aktivität und Bewegung alles – bis hin zum Selbstzweck.“ (S. 76). Der „aktivierende Sozialstaat“ wird damit „Treibender - und zugleich Getriebener – der gesellschaftlichen Mobilmachung“ und wird darüber zum „[…] zentralen institutionellen Scharnier einer gesellschaftlichen Bewegung, der es um die Bewegung der Gesellschaft zu tun ist.“ (S. 77).
Diese neue Form der „Gouvernementalität“ (Michel Foucault), die eine veränderte „Regierung des Sozialen“ einschließt, ist „[…] eine „ökonomische Regierung“, verstanden als Regierung eines von wirtschaftlichen Subjekten bevölkerten gesellschaftlichen Raums, die die Regeln wirtschaftlichen Handelns zu achten und zu wahren – und also dem „Prinzip der Weniger-Regierung“ zu folgen hat.“ (S. 80). Damit ist für Lessenich – in Anlehnung an Berthold Vogel [2] – im Übrigen gerade nicht eine Reduktion staatlicher Macht verbunden. Ihre Reformulierung im Sinne des „Schutzes der Freiheit“ soll vielmehr den „freiheitswahrenden Gebrauch“ derselben gewährleisten: „Im Zentrum des neuen Regierungsmodus steht der tendenzielle Übergang von der öffentlichen zur privaten Sicherheit, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement, von der Sozialversicherung zur Eigenverantwortung, von der Staatsversorgung zur Selbstsorge. Ziel dieser veränderten Programmatik ist die sozialpolitische Konstruktion doppelt verantwortungsbewusster, und das bedeutet: sich selbst wie auch der Gesellschaft gegenüber verantwortlicher Subjekte.“ (S. 82).
Sämtliche Varianten einer derartigen Aktivierung von Eigenverantwortung werden im Rahmen dieser Programmatik zugleich zum Ausweis persönlicher Autonomie und damit sozialer (Selbst-)Verantwortlichkeit. Die Nichterfüllung dieses Anspruches zeitigt für das Individuum damit auf der anderen Seite zugleich notwendig negative Folgen: „Umgekehrt muss in dieser Konstellation jeder Akt unterlassener Hilfeleistung der Individuen gegenüber sich selbst als nicht nur irrationales, sondern zudem noch unmoralisches Verhalten erscheinen, gilt hier das Anzeichen fehlender oder mangelnder Aktivitätsbereitschaft nicht bloß als unwirtschaftlich, sondern asozial – als Ausweis individueller Unfähigkeit oder persönlichen Unwillens, von den gesellschaftlich gebotenen Handlungsspielräumen ökonomisch sinnvollen und sozial verantwortungsbewussten Gebrauch zu machen. So oder so zeugt entsprechendes Verhalten von offensichtlich noch unzureichender Selbstführung, die ebenso offensichtlich nach verschärfter Fremdführung verlangt.“ (S. 83).
Zugleich erscheint diese Form des Regierens in Anbetracht des formulierten Anspruches („Selbststeuerung“) als suboptimal. Das anzustrebende Ideal besteht dagegen in der Regierung durch Selbstführung, was für Lessenich nichts anderes bedeutet, „[…] als dass die Subjekte frei sind, so zu handeln, wie es der liberalen Rationalität entspricht. Moderne Macht operiert dann nicht als Gegenpart, sondern umgekehrt im Medium der Freiheit. Entsprechend hilft der liberale Sozialstaat zur Selbsthilfe, aktiviert der „neoliberale“ Sozialstaat zu Eigenaktivität.“ (S. 83 f.). Neben die weiterbestehenden, klassischen sozialpolitischen Programme und Institutionen autoritativer Bedarfszuweisung und direktiver Verhaltenssteuerung trete so vermehrt die Logik der „indirekten (Selbst-)Führung“.
