Marcel Erlinghagen, Karsten Hank (Hrsg.): Produktives Altern und informelle Arbeit in modernen Gesellschaften
Rezensiert von Tina Denninger, Anna Richter, 20.05.2009

Marcel Erlinghagen, Karsten Hank (Hrsg.): Produktives Altern und informelle Arbeit in modernen Gesellschaften. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2008.
299 Seiten.
ISBN 978-3-531-15801-3.
29,90 EUR.
Reihe: Alter(n).
Thema
Der demographische Wandel, die daran anschließend gezeichneten Krisenszenarien und der Ruf nach ‚produktivem, engagiertem Altern‘ sind sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in der Öffentlichkeit Gegenstand von Diskussionen. Doch wie steht es um die „Alten“ in Deutschland und in Europa? Leisten sie noch etwas für die Gesellschaft oder sind sie nur Nutznießer des Generationenvertrages? Wie kann mögliche informelle Arbeit aussehen - bzw. wie sieht sie derzeit aus - und wie können die Potentiale der älteren Generation sinnvoll genutzt werden? Wo sind Grenzen des aktiven, produktiven Alters? Diesen Fragen gehen die AutorInnen des vorliegenden Sammelbandes nach und versuchen, sowohl in theoretischer als auch in empirischer Hinsicht Antworten zu finden und den Bereich der informellen Arbeit Älterer transparenter zu machen.
Aufbau und Inhalt
Der erste Teil des Buches beschäftigt sich mit internationalen Perspektiven auf informelle Arbeit von Älteren.
- Der Aufsatz von Kirsten Hank und Stephanie Stuck geht der Frage des wechselseitigen Verhältnisses verschiedener Dimensionen produktiven Alterns nach. Datengrundlage ist der „Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe“ (SHARE)“, auf dessen Basis anhand der drei Dimensionen Ehrenamt, Netzwerkhilfe und Pflege, zunächst deskriptive Ländervergleiche zwischen elf europäischen Ländern vorgenommen werden. Neben diesem ausführlichen, quantitativen Vergleich ist das zweite Anliegen der Autorinnen die bessere Beleuchtung der Verhältnisse der genannten Dimensionen untereinander.
- Der Artikel von Morten Wahrendorf und Johannes Sigrist basiert ebenfalls auf Daten des SHARE und beschäftigt sich mit den Dimensionen Ehrenamt, Netzwerkhilfe und Pflege in zehn europäischen Ländern. Auf eine knappe deskriptive Darstellung der relevanten Daten folgt die Überprüfung der beiden zentralen Thesen. Erstens vermuten die Autoren einen Zusammenhang zwischen der Teilhabe an sozial produktiven Tätigkeiten und erhöhtem Wohlbefinden und zweitens gehen sie davon aus, dass erhöhtes Wohlbefinden nur dann auftritt, wenn Reziprozität vorliegt. Beide Hypothesen wurden durch die Untersuchung zumindest für die Dimensionen Netzwerkhilfe und Ehrenamt bestätigt, im Bereich der Pflege wurden negative Zusammenhänge deutlich.
- Im dritten Aufsatz „Produktives Altern und ehrenamtliches Engagement in den USA“ führt Francis G. Caro zunächst das Konzept des produktiven Alterns mit seinem historischen Entstehungshintergrund und den verschiedenen gängigen Definitionen ein. Es folgt ein Überblick über Organisationen in den USA, die Engagement im Alter fördern. Als wichtige Dimension des produktiven Alterns wird das Ehrenamt herausgestellt und für die USA hinsichtlich mehrerer Aspekte, beispielsweise der positiven Effekte oder des institutionellen Kontextes dargestellt.
Im zweiten Teil richtet sich der Fokus auf die nationale Ebene.
- In den ersten beiden Beiträgen dieses Teils werden auf der Grundlage quantitativer Datenerhebungen (SOEP und Freiwilligensurvey) die Rolle von Renteneintritt und früherem Engagement im Lebensverlauf für die Ausübung informeller produktiver Tätigkeiten im Alter (Marcel Erlinghagen) sowie Veränderungen und Stabilität von freiwilligem Engagement Älterer untersucht (Thomas Gensicke).
