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Thomas Wittinger (Hrsg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit

Rezensiert von Dr. Birgit Szczyrba, 01.06.2001

Cover Thomas Wittinger (Hrsg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit ISBN 978-3-7867-2286-1

Thomas Wittinger (Hrsg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit. Matthias-Grünewald-Verlag (Mainz) 2000. 250 Seiten. ISBN 978-3-7867-2286-1. 24,50 EUR.

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Einführung

Zur Anwendung des Psychodramas in verschiedensten Arbeitsfeldern (Unterricht, Beratung, Therapie, Supervision u.a.m.) existiert reichlich Literatur. Es handelt sich hierbei jedoch meist um Praxisberichte, Protokolle oder schwärmerische Berichte über die Lebendigkeit und Kreativität, die unbestritten in der psychodramatischen Arbeit entstehen können. Meist fehlt es an theoretischer Grundlegung der psychodramatischen Praxis, was dazu führen kann, das Psychodrama als skurril oder sektiererhaft aufzufassen. In den letzten Jahren haben jedoch Autoren wie Ferdinand Buer, Christoph Hutter u.a. mit ihren präzisen und umfassenden Werken die theoretische Lücke gefüllt und das Psychodrama in seiner Vollständigkeit, d.h. dem philosophischen Grundgedanken, den theoretischen Facetten, der Praxeologie und den Arrangements und Techniken als Handwerkszeug, aufbereitet. Das vorliegende Buch, herausgegeben von Thomas Wittinger, evangelischer Pfarrer, Religionslehrer, Psychodramatiker und (Neben-)Freiberufler in der Weiterbildung, schliesst sich diesem Anspruch von theoretisch hinterlegten Praxisbeschreibungen speziell in der Bildungsarbeit an – auch dies ein Novum, betrachtet man die immer noch gängige aber einseitige Verbindung des Verfahrens Psychodrama mit dem Format Therapie. Psychodrama in der Bildungsarbeit bedeutet hier beispielsweise die Verbindung mit den Formaten Schulunterricht, Schulleitungsfortbildung, LehrerInnenausbildung, Führungskräftetraining im Profitbereich, Supervision, kirchliche Bildungsarbeit und politische Erwachsenenbildung. Die Verbindung von Psychodrama und Bildungsarbeit wurde lange mit Ressentiments betrachtet: Nachdem in den 70er Jahren eine Übersetzung Morenoscher Aussagen zur Eignung seines Werkes in der pädagogischen Arbeit unternommen wurde, formierte sich Kritik aus der Bildungsarbeit gegen alles, was nach „Psycho“ roch. Der Begriff Psychodrama erfuhr daher verschiedene Taufen, die das „Psycho“ nicht direkt erahnen liessen, wie Pädagogisches Rollenspiel oder Sozialtherapeutisches Rollenspiel. Vorwürfe von orthodoxer PsychodramatikerInnenseite lauteten, das Psychodrama werde verleugnet. So kam es dazu, dass bis heute keine erziehungswissenschaftliche Grundlegung des Psychodramas existiert. Doch es wird daran gearbeitet, wie man am vorliegenden Buch sieht.

Ein grosses Anliegen ist dem Herausgeber sowie den Autoren der Hinweis auf die Notwendigkeit einer fundierten Psychodrama-Weiterbildung für die Anwendung in der Bildungsarbeit (wie in allen andern Arbeitsfeldern). Es geht nicht um Standesdünkel. Man muss allerdings wissen, was man tut. Das Psychodrama als anspruchsvolles ganzheitliches Verfahren unter anderen szenischen Verfahren initiiert hoch wirksame Lernprozesse. Es muss daher von Personen angewendet werden, die den eventuellen Auswirkungen hoher Wirksamkeit standhalten und damit umgehen können.

