Caroline Thompson: Die Tyrannei der Liebe
Rezensiert von Michael Schnabel, 16.03.2009
Caroline Thompson: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben.
Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2008.
191 Seiten.
ISBN 978-3-88897-528-8.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR,
CH: 29,90 sFr.
Originaltitel: La violence de l'amour.
Thema
Ein Mensch ist nach seiner Geburt völlig hilflos und total auf die Betreuung durch andere angewiesen. In der Regel wird der Säugling von seiner Mutter ernährt, gepflegt und versorgt. Damit das heranwachsende Kind gedeiht und sich optimal entwickeln kann, braucht es neben Nahrung und Kleidung zusätzlich noch liebevolle Zuwendung und fürsorgliche Betreuung. Säuglinge und Kleinkinder wollen angesprochen, aufgemuntert, getröstet, angelacht, gestreichelt und geküsst werden. So erfahren sie Annahme, Zuwendung und Zuneigung. Kurzum: Kinder sollen die Freundlichkeit und Liebe ihrer Eltern spüren und erleben. Alles Behauptungen, die durch viele wissenschaftliche Forschungen belegt sind. Kann dann das Gegenteil richtig sein? Soll liebevolle Zuwendung gegenüber den Kindern begrenzt sein? Kann Liebe sogar bis hin zur Tyrannei entarten? Die französische Psychoanalytikerin Caroline Thompson stellt in der vorliegenden Veröffentlichung diese These auf und belegt mit vielen Beispielen, wie berechtigt die Behauptung ist: Liebe kann auch Tyrannei sein.
Aufbau und Inhalte
In folgenden sechs Kapiteln werden in dem Buch „Tyrannei der Liebe“ die Aspekte dieser These erläutert und aufeinander aufbauend der Beweis angetreten:
- Die Idealisierung der Liebe.
- Die Kinder, unsere neuen Liebeobjekte.
- Der Mythos des perfekten Kindes.
- Rollenkonfusion: Die geraubte Kindheit.
- Die Verwirrung der Gefühle.
- Die neue Abhängigkeit.
Das Schlusskapitel „Die alles verschlingende Familie“ komprimiert und verschärft die Thesen und Folgerungen nochmals, indem Hemmnisse und Einschränkungen angesprochen werden, die eine zu fürsorgliche Familienerziehung entstehen lässt.
Grundgelegt und abgesichert wird der Argumentationsstrang des Buches im ersten Kapitel, indem die vorherrschende Sicht von Liebe als idealisiert und nebulos romantisch bezeichnet wird. Vor allem werde heute die Ambivalenz der Liebe geleugnet und zugleich gehe damit der Realitätsverlust dieses Gefühls verloren. Denn grundsätzlich gehören Liebe und Hass zusammen! Eine befremdliche These aber eine fundamentale Überzeugung der Psychoanalyse! In der Liebe der Mutter zu ihren Kindern wird diese Verbindung besonders deutlich: „Die Beziehung zur Mutter, das Modell für alle künftigen Beziehungen, ruht auf einer fundamentalen Ambivalenz: Diejenige, die gibt – Leben, Nahrung Fürsorge, Liebe…, ist auch diejenige, die enttäuscht, verbietet und einschränkt. Liebe und Hass sind hier unauflöslich verbunden, denn Befriedigung und Schmerz kommen aus ein und derselben Quelle. Wenn dasselbe Objekt gleichzeitig geliebt und gehasst wird, sprechen wir von Ambivalenz der Gefühle. Kinder drücken das ganz selbstverständlich aus, wenn sie bei einem Konflikt oder einem Verbot erklären „ich hasse dich“ und eine Stunde später flüstern: „ich liebe dich.“ (S. 28) Auf dieser Grundlage analysiert die Autorin gesellschaftliche Strömungen und psychische Störungen, mit denen sie in ihrer Praxis konfrontiert wird.