- Harald Künemund und Jürgen Schupp zeichnen in ihrem Beitrag den Verlauf der Diskussion um ehrenamtliches Engagement, freiwillige soziale Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement der letzten 30 Jahre nach. Anhand dieser Diskussion zeigen sie die Probleme der empirischen Erfassung des „Wandels der Ehrenamtlichkeit“ auf, die sie insbesondere in der ständigen Ausweitung der Konzepte sehen. Auf der Basis ihrer eigenen Auswertung der Daten des SOEP kommen sie zu dem Schluss, dass kein signifikanter Zuwachs an kontinuierlichem ehrenamtlichem Engagement festzustellen sei.
- Melanie Eichler und Birgit Pfau-Effinger untersuchen in ihrem Beitrag die Situation älterer Frauen, die, finanziert auf Grundlage der Pflegeversicherung, Angehörige pflegen. Dabei wird deutlich, dass die Ökonomisierung der Pflegedienste durch das Pflegegesetz Mitte der neunziger Jahre dazu führt, dass nach wie vor viele Betroffene eine exklusive Pflege durch Angehörige vorziehen. Dies wiederum hat zur Folge, dass „die Situation der älteren Pflegenden oft von struktureller Überforderung gekennzeichnet ist“. In diesem Sinne fordern die Autorinnen eine Abkehr von der rein ökonomischen Ausrichtung ambulanter Pflege zugunsten einer besseren Qualität, um kombinierte Formen der Pflege für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen attraktiver zu machen.
Im dritten Teil des Buches wird Einblick in lokale Projekte zur Nutzung des Potentials Älterer gegeben.
- Der Aufsatz von Renate Breithecker stellt das Modellprojekt „Selbstorganisation älterer Menschen“ des BMFSFJ vor. Ziele des Projekts sind die Öffentlichmachung bereits bestehender Projekte und die Sensibilisierung der Kommunen für die Potenziale älterer Menschen.
- Der Artikel von Silke Brauers führt ein weiteres Programm des BMFSFJ ein. Das Projekt „Erfahrungswissen in Initiativen“ und das zugehörige Konzept des „seniorTrainer“ soll sowohl dem Einzelnen - in Form des Eröffnens neuer Rollen - als auch der Gemeinschaft - durch das vielseitige, qualifizierte Engagement der seniorTrainer - nützlich sein. Die Grundannahme beider Autorinnen ist, dass insbesondere die nun ins Rentenalter kommende Generation der „neuen Alten“ ein Bedürfnis nach freiwilligem Engagement hat, welches bisher aber nicht flächendeckend positiv genutzt wird. In beiden Projekten werden nun Möglichkeiten innerhalb der Kommunen aufgezeigt, wie das Potenzial Älterer sinnvoll genutzt werden kann.
- Christian Fischbach und Tobias Veer untersuchen in ihrer Arbeit den Wert älterer freiwillig Engagierter in der Betreuung pflegebedürftiger, in diesem Fall demenzkranker, Menschen. Auf der Basis des qualitativen Forschungsprojektes „Bürgerschaftliches Engagement und Altersdemenz“ erarbeiten sie eine Kosten-Nutzen-Rechnung bezüglich der professionellen Organisation ehrenamtlichen Engagements und kommen zu dem Ergebnis, dass sich Investitionen auf diesem Gebiet lohnen.
Der vierte Teil des Bandes fragt nach den „Grenzen des Potentials informeller Arbeit im Alter“.
- Kirsten Aner und Peter Hammerschmidt untersuchen in ihrem Beitrag unterschiedliche Modellprogramme zur Förderung zivilgesellschaftlich produktiven Alterns, ihre Abhängigkeit von den aktuellen sozialstaatlichen Leitbildern sowie die Grenzen der Wirksamkeit dieser Programme.
- Gertrud M. Backes und Jaqueline Höltge geben zunächst einen Überblick über unterschiedliche Positionen und Begriffe in der Debatte um ehrenamtliches Engagement und zeigen Tendenzen des Wandels in diesem Bereich. Abschließend werden die Ambivalenzen ehrenamtlichen Engagements im Alter sowie die daraus resultierenden Konsequenzen diskutiert. Die Autorinnen kommen dabei zu dem Schluss, dass insbesondere die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten alter Menschen berücksichtigt werden müssen.