Daraus ergibt sich auch indirekt die Zielgruppe des Buches: PsychodramatikerInnen, die auf der Suche nach theoretisch unterlegten Praxisbeispielen aus der Bildungsarbeit sind, finden hier eine ausreichende Variation von Bildungsformaten. Leser, die nicht psychodramatisch ausgebildet sind, werden schon im Prolog gewarnt, nicht einfach mal etwas auszuprobieren. Der Nutzen des Buches für NichtpsychodramatikerInnen, die in Formaten der Bildungsarbeit tätig und auf der Suche nach lebendigem, die üblichen Erfahrungsgrenzen transzendierendem Handwerkszeug sind, können hier neugierig werden und eventuell an einer Qualifizierung in einem szenischen Verfahren wie dem Psychodrama Interesse finden.

Aufbau

Seit den 70er Jahren waren in Frankreich Bemühungen zu verzeichnen, psychodramatische Methoden für den Spracherwerb umzusetzen. Mit dem Beitrag von Daniel Feldhendler werden dramaturgische mit psychodramatischen Arbeitsformen verknüpft. Gemeinsamkeiten der Arrangements Morenos (lebendige Zeitung) und Augusto Boals (Zeitungstheater) werden dargestellt und in ihrer Wirksamkeit zum Spracherwerb aufgearbeitet. Durch eine aktive Bearbeitung von Bildern, Texten und individuellen Erfahrungen kann es im Rahmen des Fremdsprachenerwerbs zu inter- und intrakulturellen Auseinandersetzungen und Reflexionen kommen, die von der Beschäftigung mit der Kultur des Anderen und eigener kultureller Modelle hin zu Fragen führen, die die eigene Identität betreffen.

Neben dem Beitrag von Wittinger, der die Anwendung psychodramatischer Arrangements und Techniken im Schulunterricht thematisiert und die Besonderheiten der institutionellen Bedingungen für eine solche Anwendung hervorhebt, findet man im Beitrag von Thomas Rimmasch ein Modell für die Schulleiterfortbildung zum Thema Alkoholmissbrauch am Arbeitsplatz Schule. Er beschreibt, wie das Psychodrama als Verfahren eingesetzt werden kann, um SchulleiterInnen die Möglichkeit zu geben, ihr Handlungsrepertoire im Umgang mit alkoholauffälligen Kollegen zu erweitern.

Beatrix Wildt, Lehrerin und Diplom-Psychologin, betitelt ihren Beitrag zum Einsatz psychodramatischer Methoden in der LehrerInnenausbildung mit der Frage „Wie psychodramatisch verfahren an der Universität?“ Die Frage scheint berechtigt, denn Psychodrama ist kein akademisches Thema. Wildt beschreibt den Einwand gegen den ganzheitlichen Anspruch des Psychodramas von universitärer Seite: Persönliche Erfahrungen, Gefühlsäusserungen, individuelle Wirklichkeitsdeutungen und subjektive Wahrheiten sind im Kontext wissenschaftlichen Lehrens und Lernens einer grundsätzlichen Diskriminierung ausgesetzt. Biografisches und Gefühle sind „Privatsache“. Gefühls- und Beziehungsaspekte werden zur „Aufarbeitung von Erfahrungen“ aus der Lehre hinaus an die Supervision verwiesen. Eine Stigmatisierung aus entgegen gesetzter Richtung sieht Wildt in der orthodox-psychodramatischen Welterkenntnis, die in dogmatischer Weise den rationalen Wissenschaftskomplex als therapiebedürftig oder doch mindestens selbsterfahrungsbedürftig betrachtet und den wissenschaftlichen Anspruch an Objektivität und Sachlichkeit mit Diagnosen wie Konserve, Verkopfung, Gefühlsabspaltung und Abwehr belegt. Auch hier erwartet den Leser ein spannender Versuch, unveränderbar Scheinendes mit Präzision und Überzeugungskraft einem neuen Blickwinkel auszusetzen.

