Ilhan Kizilhan: Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit
Rezensiert von Prof. Dr. med. Gertraud Müller, 29.12.2008

Ilhan Kizilhan: Die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Die Funktionen des Erinnerns traumatisierender Erlebnisse. Verlag Irena Regener (Berlin) 2008. 239 Seiten. ISBN 978-3-936014-13-6. 34,80 EUR.
Thema
Dank des Aufschwungs der Traumaforschung im letzten Jahrzehnt, wozu sich ein großer Wissenszuwachs aus den Neurowissenschaften, auch dank der bildgebenden Verfahren gesellt, werden Traumatisierungen, die in rezenten Kriegs- und Krisengebieten entstehen, nicht nur benannt und immer öfter auch behandelt, sondern es werden auch Forschungsarbeiten dazu durchgeführt, so auch in dem vorliegenden Buch des Psychologen Ilhan Kizilhan.
Hintergrund
Historischer Hintergrund des Buches ist die wechselvolle Geschichte der Kurden, eine Geschichte voller grausamer Kriege – Ermordung , Zerstörung, Vertreibung, Versklavung und sexueller Gewalt, zuletzt 1984-1999. So befasst sich das Buch mit der Fragestellung, wie eine solche Geschichte, wie Traumatisierungen kollektiv und individuell erinnert werden und wie letztendlich auch therapeutisch heilsam mit diesen Erinnerungen umgegangen werden kann.
Aufbau und Inhalt
Das Taschenbuch befasst sich zunächst mit der Geschichte und dem Wesen der Oral History, die als Methode aufgefasst wird, die unterschiedlichen (wissenschaftlichen) Zwecken dienen kann, im Allgemeinen und in der Türkei im besonderen.
Das nächste Kapitel handelt von der Erinnerung und dem Gedächtnis, wobei Befunde aus der modernen Neurowissenschaft ebenso dargestellt werden, wie die Zuverlässigkeit des autobiographischen Gedächtnisses diskutiert und dann auf die Besonderheiten des kommunikativen, kulturellen Gedächtnisses, insbesondere bei Minderheiten, eingegangen wird.
Im folgende Kapitel wird dann die posttraumatische Erinnerung und die posttraumatische Belastungsstörung auch unter kulturspezifischem Focus dargestellt.
Das letzte Kapitel des einführenden Theorieteiles befasst sich dann mit dem Zusammenhang von Sprache-Erinnern und Symbolisieren, wieder wird größter Wert auf den sozialen Kontext und die Beschreibung möglicher Einflussnahme durch politische Systeme am Beispiel der Türkei gelegt. Ein Exkurs durch die auch relativ frühe kurdische Literatur zum Thema „Trauma“ rundet das Kapitel ab.
Im zweiten Teil wird eine eigene qualitative und quantitative empirische Untersuchung, ihre Methodik, Ergebnisse und Schlussfolgerungen dargestellt: Der Autor interviewt 40 türkische Soldaten, die zwischen 1984 und 1998 gegen die PKK kämpften, 15 männliche [1] kurdische Flüchtlinge, die infolge der Kriegshandlungen fliehen mussten und 24 über 70jährige kurdische Männer, die bereits vor 50 Jahren Gewalthandlungen in ihrer Heimat erlebt hatten, mit der Fragestellung, wie Menschen mit Erinnerungen an grausame Kriegshandlungen, an denen sie direkt oder indirekt beteiligt waren, umgehen. Im letzten Kapitel entwickelt der Autor eine kultursensible narrative Psychotherapie, die es den Betroffenen erlaubt, die eigene Lebenslinie wieder ohne Erinnerungslücken zu sehen und die eigene Geschichte und die des Kollektivs neu erzählen zu können.
Zielgruppe
Diese Buch richtet sich an alle Berufsgruppen, die mit traumatsierten Menschen, insbesondere MigrantInnen aus der Türkei oder auch vergleichbaren Kulturbereichen arbeiten bzw. auch in diesem Bereich forschen.