Diskussion
Wie von den Herausgebern in der Einleitung formuliert, gründet der vorliegende Sammelband auf der Annahme des ‚produktiven Alters‘ als „positives Leitbild, das der negativen Wahrnehmung von einer […] gesamtgesellschaftlich zu tragenden Alterslast entgegentritt.“ So lassen sich die Artikel in der Hauptsache als Plädoyer für aktives Alter mit gesellschaftlichem Nutzen lesen. Die ebenfalls von den Herausgebern postulierte Forderung, „dem Konzept des ‚produktiven Alterns‘ gleichberechtigte Forderungen z.B. nach einem „konsumtiven Altern“ zur Seite zu stellen bleibt inhaltlich unklar und wird in keinem der Artikel eingelöst. Strukturelle Kritik am Konzept des ‚produktiven Alterns‘ kommt, wenn überhaupt, nur am Rande auf. Insbesondere die Vorstellungen der beiden Projekte des BMFSFJ lesen sich wie Werbetexte des Ministeriums selbst. Im Beitrag von Aner/Hammerschmidt werden zwar einige wichtige Kritikpunkte an diesen explizit auf den Gemeinschaftsnutzen zielenden Förderprogrammen genannt, so z.B. die „Stilisierung bürgerschaftlichen Engagements zu einer Tugend“, die lediglich von einer privilegierten Minderheit erfüllt werden kann, sowie die geringe Reichweite dieser Programme. Das Konzept des ‚produktiven Alterns‘ in seinem aktuellen sozialpolitischen Kontext wird jedoch auch hier nicht ausreichend problematisiert. Gleiches gilt für den Beitrag von Backes/Höltge, die vor den Risiken ehrenamtlicher Tätigkeit im Alter warnen, jedoch die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen des sozialstaatlichen Umbaus hin zu Eigenverantwortung und Individualisierung gesellschaftlicher Risiken nicht berücksichtigen. Betrachtet man jedoch die Forderungen nach produktivem Engagement im Alter in diesem Zusammenhang, so wird deutlich, dass es sich hier um die Etablierung neuer Machtverhältnisse und Kontrollmechanismen im Sinne des aktivierenden Sozialstaats handelt, da mit der Verknüpfung von produktivem und erfolgreichem Altern (produktive Tätigkeiten im Alter werden ja neben dem gesellschaftlichen Nutzen vor allem als individueller Gewinn diskutiert) im Zusammenhang mit der zunehmenden Privatisierung sozialer Sicherung die Erwartung einhergeht, dass sich die Menschen entsprechend dieser neuen gesellschaftlichen Leitbilder verhalten. Diese Problematik bleibt im gesamten Band leider unterbelichtet.
Fazit
Insgesamt sind in den unterschiedlichen Beiträgen des Bandes viele interessante Aspekte zum Thema Ehrenamt und informeller Arbeit im Alter enthalten. Aufgrund der unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen, sowohl qualitativ als auch quantitativ, wird eine breite Grundlage empirischer Daten bereitgestellt. Leider bleiben die meisten der Beiträge auf dieser Stufe stehen, eine weiterführende Analyse der Voraussetzungen, Möglichkeiten und strukturellen Risiken des Konzepts des ‚produktiven Alterns‘ kommt zu kurz.
Rezension von
Tina Denninger
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 580 der Universität Jena im DFG-Projekt „Vom „verdienten Ruhestand“ zum „Alterskraftunternehmer“? Bilder und Praktiken des Alter(n)s in der aktivgesellschaftlichen Transformation des deutschen Sozialstaats nach der Vereinigung.“
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Anna Richter
Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 580 der Universität Jena im DFG-Projekt „Vom „verdienten Ruhestand“ zum „Alterskraftunternehmer“? Bilder und Praktiken des Alter(n)s in der aktivgesellschaftlichen Transformation des deutschen Sozialstaats nach der Vereinigung.“
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