Ferdinand Buer bereichert das Buch mit einem Beitrag über psychodramatische Supervision in der Bildungsarbeit. Im zweiten Teil des Buches entwickelt er einen Beitrag als einer der wenigen deutschen Psychodrama-Theoretiker: Er leistet eine theoretische Verknüpfung zwischen den Angeboten des Psychodramas und den gesellschaftlichen Ansprüchen, denen die Pädagogik in Theorie und Praxis (Erziehung, Bildung, Unterricht/​Didaktik und Hilfen, hier jedoch: Bildung und Didaktik) gerecht werden muss. Die Anforderungen an die gegenwärtige und zukünftige Bildungsarbeit fasst Buer so zusammen: Bildung hat heute im weitesten Sinne die zentrale Aufgabe, die Bewältigung einer unübersichtlichen Zukunft möglich zu machen. Dieser gewaltige Reformdruck macht es notwendig, nach neuen Möglichkeiten in der Bildungsarbeit Ausschau zu halten. Psychodramatische Bildungsarbeit ist wirksam durch einen gezielten Wechsel von Entschleunigung und Beschleunigung von Lernprozessen und greift damit eine gesellschaftliche Dialektik auf, die gerade heute Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist.

Der Bereich der Personalentwicklung ist mit dem Beitrag von Peter Wollsching-Strobel vertreten: Ein Führungskräftetraining im Profitbereich, Arbeitsfeld von Trainern und Coaches, zeichnet sich durch eine Dynamik und durch Ansprüche aus, die denen im Nonprofitbereich nicht gerade ähneln. Mit einer Abgrenzung zwischen Profit- und Nonprofitkultur erleichtert Peter Wollsching-Strobel es dem Leser, die Anwendung von psychodramatischen Methoden – entstanden im psychosozialen Bereich – auf die ‚andere‘ Welt der Wirtschaft zu transponieren. Mit Verständnis für den Druck, dem die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren ausgesetzt ist, sieht Wollsching-Strobel Ansätze für ein Umdenken im unternehmerischen Bereich: Man hat erkannt, dass nur lernwillige, motivierte MitarbeiterInnen den Qualitätsherausforderungen eines globalen Marktes mit angemessener Schnelligkeit begegnen können; mitarbeiterorientierte Unternehmenskulturen machen Unternehmen krisensicherer als Kulturen, die auf Sanktionen, Angst und Unterwerfung gründen; die demoskopische Entwicklung macht qualifizierte MitarbeiterInnen zu einer knappen Ressource. Der Beitrag zeigt, dass es möglich ist, Führungskräfte vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse gezielt zu qualifizieren und ihre Fähigkeiten zu entwickeln: mit Einsatz des Psychodramas, wenn die Spielregeln einer Profitkultur eingehalten werden.

Die Erwachsenenbildung ist vertreten mit einem etwas längeren Beitrag zur kirchlichen Bildungsarbeit: Die Autoren Stangier, Tappen, Fühles, Hummelsheim und Klein-Stangier interessieren sich für verschiedene Konzepte von Bildung, die damit verwobenen Menschenbilder und Lebensmodelle, für die Frage nach der Eigenart des christlichen Verständnisses von Bildung sowie für die Frage, ob die geistige Dynamik kirchlicher Bildung mit der Lebensbewegung des Psychodramas zu vergleichen ist. Hier entstehen Möglichkeiten des christlich-jüdischen Dialogs und der Befruchtung interreligiösen Lernens durch Anknüpfungen an die Tradition der Mystik und des Zen-Buddhismus.

In der politischen Erwachsenenbildung findet die Vielfalt psychodramatischer Arrangements und die gesellschaftliche Dimension der Morenoschen Philosophie ein Praxisfeld, das damit nicht von typischen methodischen Einschränkungen innerhalb der politischen Bildung geprägt ist. Weg vom früheren Bezugspunkt politischer Bildung, einer eng umgrenzten staatsbürgerlichen Bildung mit institutionskundlicher Orientierung, hat sich dieses Feld einem neuen Ansatz zugewandt: der Lebenswelt. Die Beschäftigung mit dem eigenen Leben ist Ausgangspunkt für ein Verständnis von Gesellschaft und Politik. Eva Serafin zeigt auf, wie politische Bildung mit Hilfe psychodramatischer Arrangements und Techniken den Brückenschlag zwischen Lebenswelt und Politik bewerkstelligen kann.

