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Stefan Welling: Computerpraxis Jugendlicher und medienpädagogisches Handeln

Rezensiert von Dr. Stefan Anderssohn, 25.11.2009

Cover Stefan Welling: Computerpraxis Jugendlicher und medienpädagogisches Handeln ISBN 978-3-86736-060-9

Stefan Welling: Computerpraxis Jugendlicher und medienpädagogisches Handeln. kopaed verlagsgmbh (München) 2008. 324 Seiten. ISBN 978-3-86736-060-9. 19,80 EUR.
Reihe: Medienpädagogische Praxisforschung - 4.

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Medienpädagogik in der offenen Jugendarbeit

Nicht nur an Schulen, auch in der offenen Jugendarbeit haben sich Computer und Internet mittlerweile als pädagogische Medien etabliert. Ihr Einsatz verbindet sich häufig mit der Hoffnung, benachteiligten Jugendlichen Bildungschancen zu eröffnen.

Angesichts dieser allgemein anerkannten und wichtigen Funktion ist es umso erstaunlicher, wenn Stefan Welling konstatiert, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit medienpädagogischen Konzeptionen der offenen Jugendarbeit "über weite Strecken auf eine empirische Operationalisierung ihrer Theorie und Forschungsfragen verzichtet" (Seite 10). Um diesem Defizit zu begegnen, legt der Autor eine qualitative empirische Arbeit vor, die sich mit den milieuspezifisch-biografischen Einflüssen auf die Computernutzung von Jugendlichen beschäftigt und zweitens aus professioneller Sicht der Frage nachgeht, wie die medienpädagogischen Angebote im intergenerationalen Verhältnis zwischen Jugendlichen und Jugendzentrumsmitarbeitern wirksam werden.

Bei der Veröffentlichung handelt es sich um eine gekürzte Fassung der Dissertation des Autors an der Universität Bremen.

Autor

Dr. Stefan Welling, Jahrgang 1970, hat ein Studium der Sozialwissenschaften absolviert und arbeitet seit 2003 als Wissenschaftler am »Institut für Informationsmanagement Bremen GmbH«. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen Themen wie schulische Integration digitaler Medien, Bildung mit digitalen Medien und qualitative Bildungsforschung.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in drei Teile:

  • Der erste Teil ("Theoretischer Hintergrund") entwickelt die konzeptionelle Basis, auf welcher der nachfolgende empirische Teil konzeptionell aufbauen wird. Innerhalb der Darstellung der offenen Jugendarbeit und ihrer medienpädagogischen Bezugspunkte erweisen sich einige Begriffe für den Autor als zentral, zuvorderst "Bildung" und "Milieu". Bildung ist für Welling im Grunde Empowerment, Selbstbildungsmöglichkeit und Gestaltung einer selbstbestimmten Lebensführung. Der Autor widersetzt sich damit einem ökonomisch instrumentalisierten Bildungsbegriff als zweckrationaler Wissensaneignung, vielmehr sieht er im Bildungsprozess einen gehörigen Anteil Unbestimmbarkeit - was eine Anknüpfung an die offene Jugendarbeit geradezu aufdrängt. Der Begriff "Milieu" bezieht sich dann auf die soziale Verbindung, welche sich auf die strukturidentischen Biografien, Sozialisationsgeschichten und die kollektiven Erlebnisse von Jugendlichen gründet. Dieses Milieu wiederum liefert den Orientierungsrahmen (Habitus), innerhalb dessen auch medienpädagogische Angebote von den Jugendlichen aufgegriffen oder abgelehnt werden. Des Weiteren spielen intergenerationale Prozesse in der Medienpädagogik eine wichtige Rolle, d.h. der Austausch zwischen den älteren Mitarbeiter/innen der Jugendarbeit und den Jugendlichen selbst, welcher wiederum gerahmt ist durch gesetzliche und konzeptionelle Bestimmungen. Weshalb aus Sicht Wellings eine eigenständige Beachtung der Perspektive der Sozialarbeiter/innen Sinn mache.
  • Der knapp 120 Seiten umfassende zweite Teil, "Die adoleszenten Computermedienpraxen im Milieuvergleich", bringt die Ergebnisse der Gruppendiskussionen, die der Autor zwischen 2002 und 2005 mit etwa 50 Jugendlichen (im Alter von 15-18 Jahren) in neun Jugendeinrichtungen geführt hat. Die dargestellten Gruppen sind so ausgewählt, dass sie sowohl bildungsferne als auch bildungserfolgreiche Jugendliche erfassen sowie Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Anhand von transkribierten Diskussionsverläufen arbeitet Welling milieuspezifische, medienpädagogisch relevante Themen der Jugendlichen heraus. Der Autor gibt den Jugendgruppen plakative Bezeichnungen, wie z.B. der Gruppe "Backstein", die aus zwei Jungen und zwei Mädchen besteht. Anhand dieser Gruppe zeigt Welling geschlechtsspezifische Ausprägungen der Medienpraxis sowie den hohen Stellenwert von LAN-Partys bei der "Enaktierung" alltäglicher Computermedienpraxis der Jungen. Andere Jugendgruppen hingegen setzen unterschiedliche Schwerpunkte: So steht für die Gruppe "Sofa" an einem anderen Jugendzentrum die Freiheit zu episodischem Handeln (d.h. der schnelle Wechsel von computerbezogenen und anderen Aktivitäten) im Vordergrund. Insgesamt gelingt es Welling anhand der Diskussionen in diesem Jugendzentrum, verschiedene interessante Aspekte der Medienpraxis von Jugendlichen aufzuzeigen: Insbesondere das Verhältnis von Internet- bzw. Computernutzung und berufs- und bildungsbiografischen Perspektiven - vor allem dort, wo kein wirklicher Zusammenhang zwischen beiden besteht. Obschon viele Jugendliche die allgemeine Relevanz der Computermedienkompetenz für den Beruf anerkennen, fehle es ihnen aufgrund von "Orientierungsdiskrepanzen" (Seite 127) an Strategien, diese für ihre berufliche Perspektive gezielt zu erweitern. Andererseits herrsche bei den weiblichen Jugendlichen der betreffenden Gruppen zwar eine positive Einstellung zu beruflicher Karriere vor, doch es dominiere der "Wunsch nach etwas Großartigem, der aber ausschließlich von körperlich-aktionistischen, wettbewerbsmäßig angelegten Praxen gerahmt" (Seite 128) werde – also auf den ersten Blick konträr zu medienpädagogischen Arbeitsformen und -prozessen läuft. Dies mag als Einblick in Wellings fallbezogene Analysen genügen, die der Autor in diesem zweiten Teil seiner Arbeit differenziert ausführt: Alles in allem mit einer ziemlich ernüchternden Bilanz. Die offene Jugendarbeit hat es schwer, mit ihren medienpädagogischen Angeboten – insbesondere, wenn diese an Voraussetzungen gebunden sind (Stichwort: "PC-Führerschein") oder als umfangreiche Projekte organisiert werden (Stichwort: "Homepage-Bau") – an die milieuspezifischen Perspektiven der Jugendlichen anzuknüpfen und dauerhafte Motivation zu erzeugen.
  • "Die medienpädagogische Praxis der JugendarbeiterInnen" – Teil 3 der vorliegenden Veröffentlichung – erörtert das Thema aus Sicht der Professionellen: Da Medienpädagogik stets zwischen den Mitarbeiter/innen und den Jugendlichen stattfindet, ist es nur konsequent, dass Welling mit derselben empirischen Methode die Standpunkte der Jugendzentrumsmitarbeiter/innen einholt. Interessanterweise sind die wahrgenommenen Defizite in der Handhabung digitaler Medien nur ein Grund für die problematische Medienpädagogik in der offenen Jugendarbeit. Darüber hinaus erscheinen das Episodenhafte, die Voraussetzungslosigkeit, die Unbestimmtheitsdimension pädagogischer Prozesse, Zweckrationalität und Instrumentalisierung der Medien und die Dominanz der Beziehung zu den Mitarbeiter/innen als stark limitierende Vorbedingungen für das medienpädagogische Handeln dort. Woraufhin auch Welling dazu neigt, statt von Medienpädagogik hier von einer "Pädagogik mit Medien" zu sprechen (Seite 264).
  • Das Fazit in Kapitel 10 (dem Teil 3 zugehörig) hätte meiner Ansicht nach eigentlich eines eigenen Teils bedurft, da hier noch einmal etwas Neues beginnt: Die bisherigen Ausführungen zu den einzelnen Fragestellungen werden auf knapp dreißig Seiten verdichtet und in ein "situativ medienorientiertes Praxismodell" überführt: Die Abkehr von der Medienpädagogik im Sinne einer medialen Kompetenzschulung setzt hier einen wichtigen Impuls. Vor dem Hintergrund der qualitativ-empirischen Analysen und Befunde stellt Welling die Passung der projektorientierten Medienpädagogik für die offene Jugendarbeit in Frage. Zwar habe sich die Projektmethode hier allgemein bewährt, doch berge sie gerade in medienpädagogischen Belangen viele Hindernisse. Als Praxisalternative zu diesem Modell biete es sich an, kleinere, situativ abgestimmte Angebote für die Jugendlichen zu machen, wobei die Medien an sich eine untergeordnete Rolle spielen. Derartige Aktivitäten wären etwa: Digitalfotos aufzunehmen, eine Diashow zu erstellen oder einen Blog-Artikel zu verfassen. Diese voraussetzungslosen, ergebnisoffenen Aktivitäten mit Medien würden dem episodenhaften Handeln, dem starken Gegenwartsbezug und der Spontaneität der Jugendlichen eher entgegenkommen. Das pädagogische Ziel der Medienkompetenzschulung spiele dabei eine untergeordnete bis marginale Rolle.

