Franzjörg Baumgart (Hrsg.): Theorien der Sozialisation
Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Oberholzer, 11.08.2009
Franzjörg Baumgart (Hrsg.): Theorien der Sozialisation. Erläuterungen - Texte - Arbeitsaufgaben.
Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2008.
4., durchges. Auflage.
260 Seiten.
ISBN 978-3-8252-3091-3.
D: 18,90 EUR,
A: 19,50 EUR,
CH: 34,00 sFr.
Reihe: UTB - 3091. Studienbücher Erziehungswissenschaft - Band 3.
Thema
Das Studienbuch „Theorien der Sozialisation“ von Franzjörg Baumgart erscheint bereits in vierter Auflage. Es ist eines von insgesamt fünf Studienbüchern zu sozial- und erziehungswissenschaftlichen Themen, welche der Autor zum Teil zusammen mit weiteren AutorInnen herausgegeben hat. AdressatInnen sind Studierende im Lehramtsstudium und Studierende anderer erziehungswissenschaftlicher Ausbildungsgänge. Wie Baumgart schreibt, ist das Studienbuch als Hilfestellung gedacht, um sich erfolgreich in einen anspruchsvollen grundlagentheoretischen Diskurs einarbeiten zu können. Es ist zum einen als Arbeitsgrundlage für das Studium an der Ruhr-Universität Bochum konzipiert. Es soll aber auch von anderen Studierenden zur selbständigen Erarbeitung der verschiedenen Themenbereiche genutzt werden können. Zielsetzung des Studienbuchs ist die Reflexion und Korrektur von Alltagswissen sowie die Einführung in wissenschaftliches Denken und die Theoriebildung.
Überblick
Im Studienbuch werden verschiedene Texte und Auszüge aus Texten zu Theorien, Konzepten und Positionen zum Verhältnis von Gesellschaft und Sozialisation vorgestellt. Es sind dies ausgewählte Arbeiten von Durkheim, Mead, Parsons, Habermas und Bourdieu. Wie Baumgart schreibt, war das Kriterium für die Auswahl dieser Autoren und ihrer Arbeiten deren herausragende Bedeutung und ihr Einfluss auf die wissenschaftliche Diskussion. Als Rahmenkonzept und Ordnungssystem dient dem Studienbuch das Sozialisationskonzept von Hurrelmann. Das Studienbuch verzichtet explizit auf die Darstellung des aktuellen Diskurses über Forschung und Entwicklung im Themenbereich Sozialisation.
Die verschiedenen Autoren werden jeweils kurz vorgestellt, bevor dann ausgewählte Texte aus ihrem Gesamtwerk vorgestellt werden. Neben diesen als unverzichtbar bezeichneten Texten werden zusätzlich ergänzende Texte vorgestellt, welche als mögliche Ergänzung für die jeweiligen Sozialisationstheorien gedacht sind. Solche Ergänzungstexte stammen zum einen von den Hauptautoren selber. Sie stammen zum Teil aber auch von anderen Autoren. Diese zusätzlichen Texte sollen das Verständnis der Theorien vertiefen und erweitern.
An alle Texte gliedern sich Arbeitsaufgaben an. An ihnen sollen die LeserInnen ihr Textverständnis prüfen und erweitern können. Die Fragen der Arbeitsaufgaben orientieren sich laut Baumgart an den zentralen Argumentationsfiguren und sollen auf die Besonderheiten der jeweiligen Argumentation im Vergleich zu anderen Positionen, die vorher erarbeitet worden sind, aufmerksam machen.
Inhalt
Zu Beginn werden die sieben Maximen zur Sozialisationstheorie von Klaus Hurrelmann vorgestellt. In diesen Maximen skizziert dieser jene Anforderungen, denen eine seiner Ansicht nach umfassende Sozialisationstheorie genügen muss. Wie Baumgart festhält, werden in den Maximen von Hurrelmann systematisch die Fragen vorgestellt, welche im Rahmen einer Sozialisationstheorie beantwortet werden müssten.
