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Britta Grell: Workfare in den USA

Rezensiert von Dipl. Politologe Christian Schröder, 03.10.2009

Cover Britta Grell: Workfare in den USA ISBN 978-3-8376-1038-3

Britta Grell: Workfare in den USA. Das Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik. transcript (Bielefeld) 2008. 474 Seiten. ISBN 978-3-8376-1038-3. 36,80 EUR.

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Autorin

Britta Grell ist Politikwissenschaftlerin und arbeitete bis vor kurzem in der Abteilung Politik des John-F.-Kennedy-Instituts der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozial-, Arbeitsmarkt- und Migrationspolitik sowie städtische soziale Bewegungen in den USA. Von ihr erschienen unter anderem die Studie „Nonprofit-Organisationen und die Transformation lokaler Beschäftigungspolitik“ (gemeinsam mit Volker Eick u.a., Westfälisches Dampfboot, 2004) und der Zeitschriftenaufsatz „Immigrant Rights Campaigns. Transnationale Migranten als Träger neuer städtischer sozialer Bewegungen in den USA“ (Prokla, Nr. 149/2007).

Thema

Die große US-Sozialhilfereform von 1996, die einen strikten Arbeitszwang für alle LeistungsempfängerInnen einführte, stieß auch in Europa auf reges Interesse. Britta Grell reflektiert in ihrer Dissertation die bislang nur wenig beachteten Auswirkungen und sozialen Kosten dieses Prozesses am Beispiel der Umwandlung der Familiensozialhilfe in ein befristetes und kommunales Transfer- und Beschäftigungsprogramm. Im Zentrum des neuen „Armengesetzes“ – dem „Personal Responsibility and Work Opportunity Reconciliation Act“ (PRWORA) von 1996 – stand die Eliminierung eines seit den 1930er Jahren bestehenden Rechtsanspruchs von armen Familien auf bundesstaatliche Unterstützung. Sie zeigt, dass diese Workfare-Politik die Armut noch verschärft hat, analysiert wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen auf diese Politik reagiert haben und erläutert vor welchen sozialpolitischen Herausforderungen Städte wie New York und Los Angeles zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen. Ziel ihrer Arbeit, ist es anhand einer Auswertung von vorliegenden empirischen Forschungsarbeiten und zwei eigenen qualitativen Fallstudien zur Umsetzung der Sozialhilfereform fundierte Aussagen über den Charakter der neuen Workfare-Regime in den USA zu treffen.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Kapitel „Sozialhilfereform in den USA: ‚Ending Welfare As We Know It‘?“ erläutert die Autorin die „offiziellen Zielsetzungen“ der Welfare Reform von 1996 und skizziert den aktuellen Forschungsstand der „kritischen Sozialwissenschaften“ – darunter zählt sie politik- und institutionenzentrierte, kultur- und ideologiekritische, poststrukturalistische sowie neomarxistische Ansätze –, die die US-amerikanische Welfare Reform als „Teil eines weitreichenden staatlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozess verstehen“ (45). Abschließend definiert sie Workfare als ein Politikprogramm: „Workfare-Maßnahmen in ihrer aktuellen Variante erhöhen mittels der Anwendung unterschiedlicher Sanktions- und Abschreckungsinstrumente – die von Land zu Land […] und von Stadt zu Stadt variieren können – den Druck auf immer größere Teile der lohnabhängigen Bevölkerung, Arbeitsverhältnisse zu Bedingungen einzugehen, die sie ohne die Abschaffung bzw. Konditionalisierung von Sozialtransfers nicht akzeptiert hätten.“ (78)

Das zweite Kapitel „Die Re-Förderalisierung und Re-Konditionalisierung der Sozialhilfepolitik“ beginnt mit einem Überblick zur US-amerikanischen Sozialhilfepolitik seit den 1960er Jahren. Anschließend analysiert die Autorin die Ende der 1990er Jahre erlassenen Sozialhilfegesetze in den Einzelstaaten, die als Reaktion auf die neuen bundesstaatlichen Vorgaben verabschiedet wurden. Sie widmet sich der widersprüchlichen Rolle der US-amerikanischen Bundessstaaten im Prozess der Re-Förderalisierung und Re-Konditionalisierung von Sozialhilfeleistungen, der in den USA lange vor der Verabschiedung der Welfare Reform einsetzte. Britta Grell zeigt, dass fast alle Bundesstaaten – unabhängig ihrer Arbeitsmarktsituation und sozialpolitischen Tradition – in weiten Teilen der zentralstaatlichen Vorgaben gefolgt sind und zum Teil noch striktere Gesetze erlassen haben.