Diese neue Logik des aktivierenden Sozialstaates will Lessenich im Folgenden an den sich vollziehenden Veränderungen und der administrativen Reorganisation innerhalb der verschiedenen Politikfeldern des Sozialen nachweisen:
Zuerst in der bekannten Programmatik einer „aktivierenden Arbeitsmarktpolitik“ („Fördern und Fordern) nach „Hartz„ [3], die Arbeitsuchenden eine Grundsicherung nur dann zugesteht, wenn sie sich „erwerbswillig“ zeigen und zugleich „erwerbsfähig“ halten. Dies gilt auch und gerade dann, wenn die Wirtschaft sie nicht mehr braucht, insofern es eben „kein Recht auf Faulheit (Ex-Kanzler Schröder)“ geben könne und man sich die staatliche Unterstützung durch demonstrative Aktivitätsbereitschaft („Mitwirkung“) zu verdienen habe. Dies sei schon deshalb alternativlos, weil man dies den in der Arbeitswelt „Aktiven“, den für den eigenen Lebensunterhalt, vulgo „sich selbst“ hart Arbeitenden nicht zumuten können soll.
Ähnliches gelte für eine „investive Sozialpolitik“, die der aktivierende Sozialstaat den Frauen (insbesondere Müttern) als potentiell Erwerbstätigen und ihren Kindern als zukünftiger Humanressource angedeihen lässt, etwa wenn vom nationalen „Return of Investment“ einer neuen, eben „investiven“ Kinder- und Familienpolitik die Rede ist. Diese soll insbesondere über eine bessere „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ sozial- und steuerpolitisch hergestellen werden, damit „Kind“ und „Karriere“ als anerkannte und weiterbestehende Doppelbelastung für die moderne, weil aktiv(iert)e Frau zukünftig organisier- und bewältigbar und d.h. bei natürlich weiter zunehmenden Leistungsanforderungen überhaupt aushaltbar ist.
In der Rentenpolitik sollen „junge Alte“ – schon aus unabweisbaren demographischen also „quasi-natürlichen“ Gründen (die Renten sind längst nicht mehr sicher!) – zu mehr und längerer (70-Plus!) beruflicher Aktivität befähigt werden, damit sie später nicht einem „immer weniger leistungsfähigen Sozialstaat“ zur Last liegen (müssen): „Aktivierung, so lernen wir hier eindrücklich, ist grenzenlos und unabschließbar; am oberen Ende des Lebenslauf trägt sie buchstäblich bis zur Bahre […] und die Alten und Ältesten unserer Gesellschaft können dabei auch selbst noch etwas Gutes tun, nämlich den in Schieflage geratenen „Generationenvertrag“ wieder in die Balance bringen, die intergenerationale Verteilungssymmetrie wiederherstellen – und der Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, was diese ihnen hat zukommen lassen […] Die neue Forderungslogik, so lässt sich dies verstehen, dreht den Spieß um: nun sind es die Alten, die – im Interesse aller – aktiv für sich selbst zu sorgen haben.“ (S. 115).
Im Bildungsbereich muss sich die Nation „fit“ machen bzw. halten, um im internationalen Wettbewerb (PISA!) zu reüssieren. Folglich haben das Lernen und die Lehre in der „Wissensgesellschaft“ und ihren Institutionen inzwischen schon im Primärbereich („Elementarpädagogik„; Lehrsprache möglichst – auch – Englisch!) und erst recht darüber hinaus in den Bereichen wissenschaftlicher Exzellenz „lebenslang“ und vor allen Dingen „aktiv(ierend)“ stattzufinden („Selbstlernzeit“ und „workload“!): „Deswegen muss Aktivierungspolitik alterslos, muss sie Lebenslaufpolitik sein, muss sie auf die Befähigung zu einem Leben in der und für die Aktivität zielen – von Anfang an […] So sehen (spätere) Sieger aus: wie Frühreife, in eigener und sozialer Verantwortung aktive Jungmanager ihres biografischen Alterungsprozesses. Früh übt sich das unternehmerische Selbst.“ (S. 117 f.).