Den Anfang der Textesammlungen machen drei Textauszüge aus Émile Durkheim Werk „Erziehung, Moral und Gesellschaft“, wobei zum besseren Verständnis der beiden Texte noch ein erläuternder Text von Hermann Korte zu Durkheims Theorie moderner Gesellschaften vorangestellt wird. Durkheims Arbeiten werden deswegen als besonders bedeutend erachtet, da dieser, anders als viele PädagogInnen seiner Zeit, die Erziehung als genuin gesellschaftliches Phänomen beschrieb (Baumgart, 2008, S. 32). Wie Baumgart schreibt, stellten Durkheims Arbeiten den ersten grossen Versuch dar, Erziehung als Bindeglied zwischen Individuum und Gesellschaft systematisch zu beschreiben, die Form der Sozialisation der Heranwachsenden aus den Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft abzuleiten und zugleich nachzuweisen, dass die Gesellschaft für ihr Überleben auf die entsprechende Sozialisation angewiesen sei. Gesellschaftliches Zusammenleben könne, so Durkheim nur funktionieren, wenn die Individuen die überlebensnotwendigen Regeln der Gesellschaft durch Erziehung und Sozialisation gleichsam als zweite Natur verinnerlichten.
An Durkheims Texte schliessen ausgewählte sozialisationstheoretische Überlegungen von Talcott Parsons an. Auch hier wird wiederum ein einführender Text vorangestellt. Er stammt von Klaus-Jürgen Tillmann und geht auf Parsons' Vorstellung von Gesellschaft und Sozialisation ein. Parsons geht in seinen grundlegenden sozialisationstheoretischen Überlegungen davon aus, dass jede Gesellschaft als komplexes System in Auseinandersetzung mit ihrer natürlichen Umwelt und anderen Gesellschaftssystemen nach Selbsterhaltung strebt. Für Parsons hängt die Stabilität von Gesellschaftssystemen massgeblich davon ab, dass die Handlungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder und die Wünsche, Interessen und Bedürfnisse, die diesen individuellen Handlungen zugrunde liegen, mit den funktionalen Anforderungen der Gesellschaft, bzw. mit den jeweiligen Spielregeln in den gesellschaftlichen Teilsystemen harmonieren oder diesen zumindest nicht widersprechen (Baumgart, 2008, S. 82). Ein entsprechend angemessenes individuelles Handeln setzt voraus, dass die für den Bestand der Gesellschaft wichtigen Werteorientierungen von den handelnden Individuen als Orientierungsmuster erlernt und in ihren Motivationen verankert werden. Da sich die Werteorientierungen einer Gesellschaft in Rollensystemen konkretisieren, muss Sozialisation nach Parsons den Heranwachsenden die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Handeln in Rollen vermitteln. Parsons ist weiter der Meinung, dass in modernen und hochkomplexen Gesellschaften diese Sozialisationsleistungen nicht mehr alleine durch die Familie erbracht werden können. Deswegen entwickeln moderne Gesellschaften spezialisierte Institutionen, wie die Schulen, welche diese Aufgabe übernehmen. Der für das Studienbuch ausgewählte Text Parsons mit dem Titel, „Die Schulklasse als soziales System“, geht auf die gesellschaftlichen Funktionen der Schule im Verhältnis zur Familie und zu den Peer Groups als weiteren Sozialisationsinstanz ein (Baumgart, 2008, S. 84).
George Herbert Meads handlungs- und sozialisationstheoretische Überlegungen folgen im Studienbuch an dritter Stelle. Die Textauszüge im Studienbuch stammen aus dem Hauptwerk Meads mit dem Titel „Geist, Identität und Gesellschaft“. In diesem Buch geht er der grundlegenden Frage nach, wie Menschen ihre Handlungen aufeinander abstimmen und damit kooperatives Handeln möglich wird. Mead vertritt die Ansicht, dass dieses erst durch das Symbolsystem Sprache entstehen und sich entfalten kann. Aus dieser Grundannahme leitet sich der Begriff Symbolischer Interaktionismus ab, wie seine Theorie üblicherweise genannt wird. Die Theorie geht davon aus, dass Individuen handeln, indem sie sich und anderen die symbolische Bedeutung ihres Handelns anzeigen. Die Fähigkeit, den eigenen Bedeutungen bewusst zu sein sowie die Bedeutungen anderer zu übernehmen und das eigene Handeln darauf abzustimmen, ist das Ergebnis eines langwierigen Sozialisationsprozesses. Dieser verändert und entwickelt sich im Verlauf des Lebens einer Person. Baumgart fasst zusammen, dass anders als bei Parsons, der noch von einem durch verinnerlichte Wertorientierungen gesteuerten Rollenhandeln aller Beteiligten ausging, mit der Perspektive des Symbolischen Interaktionismus andere Momente der Handlungskoordination in den Blick kommen: Die "Spielräume" der Interaktion, d.h. das erfolgreiche Aushandeln von Beziehungen zwischen den Interaktionspartnern genauso wie die Missverständnisse und Störungen der Interaktionen (Baumgart, 2008, S. 125).