Im dritten Kapitel „Urbane Workfare-Regime im Zeichen der Devolution“ geht die Autorin in zwei Fallstudien den Auseinandersetzungen um die Ausgestaltung der neuen Sozialhilfepolitik in den US-amerikanischen Großstädten New York und Los Angeles nach. Nach Einschätzung der Autorin sind es vor allem drei Faktoren, die Ausrichtung und Entwicklung der jeweiligen urbanen Workfare-Regime maßgeblich beeinflussen: die Gesetze des Bundes und der Einzelstaaten (1), die lokalen ökonomischen Rahmenbedingungen (2) und die Stärke lokaler sozialpolitischer Oppositionen (3). Sowohl in New York als auch in Los Angeles hat es größere lokale Protestbewegungen und -bündnisse gegen die Sozialhilfereform gegeben. Die Politikwissenschaftlerin interessiert sich für die Handlungsspielräume lokaler sozialpolitischer Oppositionsbewegungen in den USA und lotet Stärken und Schwächen dieser Koalitionen aus. Ihr Fazit: Insgesamt sind diese Proteste „gemessen an ihren eigenen Zielsetzungen – bislang weitgehen erfolglos blieben“ (344). Dabei können sie durchaus auf Erfolge blicken wie etwa die „Verteidigung der sozialen Rechte von MigrantInnen, die Kontrolle und Zurückdrängung offen diskriminierender Verwaltungspraxen sowie einige juristische und legislative Siege, die das Recht von Transferempfängern auf Weiterbildung stärkten“ (356). Größter Misserfolg der Protestbewegungen in beiden Metropolen ist, dass sie es nicht geschafft haben, einen dauerhaften öffentlichen Beschäftigungssektor für SozialhilfeempfängerInnen und Erwerbslose zu fairen Bedingungen zu etablieren.

In ihrem Resümee „Die subnationale und urbane Ebene als Entsorgungsmechanismus“ kommt die Wissenschaftlerin auf ihre These zurück, das mit „mit der Rückverlagerung von Verantwortung auf die subnationale Ebene die bereits in staatlicher Sozial- und Armutspolitik angelegten autoritären und punitiven Züge tendenziell gestärkt und somit neue Ausgrenzungsprozesse forciert werden, die sich unter anderem in diversen Formen des ‚Bureaucratic disentitlement‘ (Lipsky 1984) niederschlagen“ (21f). Die langfristigen Kosten und Konsequenzen der US-amerikanischen Sozialhilfereform lassen sich – so ihr Hauptargument – nur verstehen und erklären, wenn die spezifische föderalistische Struktur der Vereinigten Staaten und die Bedeutung der subnationalen und urbanen Ebene als ‚Entsorgungsmechanismus des Zentralstaats‘ Berücksichtigung finden.

Abschließend skizziert Britta Grell mehrere Szenarien zur Zukunft der Sozialpolitik in US-Metropolen: Eine pessimistische Variante, wonach die Sozialhilfereform nur der Auftakt für weitergehende bundesstaatliche Sozialkürzungen ist; eine wahrscheinliche Variante, wonach es „neue Experimente und Formen des Mikromanagements der Armutsbevölkerung, inklusive weiterer lokalstaatlicher und gesellschaftlicher Separierungs- und Repressionspraktiken” (359) geben wird, die oftmals auf dem Rücken von MigrantInnen abgewälzt werden. Unter den Bedingungen eines Machtwechsels innerhalb der Demokratischen Partei und des Weißen Hauses, ist für die Autorin auch eine positivere Variante möglich, wobei es zu einer bundesweiten gesetzlichen Krankenversicherung und der Zentralisierung des Arbeitslosenversicherungssystems kommen könnte. Mit dem Amtsantritt vonBarack Obama sind ihre beiden formulierten Grundbedingungen mittlerweile erfüllt – es wird sich zeigen, was aus der Ankündigung des neuen US-Präsidenten zu einer Ausweitung und Reform der Krankversicherung wird.

Fazit

Als veröffentlichte Doktorarbeit richtet sich diese Studie vornehmlich an eine akademische Zielgruppe. Doch auch hierzulande könnte sie für engagierte GewerkschafterInnen, MitarbeiterInnen von Wohlfahrtsverbänden und Erwerbslosen-AktivistInnen interessant sein. Denn Britta Grell beschreibt politische Prozesse und Entwicklungen, mit denen sich sozialpolitische Oppositionsbewegungen auch hierzulande auseinandersetzen sollten. Wenn auch die Besonderheiten des US-amerikanischen politischen Systems, seine spezifische nationale und lokale historische Konfiguration sich nicht auf Deutschland übertragen lassen, so ist die Dezentralisierung der Erwerbslosenfürsorge auch hier dauerhaft Streitthema. Es bleibt abzuwarten, welche Sparmaßnahmen die Erwerbslosen zu ertragen haben, wenn sich die Kosten der Wirtschafts- und Finanzkrise in den öffentlichen Haushalten niedergeschlagen haben.

Rezension von
Dipl. Politologe Christian Schröder
Evangelische Sozialberatung Bottrop (ESB)
Website

Es gibt 17 Rezensionen von Christian Schröder.

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Zitiervorschlag
Christian Schröder. Rezension vom 03.10.2009 zu: Britta Grell: Workfare in den USA. Das Elend der US-amerikanischen Sozialhilfepolitik. transcript (Bielefeld) 2008. ISBN 978-3-8376-1038-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6961.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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