Dass diese Anforderungen insgesamt mit einem entsprechenden Körper- und Fitnesskult korrelieren, die ein „schlanker Staat“ seinen Bürgern ver- bzw. vorschreibt, erscheint dabei schon fast selbstverständlich: „Nirgendwo äußerten sich Inhalte und Verfahrensweisen der Programmatik aktivgesellschaftlicher Umschulung der Subjekte in der jüngeren Vergangenheit dermaßen zugespitzt und plastisch – und das heißt auch: körperlich – wie im Falle des im Frühjahr 2007 von der Bundesregierung initiierten „Nationalen Aktionsplans Fit statt Fett“.“ (S. 116). Ein Programm, dass sich, so Lessenich, vorrangig die Beförderung der kollektiven Einsicht zum Ziel gesetzt habe, „[…] dass wir uns das Dicksein, und allgemeiner eben: dass wir uns Trägheit, Passivität und Immobilität, wo und von wem auch immer, einfach nicht mehr leisten können. Es geht um „Bewegung, Bewegung, Bewegung“ (Gesundheitsministerin Schmidt).“ (S. 123).
Und wer das alles nicht schafft, wer dabei scheitert oder bei diesem Programm einfach – und warum auch immer – nicht mitmachen will, handele sich nicht nur im Rahmen einer zunehmend auf (persönliche) Prävention ausgerichteten Gesundheitspolitik notwendig Vorwürfe der folgenden Art ein: „Wer nicht oder nicht hinreichend für sich – und damit eben auch für andere, für die anderen (vor-)sorgt, wird gewissermaßen selbsttätig – nämlich durch aktives Unterlassen - zum Risiko für die Allgemeinheit, zum riskanten Subjekt. Wer sich nicht impfen lässt, steckt andere an; wer sich nicht vorsorglich untersuchen lässt, kommt die Kasse teuer zu stehen; wer keine Prävention betreibt, ist nicht nur im engeren Sinne „selber schuld“, sondern wird zum schuldigen Selbst, macht sich auch sozial schuldig. Damit ist ein (weiteres) Wesensmerkmal des aktivierenden Sozialstaats angesprochen: die durch diesen betriebene Umkehrung der sozialpolitischen „Schuldverhältnisse“, seine neue, neo-soziale Moralökonomie.“ (S. 119).
5. „Where should we be going?“ Die Zukunft des Sozialstaats
Im fünften und letzten Kapitel fragt sich Lessenich abschließend, wie nun „wissenschaftliches Wissen praktisch“ werden und „politisch gewendet“ (S. 137) werden könne? Er stellt in diesem Zusammenhang Überlegungen zu der Frage an, was aus dieser gegenwärtig sich vollziehenden „Neuerfindung des Sozialen“ folgt – und was ihr möglicherweise entgegenzusetzen wäre?
Dazu gehört für ihn neben der (soziologischen) Analyse die „[…] Kritik in der (und an der) Aktivgesellschaft […] hieße dann, deren Angewiesenheit auf die Kooperation der Subjekte zu thematisieren, die diskursiven Überschüsse einer die Passivität des Publikums unterstellenden Aktivierungsprogrammatik zu registrieren, aktivgesellschaftliche Zustände als stets prekäre Prozesse zu problematisieren und zu dechiffrieren – in gesellschaftsverändernder Absicht.“ (S. 140). Diese Kritik solle von den Betroffenen dann praktisch als Angebot verstanden und genutzt werden, sich „anders zu verhalten„: „Sie (die Kritik, MB) stellt […] der aktivierenden „Bewegung der Regierbarmachung des Gesellschaft und ihrer Individuen“ eine andere Haltung zur Seite, eine bestimmte Weise eben dieser Bewegung zu mißtrauen, sie abzulehnen, zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren: die Kunst nicht regiert zu werden bzw. die Kunst nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden.“ (S. 140 f., Herv. MB; Lessenich zitiert hier Foucault). Oder anders: „Wenn Bewegung alles und Innehalten nichts mehr ist: Dann wird es Zeit innezuhalten, um sich anders, in eine andere Richtung zu bewegen.“ (S. 142). Schließlich könne „die Kritik an der Aktivgesellschaft, an der aktivgesellschaftlichen Re-Formierung des Sozialen, an ihren Widersprüchen, Ambivalenzen und Paradoxien […] nicht bei einer Gegenprogrammatik der Politisierung von Subjektivität stehen bleiben – und noch viel weniger ist der gesellschaftlichen Mobilmachung mit einer Privatpolitik der inneren Emigration beizukommen.“ (S. 141).