Paradoxerweise sind trotz oder gerade wegen der Idealisierung von Liebe die Liebesbeziehung von Ehepaaren sehr brüchig und kurzlebig geworden. Da die Paarbeziehung oftmals nach einigen Jahren zerbricht, wird die Beziehung zu den Kindern schrankenlos intensiviert. Kinder sollen zum Teil die Erwartungen einlösen, die in der Paarbeziehung gescheitert sind. Die Folgen solcher Verschiebungen beschreibt die Autorin im zweiten Kapitel.
Die Gefahr, dass Kinder in überzogener Weise zum Lebensmittelpunkt werden, erhöht sich ganz besonders bei Alleinerziehenden. Solche Lebensverhältnisse erzeugen vielfache Spannungen und merkwürdige Erwartungen ganz besonders im Hinblick auf die Kinder. Denn die Kinder sollen all das erreichen, was sich die Eltern wünschen. Sie sollen einem perfekten Wunschbild eines Kindes entsprechen. Eine riskante Vorstellung in einer überreizten Lebenssituation! Die Wünsche der Eltern nach perfekten Kindern können jedoch nicht eingelöst werden. Daraus können sowohl für Eltern als auch für Kinder psychische Schwierigkeiten, falsche Reaktionsweisen bis hin zu psychischen Störungen erwachsen. Die Kapitel drei bis fünf beschreiben unterschiedliche Muster von falschen Verhaltensweisen und Reaktionen in Familien.
Kapitel sechs konzentriert sich auf die negativen Folgen für Kinder in Familien: Wenn beispielsweise durch falsch verstandene Liebe die Kinder in zwanghafter Anhängigkeit mit ihren Eltern verbunden sind, so können sie kaum die erforderliche Autonomie erwerben, die sie zur Gestaltung ihres Lebens bräuchten. Kinder, die in solchen Familien aufwachsen, haben es besonders schwer, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und ihr Energiepotential zu mobilisieren.
Diskussion
Die Veröffentlichung von Caroline Thompson beschreibt anschaulich sehr unterschiedliche Aspekte von Liebe und sie kann deutlich machen, wie entscheidend es ist, diese Gesichtspunkte bei der Erziehung von Kindern zu beachten. Eine wichtige Korrektur zu den eindimensionalen Aussagen, die heute über die Liebe vorherrschen. Besonders wohltuend ist es, dass die Überlegungen die Komplexität der Prozesse in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern deutlich machen und mit Hilfe von Erklärungen und Beispielen durchschaubar werden. Viele Beispiele aus der therapeutischen Tätigkeit der Autorin belegen ihre Thesen und konkretisieren sie. Dadurch wird das Lesen der Veröffentlichung geradezu so spannend, wie man es für ein wissenschaftliches Buch nicht erwarten möchte. Die gesamte Veröffentlichung argumentiert auf dem Hintergrund der Psychoanalyse. So muss der Leser wenigstens eine gewisse Sympathie für den psychoanalytischen Ansatz aufbringen. Viele Folgerungen sind daher nicht zwingend logisch, aber sie entsprechen psychologischen Gesetzmäßigkeiten.
Fazit
Die Veröffentlichung ist eine wichtige Ergänzung zu psychologischen und pädagogischen Veröffentlichungen über die Entwicklung und Erziehung von Kindern. Alle Fachleute, die auf diesem Gebiet tätig sind, sollten das Buch von C. Thompson durcharbeiten. Auch vielen Eltern dürfte das Buch ganz ungewohnte aber sehr entscheidende Einsichten liefern.
Rezension von
Michael Schnabel
Staatsinstitut für Frühpädagogik, München
Es gibt 45 Rezensionen von Michael Schnabel.
Zitiervorschlag
Michael Schnabel. Rezension vom 16.03.2009 zu:
Caroline Thompson: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben. Verlag Antje Kunstmann GmbH
(München) 2008.
ISBN 978-3-88897-528-8.
Originaltitel: La violence de l'amour.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7077.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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