Zielgruppe

Obschon die Teile 2 und 3 auch für professionelle „Praktiker/innen“ aus der offenen Jugendarbeit sehr aufschlussreich sein dürften, wird das Buch vom Stil, seiner Aufmachung und dem Umfang her eher das akademische Lesepublikum in Studium und Lehre – vornehmlich aus dem Bereich der Sozialpädagogik, Erziehungs- und Sozialwissenschaft – ansprechen.

Diskussion

Wer schon einmal medienpädagogische Angebote für Jugendliche im Bereich Computer und Internet initiiert hat, dürfte die Sachverhalte kennen, die Stefan Welling in seiner empirischen Arbeit vor Augen führt. Innerhalb schulischer Bildungsprozesse ist es der verbindliche Kontext, der die projektorientierte Medienpädagogik unterstützt und dauerhafte Beteiligung an langwierigen, komplexeren Vorhaben sicherstellt. Anders in der offenen Jugendarbeit, die einen viel unverbindlicheren Charakter trägt. Umso mehr wird die Anknüpfung an die Lebenswelt der Jugendlichen entscheidend, doch diese ist besonders unter medienpädagogischen Gesichtspunkten gar nicht so einfach zu treffen: Es ist Wellings Verdienst, in seiner Arbeit darzustellen, warum gerade dieser kritische Schritt in der Praxis so schwierig ist. In den Analysen werden milieuspezifische Perspektiven greifbar, welche unterschiedliche Wahrnehmungshorizonte und Medienpraxen der Jugendlichen deutlich werden lassen. Wohlgemerkt: Selten steht bei ihnen das Medium an sich im Mittelpunkt, für welches die Medienpädagogik "kompetent" machen will. Vielmehr scheint es Wellings Erkenntnis zu sein, dass PC und Internet kein Selbstzweck sind, den es als speziellen Lerninhalt zu erarbeiten gilt, sondern dass sich Medien mit zunehmender Integration in den Alltag eben auch alltäglichen Zwecken und Zielen unterordnen.

Konsequent erscheint daher Wellings Infragestellen des herkömmlichen Medienkompetenzmodells und seine Abkehr von der Projektorientierung als allein gültiger Methode. Nach wie vor dürfte es auch in der offenen Jugendarbeit noch Medienprojekte geben, doch muss eine zu den jugendlichen Lebenswelten „kompatible“ "Pädagogik mit Medien" andere Wege gehen. Zukünftig wird dabei zu klären sein, wie das situative, d.h. kleinschrittig-reduzierte Modell des Medieneinsatzes von der Projektmethode sinnvoll abgegrenzt bzw. mit Inhalt gefüllt werden kann und dadurch weiter Gestalt gewinnt.

Angesichts der authentischen, „geerdeten“ Sprache der Jugendlichen, die in der Arbeit zu Wort kommen, wirken Wellings komplexe Meta-Analysen zuweilen etwas weltfremd und abgehoben. Etwa bei der Beschreibung der stark "körperlich-aktionistischen" "Handlungspraxis" einiger Mädchen in einem Jugendtreff, die sich Videoclips "mimetisch" aneignen und sich im Zuge der "Performance" den "zugrunde liegenden Handlungsmodus" erschließen (Seite 157f.). Man könnte einfach auch sagen: Diese Mädchen haben Spaß daran, Videoclips nachzutanzen.

Dabei hat die vorliegende Arbeit wissenschaftliche Verklärung und Fremdwort-Hypertrophie gar nicht nötig: Sie gewinnt ihre Relevanz ja gerade aus der Nähe zur Lebenswelt der Jugendlichen, in der authentischen Rekonstruktion ihrer milieuspezifischen Bezugssysteme. Zwar lassen sich aus den Befunden im Vorwege keine allgemeingültigen Voraussagen deduzieren – worauf der Autor auch hinweist – , doch werden den Leser/innen in den Fallgeschichten interessante Hinweise an die Hand gegeben, bei „ihren“ Jugendlichen nach Anknüpfungsmöglichkeiten für entsprechend elementarisierte medienpädagogische Angebote zu suchen.

Fazit

In der Verschränkung von soziokulturellen Zugangsweisen und professionellen Perspektiven gelingt es dem Autor Stefan Welling mit seiner qualitativ-empirischen Arbeit, die Bedingungen und Probleme gegenwärtiger Medienpädagogik in der offenen Jugendarbeit authentisch darzustellen und ein alternatives Praxismodell anzuregen.

Rezension von
Dr. Stefan Anderssohn
Sonderschullehrer an einer Internatsschule für Körperbehinderte. In der Aus- und Fortbildung tätig.
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Es gibt 47 Rezensionen von Stefan Anderssohn.

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Zitiervorschlag
Stefan Anderssohn. Rezension vom 25.11.2009 zu: Stefan Welling: Computerpraxis Jugendlicher und medienpädagogisches Handeln. kopaed verlagsgmbh (München) 2008. ISBN 978-3-86736-060-9. Reihe: Medienpädagogische Praxisforschung - 4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6940.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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