Robert Kreitz: Pädagogisches Handeln - eine analytische Theorie
Rezensiert von Prof. Dr. Ulrich Papenkort, 27.03.2009
Robert Kreitz: Pädagogisches Handeln - eine analytische Theorie.
Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2008.
282 Seiten.
ISBN 978-3-8309-2078-6.
29,90 EUR.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 519.
Thema
Der Gegenstand der Erziehungswissenschaft bzw. Pädagogik ist, soweit dürfte Konsens bestehen, eine Praxis. Diese Praxis wird entweder mit einem oder mehreren einstelligen Grundbegriffen belegt und als „Erziehung“ bezeichnet, „Bildung“ genannt, weil die weniger als Zumutung denn als Angebot empfunden wird, „Sozialisation“, um die Verbundenheit mit den Sozialwissenschaften zu dokumentieren, oder auch, enger, dafür aber konkreter, „Unterricht“. Oder die Praxis wird, neben „Praxis“ selbst, „Handeln“, „Interaktion“, „Reproduktion“ oder „Arbeit“ genannt und mit dem Adjektiv „pädagogisch“ versehen. Robert Kreitz geht den zweiten Weg, um den Gegenstand der Disziplin zu bestimmen. Sein zweistelliger Begriff und damit sein Thema lautet: „Pädagogisches Handeln“.
Sein Zugang zum Thema ist philosophisch. Er greift weniger auf soziologische oder psychologische Handlungstheorien zurück. Innerhalb der Philosophie weiss er sich dem Ansatz der meist angelsächsischen, auch skandinavischen Analytischen Philosophie verpflichtet, die ihre jeweilige Sache von der Sprache her begreift, insbesondere der Alltagssprache. In dieser Tradition ist die analytische Handlungsphilosophie entstanden, deren Theorien und Denkweise Kreitz aufgreift. Damit ist er seit einem Vierteljahrhundert der erste Erziehungswissenschaftler, der die Sache der Disziplin in sprachanalytischer Manier in den Blick nimmt. Das haben vor ihm nur Lothar Wigger („Handlungstheorie und Pädagogik. Eine systematisch-kritische Analyse des Handlungsbegriffs als pädagogischer Grundkategorie“, 1983) und Jürgen Oelkers („Erziehen und Unterrichten. Grundbegriffe der Pädagogik in analytischer Sicht“, 1985) getan, der erste neben anderen philosophischen Handlungstheorien, der zweite mehr als Referent amerikanischer Erziehungsphilosophie. Kreitz‘ Buch „Pädagogisches Handeln“ bietet dagegen die wohl erste „analytische Theorie“ dieses Gegenstands.
Autor
Robert Kreitz, 1962 geboren, promovierter Diplom-Soziologe, ist Privatdozent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen, zuletzt Lehrstuhlvertreter an der Universität Erfurt.
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift, die der Autor 2006 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Göttingen eingereicht hat. Gutachter waren die Professoren Peter Alheit (Göttingen), Helmut Heid (Regensburg), Norbert Meder (Essen-Duisburg) und Ralf Stoecker (Potsdam), letzterer ein Philosoph. Anlässe der Arbeit waren begriffliche Vorklärungen, die für ein empirisches Forschungsprojekt erforderlich waren, und die eher zufällige Begegnung mit der Analytischen Handlungstheorie. Beides kulminierte, vorher nicht beabsichtigt, in eine grundsätzliche Theorie pädagogischen Handelns.
Aufbau
Kreitz analysiert, wie der Titel besagt, pädagogisches Handeln. Genauer gesagt: Er analysiert, was mit dem Ausdruck „pädagogisches Handeln“ gemeint sein kann. Dass er nicht, wie in erziehungswissenschaftlichen Schriften schon namentlich üblich, über „Erziehung“ schreibt, begründet er damit, dass dieses Wort schon auf den ersten Blick mehrdeutig und dass es auch wertend und nur für längere Zeiträume gemeint ist. Der Ausdruck „pädagogisches Handeln“ dagegen sei erst einmal eindeutig, mehr beschreibend und nur kurzfristig zu verstehen. Der Autor versteht pädagogisches Handeln nur als Teil pädagogischer Praxis, aber gewissermaßen als prototypischen Fall.
Das Buch besteht aus zwei, in etwa gleich großen Teilen. Der erste Teil ist mit der Frage „Was sind Handlungen?“, der zweite mit „Was sind pädagogische Handlungen?“ überschrieben. Erst bestimmt Kreitz, „wann ein Tun eine Handlung“, dann, „wann eine Handlung pädagogisch“ ist (S. 9). Im ersten Teil wird, noch unabhängig von pädagogischen Besonderheiten, eine relationale (Kap. 1) und kausale (Kap. 2-4) Handlungstheorie entwickelt. Im zweiten Teil werden drei pädagogische Handlungstheorien ganz unterschiedlicher Autoren (Dietrich Benner, Wolfgang Brezinka, Jürgen Oelkers) vorgestellt und beurteilt (Kap. 6.1-6.3), um vor diesem Hintergrund und einem „Vorbegriff“ (S. 131) pädagogischen Handelns (Kap. 6.4) einen eigenen Begriff darzulegen. Dazu werden erst die Ziele (Kap. 7), dann das Handeln der Rezipienten pädagogischen Handelns (Kap. 8), weiterhin die pädagogische Kooperation von Rezipient und Akteur (Kap. 9) und zum Schluss das pädagogische Handeln des Akteurs selbst (Kap. 10) thematisiert.