In einem zweiten Text geht wiederum Klaus-Jürgen Tillmann auf den Beitrag des Symbolischen Interaktionismus zu einer Theorie der Schule ein.
Anschliessend an die Texte von Mead und Tillmann schliessen im Studienbuch zwei Texte von Jürgen Habermas und ein Text von Lawrence Kohlberg an. Für die Gesellschaftstheorie von Habermas ist die Unterscheidung einer instrumentellen und einer kommunikativen Gestalt menschlicher Rationalität von zentraler Bedeutung. Habermas ist der Meinung, dass nur die in Sprache angelegte kommunikative Rationalität, also die Möglichkeit des Menschen zu argumentativer Verständigung mit anderen über die wünschenswerten Normen und Formen des Zusammenlebens, die selbstzerstörerischen Potentiale der instrumentellen Rationalität auffangen und die Ideale der Freiheit und Mündigkeit historische Wirklichkeit werden lassen (Baumgart, 2008, S. 156). Habermas geht von zwei Formen der Vergesellschaftung aus: Zum einen üben gesellschaftliche Systeme über ihre Regelsysteme einen gewissen Zwang auf die Individuen aus, sich in die Gesellschaft zu integrieren (Systemintegration). Zum anderen sind die Gesellschaften zu ihrem Bestand aber auch darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder gemeinsame Wertüberzeugungen teilen, auf deren Hintergrund sie die gemeinsamen Interaktionen regeln und Handlungen koordinieren können. Letztere Form bezeichnet Habermas als Sozialintegration. Sozialintegration durch Orientierung des Handelns an gemeinsamen Wertüberzeugungen und Normen der mit anderen geteilten Lebenswelt ist das Ergebnis von Sozialisationsprozessen. Sozialisation müsste nach Habermas die Ausbildung einer besonderen Form der Ich-Organisation zum Ziel haben, einer "starken Ich-Identität", die gleichermassen durch die Vergesellschaftung und Individuierung gekennzeichnet ist (Baumgart, 2008, S. 160). Beide Studienbuchtexte von Habermas befassen sich mit der Konstitution und Entwicklung dieser Ich-Identität.
Wie Baumgart zusammenfasst, wäre eine Schule zu favorisieren, in der sich ihre kommunikativen Potentiale gegenüber den unaufhebbaren Systemzwängen behaupten und die Heranwachsenden kommunikative Kompetenz, die Fähigkeit zu einem prinzipiengeleiteten Denken und verständigungsorientierten Handeln erwerben könnten (Baumgart, 2008, S. 164).
Da sich Habermas nicht explizit mit der schulpraktischen Umsetzung dieser Intentionen beschäftigt hat, schliesst im Studienbuch ein Text von Kohlberg an, welcher der Frage nachgeht, in welcher Form eine demokratische Schule einen Beitrag zur moralischen Entwicklung ihrer SchülerInnen leisten kann.
Den Abschluss der Textesammlung machen vier Texte von und mit Pierre Bourdieu. Bourdieu versteht Sozialisation als Habituisierungsprozess. Und das Ergebnis dieses Prozesses ist der Habitus einer Person. Menschen erwerben in der Habituisierung klassenspezifische Zwänge und Freiheiten und konstruktive Unterschiede zu anderen gesellschaftlichen Klassen. Nach Bourdieu ist der Habitus schlussendlich das Ergebnis von sozialen Erfahrungen in Form von Konditionierungen, die das Individuum in Abhängigkeit von seiner Stellung im sozialen Raum ganz und gar prägen. Mit anderen Worten sind das Handeln der Akteure im sozialen Raum und ihr gesamter Lebensstil von ihrer jeweiligen Position im sozialen Raum bestimmt. Was aus der Perspektive der Handelnden das Ergebnis freier individueller Entscheidungen, Vorlieben oder Anstrengungen ist, ist aus der Beobachterperspektive Bourdieus Ausdruck eines sozialen "Schicksals", das wir nur in engen Grenzen beeinflussen können, das Ergebnis einer schichtenspezifischen Sozialisation (Baumgart, 2008, S. 199). Wie Baumgart weiter ausführt, sind nach Bourdieu die Positionen im sozialen Raum, Klassenzugehörigkeit und entsprechende Lebensstile fundamental vom Kapitalvolumen einer Person und von der Menge des jeweils verfügbaren Kapitals abhängig. Neben dem ökonomischen Kapital erachtet Bourdieu dabei auch das kulturelle und soziale Kapital als bedeutsam.