Diskussion
Dem Autor gelingt es, auf 200 Seiten eine kurze Einführung in so unterschiedliche -und doch eng zusammenhängende- Themengebiete wie Oral History-Erinnerung-Sprache-Gedächtnis- Traumatische Erinnerungen-posttraumatisches Belastungssyndrom zu geben, wobei immer wieder am Beispiel des türkisch/kurdischen Konfliktes gearbeitet wird und dann noch eine eigene, empirische Untersuchung ausführlich darzustellen und das Ganze mit anrührenden Zitaten aus der kurdischen Literatur anzureichern. Immer wieder führt er die LeserInnen weg vom individualistischen „westlichen“ zum kollektiven „östlichen“ Blickwinkel seiner Klientel – für alle, die in diesem Bereich arbeiten, sind das sehr gewinnbringende Erkenntnisse. Ebenso sind die zahlreichen wörtlichen Zitate aus den Interviews, die theoretische Aussagen untermalen, sehr hilfreich für ein tieferes Verständnis der betroffenen türkischen Soldaten und der kurdischen Zivilbevölkerung/Migranten. Die Ergebnisse der Untersuchung, die hier nur kurz exemplarisch dargestellt werden können, regen zu weiterem Nachdenken und Nutzung in unterschiedlichen Fachgebieten an: So erhält man epidemiologische Daten über die Häufigkeit einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Anregungen für den präventiven und therapeutischen Umgang mit von Traumatisierung Betroffenen (deutlich häufigere sogenannten dysfunktionale Bewältigungsstrategien bei Menschen mit PTSD) oder last but not least für die Friedensarbeit (die zwei Volksgruppen wissen erschreckend wenig voneinander). Eine ganz wichtige Anregung gibt auch eine interviewter älterer Mann, der des Schreibens nicht mächtig ist: Man möge doch ihre Erinnerungen aufschreiben, damit die Nachkommen verstehen könnten. (Teile, Anregungen aus) der im letzten Kapitel skizzierten narrativen Psychotherapie sind nach Einschätzung der Rezensentin höchstwahrscheinlich auch gut in einer längeren sozialarbeiterischen Beratung anwendbar, bewegen sie sich doch im Grenzgebiet zwischen Beratung und Therapie, oder wie der Autor auf Seite 201 schreibt: „…kann dieses Vorgehen als eine narrative, konfrontative Behandlung auf niedrigstem Level betrachtet werden.“
Neben diesen sehr positiven Leseerkenntnissen finden sich auch einige Kritikpunkte: Es ist doch schade, dass weder aus dem Titel noch aus der Kurzbeschreibung auf der Umschlagseite hervorgeht, dass in diesem Buch interessante interkulturelle Erkenntnisse transportiert werden, dass es sich bei der Untersuchungspopulation um vom türkisch-kurdischen Kriegsgeschehen Betroffene handelt, auch darüber, dass hier eine interessante empirische Studie vorgestellt wird kein Wort. Was weiterhin stört ist, dass sich des öfteren Wiederholungen finden – eine straffere Gliederung wäre hier wünschenswert gewesen. Auch werden manche Erkenntnisse z. B. der Neurowissenschaften aneinandergereiht aufgeführt, aber etwas zu wenig untereinander und mit der empirischen Untersuchung verknüpft. Auch wenn der Wahrheitsgehalt von Erinnerungen behandelt wird, so hätte doch kurz auf die False-Memory-Debatte eingegangen werden können. Auch die Frage der potentiellen Retraumatisierung durch die Interviews hätte m. E. intensiver erörtert werden müssen. Dem Werk wäre auch eine sorgfältigere redaktionelle Überarbeitung zu wünschen gewesen.
Fazit
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Autor in seinem Buch nicht nur einen interessanten Überblick über die Themenbereiche Sprache, Erinnerung, Gedächtnis, Trauma, Identität und Oral History gibt, sondern dass er auch eine interessante eigene empirische Studie zum Umgang mit Erinnerungen an türkischen Soldaten und kurdischen Zivilisten, die direkte oder indirekt an kriegerischen Handlungen beteiligt waren, darstellt. Besonders wertvoll an diesem Buch sind die fundierten Hinweise zum interkulturellen Verständnis für diesen Personenkreis im professionellen Setting und die kurze Skizzierung einer narrativen Psychotherapieform für MigrantInnen, von der Anregungen für die sozialarbeiterische Beratungsarbeit ausgehen könnten. Die wenigen Wiederholungen und manchmal etwas unverbunden nebeneinander stehenden referierten theoretischen Aspekte schmälern den Wert des Buches nur wenig.
[1] Frauen wurden nur deshalb aus der Untersuchung ausgeschlossen, weil Soldaten in der Türkei ausschließlich männlich sind und nur so eine Vergleichbarkeit der drei Gruppen gegeben war.
Rezension von
Prof. Dr. med. Gertraud Müller
Internistin, Psychotherapie; KIP-Therapeutin; Emerita, ehemals Fachbereich Sozialwesen der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Gertraud Müller.