Kritik und Bewertung
Diese von Lessenich hier sehr lebensnah geschilderten Zustände sind real. Warum und zu welchem Zweck, so fragt man sich als Leser, betreibt der (Sozial-)Staat nun aber eine derartig konsequente und allumfassende Form der Inanspruchnahme und Aktivierung seiner selbst, seiner Gesellschaft und damit seiner Bürger?
Lessenich führt dazu im gesamten Werk – und dies in kritischer Absicht – Begrifflichkeiten der politischen Ökonomie („(Spät-)Kapitalismus“, „Lohnarbeit“ etc.) an, womit offensichtlich ein – wie auch immer gearteter – Zusammenhang der Aktivierungsziele und -debatten mit den gültigen politischen und wirtschaftlichen Zwecken und Interessen behauptet werden soll, ohne diesen begrifflichen Zusammenhang dann allerdings auch tatsächlich zu entwickeln. So kommt Marx zwar ständig vor, aber nicht als Kritiker der politischen Ökonomie, der mit der Analyse des „grenzen- und rastlos sich selbst verwertenden Wertes“ den selbstbezüglichen und darin zugleich rationalen wie irrationalen Inhalt kapitalistischer Produktionsverhältnisse anzugeben wusste, die – staatlich ins Recht gesetzt – wirklich seine gesamte Gesellschaft dafür (sozial-)politisch und wirtschaftlich ebenso dauerhaft wie umfassend und nun auch noch aktiv(ierend) in die Pflicht nimmt.
Stattdessen dienen diese Kategorien und die ihnen zugeordneten Zustandsbeschreibungen Lessenich der Bebilderung einer abstrakten Idee von der „Bewegung der Gesellschaft“ als dem grundsätzlichen „Konstitutions- und Funktionsprinzip des modernen Kapitalismus“ (S. 130): „Mobilität auszulösen, zu fördern und zu verwerten – sie jedoch zugleich auch zu kanalisieren, überschießende Mobilität zu bremsen und unerwünschte Mobilität zu verhindern: Das ist der „ewige“ Gang der Dinge in der kapitalistischen, (zunehmend) sozialpolitisch regulierten Lohnarbeitsgesellschaft.“ (S. 131) Damit, so Lessenich, „[…] sind (wir) Teil, und zwar aktiver Teil einer gesellschaftlichen Rechtfertigungsordnung – jener des flexiblen Kapitalismus –, in der Bewegung zum Selbstzweck wird, in der die Bewegung der Subjekte zum gesellschaftlichen Fetisch verkommt, in der die Unbeweglichkeit zum sozialen Makel gerät und die Bewegungsfähigkeit sich zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Privilegierung und Benachteiligung entwickelt.“ (S. 139; Hervorhebungen MB).