Bourdieus Theorie kann als entschiedenster Angriff auf alle Vorstellungen einer selbstbestimmten Persönlichkeit verstanden werden. Bei niemand anderem wird der Begriff der Sozialisation so umfassend und ausschliesslich als Vergesellschaftung gedacht (Baumgart, 2008, S. 203). Bourdieus Texte im Studienbuch befassen sich mit den unterschiedlichen Kapitalsorten, dem Thema Bildungsprivileg und Bildungschancen und deinem Plädoyer für eine rationale Hochschuldidaktik. Zusätzlich ist ein Interview mit Bourdieu zu seinem Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“ zu lesen.
Fazit
Das vorliegende Studienbuch ist in erster Linie eine Textsammlung, welche wohl stark auf die Lehre an der Ruhr-Universität Bochum ausgerichtet ist. Sie gibt über die einzelnen lesenswerten und breit angelegten Texte einen Überblick über Theorien und Ansätze, welche für das Verständnis von Sozialisation sicher grundlegend waren oder sind. Das Studienbuch versteht sich als Hilfsmittel für die Studieneingangsphase. Es soll die für die Entwicklung der Erziehungswissenschaft relevanten Theorien der Sozialisation erschliessen. Ob es dieses Ziel erreicht, müssen die Studierenden beurteilen, die mit dem Studienbuch arbeiten. Die verschiedenen Arbeitsaufgaben, die zu den jeweiligen Texten gestellt werden, sind sicher ein gutes Hilfsmittel, um zu überprüfen, ob wichtige inhaltliche Aspekte erfasst worden sind. Ob sie beim Textverständnis helfen, resp. ob sie das Textverständnis der jeweiligen LeserInnen auch wirklich vertiefen und erweitern, ist an dieser Stelle nicht zu beurteilen. Mir scheint jedoch, dass die Diskussion der Texte und ihrer Bedeutungen in den Lehrveranstaltungen der Ruhr-Universität Bochum sicher ein wichtiger und nicht nur ergänzender Teil zum Studium dieses Buches sind. Gerade Studierende anderer Hochschulen wären sicher froh um Antworten auf die Arbeitsaufgaben. Diese fehlen aber im Studienbuch. Eine Reflexion des eigenen Verstehens und Verständnisses wird dadurch nicht gefördert.
Kritisch zu reflektieren wäre meines Erachtens auch das Voranstellen Hurrelmanns Konzeption von Sozialisation. Denn über seine Setzungen werden wichtige Vorstrukturierungen für das gesamte Studienbuch vor- und vorweggenommen. Gerade durch die Benennung der als wichtig erachteten Analyseebenen wird auch, und durchaus gewollt, festgelegt, welches sozialisationsspezifische Feld durch die nachfolgenden Theorien genauer erkundet wird. Das ist zum einen schlüssig, da sich Hurrelmanns Konzeption selber auf die im Studienbuch vorgestellten Theorien und Texte bezieht und auf diesen aufbaut. Andererseits werden die Auslassungen Hurrelmanns, wie die des gesamten Bereichs der Bedeutung der Körperfunktionen und -strukturen für die Sozialisation übernommen und auch keiner Reflexion zugänglich gemacht. Entsprechende Grundlagentexte fehlen im Studienbuch. Die Konzeption leitet demnach die Auswahl an bedeutungsvollen und so genannt unverzichtbaren Grundlagentexten und die Auswahl bestätigt wiederum die Rahmenkonzeption. Meines Erachtens wären diesbezüglich in einer weiteren Auflage Anpassungen wünschenswert.
Fazit
Zusammenfassend eine gute Textsammlung, insbesondere für die Studierenden, welche an der Ruhr-Universität Bochum im betreffenden Fachbereich studieren.
Rezension von
Prof. Dr. Daniel Oberholzer
Sonderpädagoge, Kinder- und Jugendpsychopathologe. Dozent an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Institut für Professionsforschung und kooperative Wissensbildung. Lehr- und Forschungsbereiche: Person- und interaktionsbezogene Dienstleistungen in der Sonderpädagogik, Entwicklung neuer Prozessgestaltungssysteme.
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Zitiervorschlag
Daniel Oberholzer. Rezension vom 11.08.2009 zu:
Franzjörg Baumgart (Hrsg.): Theorien der Sozialisation. Erläuterungen - Texte - Arbeitsaufgaben. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2008. 4., durchges. Auflage.
ISBN 978-3-8252-3091-3.
Reihe: UTB - 3091. Studienbücher Erziehungswissenschaft - Band 3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/6985.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.
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