Friedel Geisler beteiligt sich mit ihrem Beitrag zwischen „Kulturen und Welten“. Das Soziodrama als Arrangement zur Bearbeitung sozialer Konflikte wird im theoretischen Teil aufgearbeitet. Während im Psychodrama als Arrangement der Rollentausch eines Einzelnen mit einen anderen Einzelnen vollzogen wird, so geht es im Soziodrama um den Gruppenrollentausch, mit dem kollektive Ideologien und Gruppenbeziehungen in ganzheitlicher Weise erfahren werden können. Repräsentante Typen innerhalb einer bestimmten Kultur werden durch soziodramatische Arrangements sichtbar, die sich somit auf die Bearbeitung von Konflikten und Vorurteilen richten.

Klaus Lammers als Kunsttherapeut unterlegt den theoretischen Teil des Buches mit seinem Beitrag „Kreativitätsförderung und ästhetische Bildung“. Er geht der Frage nach, wie mit Anwendung des Verfahrens Psychodrama Faktoren der Kreativität im Format Bildung unterstützt werden können. Die psychodramatische Theorie mit ihrem speziellen Verständnis von Kreativität bietet Interpretationsfolien und Denkweisen, die Lammers für ästhetische Erfahrungen in Bild und Szene nutzbar macht.

Schliesslich enthält das Buch noch einen Beitrag Jakob L. Morenos zur Spontaneitätstheorie des Lernens.

Fazit

Das vorliegende Buch erfüllt den Anspruch theoretisch hinterlegter Praxisbeschreibungen speziell in der Bildungsarbeit – ein Novum, betrachtet man die immer noch gängige aber einseitige Verbindung des Verfahrens Psychodrama mit dem Format Therapie. Die Verbindung von Psychodrama und Bildungsarbeit wurde lange mit Ressentiments betrachtet. So kam es dazu, dass bis heute keine erziehungswissenschaftliche Grundlegung des Psychodramas existiert. Doch es wird daran gearbeitet, wie man am vorliegenden Buch sieht. Das Psychodrama in seiner Vollständigkeit, d.h. dem philosophischen Grundgedanken, den theoretischen Facetten, der Praxeologie und den Arrangements und Techniken als Handwerkszeug wird mit einigen Theoriebausteinen und einer Fülle von Praxisbeispielen – je nach Tätigkeitsschwerpunkt des Lesers mehr oder weniger relevant – vorgestellt, erklärt und in seiner praktischen Anwendung illustriert.

Ein anregendes Buch für BildungsarbeiterInnen aus verschiedensten Feldern des Profit- und Nonprofitbereichs, die auf der Suche nach lebendigem, die üblichen Erfahrungsgrenzen transzendierendem Handwerkszeug sind und eventuell an einer Qualifizierung in einem szenischen Verfahren wie dem Psychodrama Interesse finden.

Rezension von
Dr. Birgit Szczyrba
Sozial-und Erziehungswissenschaftlerin, Psychodrama-Leiterin (DFP/DAGG), Leiterin der Hochschuldidaktik in der Qualitätsoffensive Exzellente Lehre der Technische Hochschule Köln, Sprecherin des Netzwerks Wissenschaftscoaching
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Es gibt 24 Rezensionen von Birgit Szczyrba.

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Zitiervorschlag
Birgit Szczyrba. Rezension vom 01.06.2001 zu: Thomas Wittinger (Hrsg.): Psychodrama in der Bildungsarbeit. Matthias-Grünewald-Verlag (Mainz) 2000. ISBN 978-3-7867-2286-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.


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