Der ganze von Lessenich dargestellte Reformaktivismus inklusive der dazu gehörenden Dauerbeschallung der Gesellschaft in aktivierender Absicht erscheint damit als ebenso permanente wie zugleich inhaltsleere „Bewegung zur Selbstbewegung“, womit sich der Gegenstand „Aktivierung“ verflüchtigt: Existente und von politischer Seite sehr vernehmlich geäußerte Gründe [4] des Aktivierungsprogramms werden zwar benannt, aber letztlich als bloßer Ausdruck von etwas Abstrakterem gedeutet, nämlich der staatlich initiierten und dauerhaft in Gang gehaltenen „Bewegung zur Selbstbewegung“. Der Staat treibt als Subjekt von „Aktivierung“ danach seine Gesellschaftsmitglieder unterschiedslos zur „Bewegung“ an und ist – als Objekt – zugleich „Getriebener“ dieser von ihm selbst erzeugten Bewegungsideologie. Deren jeweilige Inhalte in der Arbeitsmarkt-, Alten- und Gesundheitspolitik werden darüber zu beliebigen, damit austauschbaren Anwendungsfeldern und -beispielen von Aktivierung – und diese selbst damit letztlich selbstrefentiell.
Im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise ist es dann schließlich auch nur konsequent, dass „Aktivierung“ selbst als der von Lessenich behauptete methodische Kern einer „Neuerfindung des Sozialen“ begrifflich gar nicht mehr so eindeutig sein muss, wie es der Autor als Basis seiner Argumentation in seinen Ausführungen zuvor noch behauptet hatte. Diese Basis selbst wird vielmehr beliebig, insofern dem „[…] bewusst einseitig aktivierungssensible Blick auf den sozialpolitisch vermittelten Gestaltwandel der Gegenwartsgesellschaft – im Prinzip beliebig viele andere, ebenso einseitige Perspektiven auf den Gegenstand entgegengesetzt werden könnten […]“ (S. 130). „Aktivierung“ ist damit eben auch nur eine (methodische) Sicht auf die sozialstaatlichen Veränderungen – es existieren daneben aber auch noch viele andere, möglicherweise ebenso gültige „Denkmöglichkeiten“ einer „Neuerfindung des Sozialen“.
„Politische Aktivierung“ als alternative Form der Aktivierung gegen ihre sozialstaatlich gerade durchgesetzte Form könnte nach den Ausführungen Lessenichs in seinem fülnften Kapitel das (Gegen-)Programm heißen. Die Frage, ob sich die Bürger dieses „Innehalten“ innerhalb der Verhältnisse – zu ihrer Abschaffung wird ja vom Autor explizit nicht aufgerufen! – denn leisten können, wo der Staat sie nach Lessenichs Schilderungen doch offenbar mit aller (seiner) Gewalt gerade umfassend auf „Aktivierung“ verpflichtet [5], wird dabei ebenso wenig thematisiert, wie die Frage, wie dies innerhalb des Konstruktes einer zugleich allumfassenden und selbsttätigen Aktivierung überhaupt möglich sein soll (vgl. dazu die Kritik von Eickelpasch et. al. unten). Aber selbst unterstellt, ein solcher, ggf. auch praktisch widerständiger Wille zu einer entsprechenden politischen Aktion würde existieren, dann ergibt sich – auf Grundlage des von Lessenich entwickelten Gedankens einer staatlich initiierten „Bewegung zur Selbstbewegung“, eines insofern inhaltsleeren Steuerungswillens in aktivierender Absicht – ein weiteres Problem: Zu welchem Zweck soll man sich letztlich eigentlich gegen die „Aktivierung(spolitik)“ wenden (und gegen wen?) und sich „anders verhalten“, wenn sämtliche Akteure und Betroffene „Treiber und Getriebene“ zugleich sind und das ganze „System“ damit als ein mehr oder weniger selbsttätiger Mechanismus erscheint, gegen den Widerstand damit eigentlich zwecklos ist?
Im Rahmen eines anderen Begründungszusammenhanges kommt der von Lessenich zustimmend zitierte Ulrich Bröckling [6] zum gleichen Schluss. Für ihn wird die „Subversion zur Produktivkraft“ gerade der Verhältnisse, gegen die sie sich richtet, insofern sich die verlangte „individuelle unternehmerische Selbstoptimierung“ im Kapitalismus letztlich durch ihre Vereinnahmung und Funktionalisierung in dessen eigentliche Triebkraft verwandele, womit Kritik letztlich sinnlos werde [7]. Wenn Widerstand, Subversion und „Anders-Sein“ sich gerade als Funktionsbedingung und „Schmiermittel“ des Systems erweisen, bleibt der Kritik als Fluchtpunkt – so Bröckling – letztlich nur die „paradoxe Aufgabe, anders anders zu sein„ [8]. Wenn man die Verhältnisse, die dieses „Anders-Anderssein“ erst erzwingen, nicht beseitigen kann oder will, dann „hilft“ eben nur noch, sich eine andere Haltung zu ihnen zuzulegen. Das erspart den Betroffenen praktisch zwar auch nichts, weil der neue Regierungsmodus, wie von Bröckling und Lessenich gerade beschrieben, in seinem Anspruch und seiner Praxis allumfassend ist, dient aber dazu, sich den kritisierten Umständen akkommodieren, sich ihnen also letztlich – im Bewußtsein ihrer Kritik – anpassen zu können.
Eine widersprüchliche Aufforderung, die das ihr zugrundeliegende Paradoxon letztlich nicht auflösen kann: „Diese Denkfigur wirft nun aber eine Reihe von Fragen auf. Abgesehen davon, dass sie – in offenem Widerspruch zu den Grundannahmen des Gouvernementalitätsansatzes – ohne die implizite Unterstellung eines leidenden Subjekts und damit eines vorsozialen „Außen“ nicht auskommt, bleibt offen, unter welchen Bedingungen die gegen die „Tyrannei der Selbstverantwortung„ [9] rebellierenden Individuen ihre Wut in solidarischen Widerstand überführen und unter welchen sie diese – als Depression und individuelles Unglück – ausschließlich gegen sich selbst richten, was wiederum eine Bestätigung dieser Tyrannei wäre. Mit dem Überbietungsgestus des Imperativs „anders anders zu sein“, wird jedenfalls, wie es scheint, dem selbstkonstruierten paradoxalen Immanenzzusammenhang von Autonomie und Fremdbestimmung, von Freiheit und Unterdrückung kaum zu entkommen sein.„ [10]
Fazit
Die Beurteilung des Bandes fällt auf Grund der formulierten Kritik deshalb letztlich zwiespältig aus: Könnte man das Methodische – quasi als bloßen Zusatz – einfach von den inhaltlichen Schilderungen (insbesondere im vierten Kapitel) trennen, dann erhielte man einen durchaus profunden Ein- und Überblick in bzw. über die sozialstaatlichen Grundlagen, die Entwicklung der Verlaufsformen sowie die aktuelle Umsetzungspraxis (sozial-)staatlicher Aktivierungspolitik, wozu der überwiegend – im positiven Sinne – wohltuend „alltagssprachliche“ und zugleich pointierte Schreibstil viel beiträgt.
So „einfach“ will es Lessenich sich und seinen Lesern allerdings nicht machen, denn darauf kommt es ihm gerade an: Die Verwandlung seines Gegenstand in einen Anwendungsfall soziologischer Abstraktion, was die Intention des Textes – zumal für Rezipienten, die nicht in der Fachterminologie zu Hause sind – an begrifflich zentralen Stellen dann letztlich verrätselt. Damit erweist sich der Autor im Hinblick auf die von ihm ja ausdrücklich intendierte praktische Wirkung seines Werkes keinen Dienst, insofern der formulierte methodische Gedanke einer „Bewegung zur Selbstbewegung“ der unterstützungswürdigen Sache der „Aufklärung“ und der von ihm proklamierten „politischen (Gegen-)Aktivierung“ eher abträglich ist.
[1] Lessenich selbst warnt an anderer Stelle zugleich davor, „[…] steigende Sozialausgaben und erweiterte Sozialprogramme leichthin als Ausweis für zunehmende Wohlfahrtsproduktion zu nehmen.“ (S. 18). Wenn damit mehr gemeint sein soll, als dem Sozialstaat und seinen Programmen „Ineffizienz und Verschwendung“ vorzuwerfen, dann stellt der Umstand steigender Sozialausgaben dem Sozialstaat umgekehrt nämlich auch kein gutes Zeugnis aus: Immer mehr Menschen - darunter auch vermehrt solche, die einer sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung nachgehen – sind offensichtlich nicht mehr in der Lage, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Wenn man diesen Tatbestand nicht gleich und einzig auf die Bestreitung ihres Willens dazu reduzieren will, ist damit die Frage thematisiert, warum sie es dauerhaft und in steigender Zahl eigentlich nicht können, was dann statistisch an einer gleich bleibenden bzw. für bestimmte Bevölkerungsgruppen in Teilen ansteigenden Sozialleistungsquote ablesbar ist.
[2] Vogel, Berthold (2007): Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, Hamburg.
[3] Vgl. dazu ausführlich und sehr erhellend: Birenheide, Almut; Legnaro, Aldo (2008): Regieren mittels Unsicherheit. Regime von Arbeit in der späten Moderne, Konstanz, S. 33 f.
[4] Ex-Bundeskanzler Schröder hat sie in seiner Regierungserklärung von März 2003 („Agenda 2010“) öffentlich kundgetan und daraus (s)ein politisches Programm gemacht: Der „Standort Deutschland“ müsse seinen geostrategischen, politischen und wirtschaftlichen Platz in der globalisierten Welt finden bzw. behaupten. Dafür sei die ganze Republik im Inneren auf „Tauglichkeit“ hin zu begutachten, d. h. ihr Wirtschafts-, Rechts- und Sozialsystem – wo nötig – „dauerhaft und nachhaltig zu reformieren, d.h. zu modernisieren“ und dafür haben sich dann auch alle Bundesbürger – vom Unternehmer bis zum Hartz-IV-Empfänger, jeder an seinem Platz – in privater und beruflicher Hinsicht und in allen Lebensbereichen (selbst) „fit“ zu machen und zu halten.
[5] Vgl. dazu Wacquant, Lo•c (2008): Bestrafen der Armen. Zur neuen Regierung der sozialen Unsicherheit, Opladen. Wacquant zeigt hier wie die Unterschicht im Zeitalter prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen vom „wohlwollenden und schützenden Arm“ des Wohlfahrtsstaates in aktivierender Absicht „behütet“ wird und wie er – als „strafender Staat“ – diese Programmatik insbesondere in Bezug auf seine Kriminalpolitik komplementär zugleich hart und aggressiv gegen sie durchsetzt.
[6] Vgl. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst, Frankfurt/Main.
[7] „Wenn es aber ein vom neoliberalen Regime der Gouvernementalität unberührtes Außen oder einen ihm entzogenen Innenraum des Subjekts nicht gibt, dann muss Kritik auf einen externen „Standpunkt“, von dem aus sie ihren Einspruch erheben könnte, verzichten.“ Eickelpasch, Rolf; Rademacher, Claudia; Ramos Lobato, Philipp (2008): Diskursverschiebungen der Kapitalismuskritik – eine Einführung, in: Dies. (Hrsg.): Metamorphosen des Kapitalismus und seiner Kritik, Wiesbaden, S. 13.
[8] Bröckling, a.a.O., S. 285.
[9] Ebd., S. 290.
[10] Eickelpasch et. al. , a.a.O., S. 13 f.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website
Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.
Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 03.01.2009 zu:
Stephan Lessenich: Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. transcript
(Bielefeld) 2008.
ISBN 978-3-89942-746-2.
Reihe: X-Texte zu Kultur und Gesellschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6910.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.