Insgesamt entwickelt Robert Kreitz seinen Begriff pädagogischen Handelns rein deskriptiv. Das Adjektiv „pädagogisch“, mit dem sonst oft noch eine Wertung in Abgrenzung zu als „unpädagogisch“ titulierten Handlungen ausgesprochen wird, versteht er nur beschreibend. Für ihn gibt es nicht nur gute Pädagogen, die im Sinne einer pädagogischen Ethik handeln, sondern auch in diesem Sinne schlechte Pädagogen, die durchaus technisch gesehen gut sein können, z.B. den alten Gauner, der Oliver Twist in Charles Dickens Roman das Stehlen beibringt.
„Was sind Handlungen?“ (Teil 1)
Für Robert Kreitz ist mit „Handeln“ zunächst einmal das „Hervorbringen von Tatsachen“ (S. 20) gemeint. Es ist, anders als es, stellvertretend für viele andere, Brezinka gesehen hat, nicht nur durch die Absicht, sondern auch durch den entsprechend bewirkten Sachverhalt gekennzeichnet. Diese Wirkung, d.h. der Erfolg, tritt nicht immer, aber meistens ein. Somit ist Handeln auch nicht per se ein Versuch, der jederzeit scheitern kann, sondern ein Unternehmung, deren Erfolg, selbst wenn er zeitlich versetzt ist, aber auf jeden Fall wahrscheinlich ist. Ein Versuch dagegen ist nicht die Sache selbst. Handeln ist für Kreitz durch die Relation zwischen Absicht und erfolgter Tatsache definiert, nicht durch das dazwischen vermittelnde Ereignis. Darum spricht er von einer „relationalen Handlungstheorie“. Handlungen beschränken sich nicht auf das Tun als zwischengeschaltetes Ereignis, und das Tun muss, wie im Falle des Wartens, keine Körperbewegung sein. Absicht, Tun und Wirkung folgen dabei nicht nacheinander, sondern sind, z.T. zeitlich parallel, ineinander verzahnt.
„Handeln“ meint aber nicht nur das Hervorbringen von Tatsachen durch Tun („produktives Handeln“), sondern auch ihr Verhindern („präventives Handeln“). Im ersten Fall tritt eine Tatsache ein (logisch „positiv“), im zweiten eben nicht (logisch „negativ“). Neben dem Tun („faktischer Handlungsmodus“) steht das Lassen („kontrafaktischer Handlungsmodus“), das ebenfalls zwischen Ursache und Wirkung vermitteln kann. Es korrespondiert insofern mit dem Tun, als von einem „Lassen“ nur gesprochen werden kann, wenn ein Tun, subjektiv wie objektiv, möglich ist. Mit dem Lassen sind zwei weitere formale Handlungsarten gegeben: das „Geschehenlassen“ („permissives Handeln“) und das „Unterlassen“ („omissives Handeln“). Während sich das Geschehenlassen auf ein Ergebnis bezieht, gilt das Unterlassen einem Tun. Im ersten Fall tritt eine Tatsache ein („positiv“), im zweiten Fall nicht („negativ“). Insgesamt ist für Kreitz aber „produktives Tun, also das aktive Hervorbringen einer Tatsache durch Körperbewegungen, der paradigmatische Fall einer Handlung“ (S. 33).
Die Handlungsintention wird, zusammen mit der Wirksamkeitserwartung, als Grund des Handelns gesehen und dieser als Ursache der Wirkung verstanden, nicht nur als nachträgliche Begründung. Die kausale Handlungstheorie, die Kreitz damit vertritt, entfaltet er, nachdem er die relationale in Kap. 1 vorgestellt hat, detailliert von Kap. 2-4. Es ist schon schwer genug, den komplizierten Gedankengängen zu folgen. Es ist ganz unmöglich, sie hier in der gebotenen Kürze darzustellen. Es soll genügen, dass Kreitz Handlungsgründe nicht als „auslösende“ Ursachen im engeren Sinne versteht, sondern als „strukturierende Ursachen“ im Sinne notwendiger Bedingungen. Der Grund begleitet und steuert die Körperbewegung und steht nicht einfach am Anfang des Prozesses.
Was sind pädagogische Handlungen? (Teil 2)
Im Anschluss an die Diskussion der pädagogisch handlungstheoretischen Ansätze von Dietrich Benner, Wolfgang Brezinka und Jürgen Oelkers entwirft Kreitz seinen Begriff pädagogischen Handelns (Kap. 6.4), den er in den weiteren Kapiteln des zweiten Teils dann weiter präzisiert. Es geht um die Kooperation zweier Personen, die durch eine doppelte Asymmetrie gekennzeichnet ist. Person A, von ihm „Rezipient“ genannt, fehlt ein Wissen und Können, über das Person B, als „Akteur“ bezeichnet, verfügt. Dem Rezipienten mangelt es zum zweiten, und das ist die entscheidende Ungleichheit, an der Fähigkeit, eine entsprechende Lernhandlung durchzuführen. Er braucht eine Lernhilfe, da er das relevante Wissen und Können nicht allein lernen kann. Das Handeln und die Fähigkeit des Akteurs ist die Lernhilfe, das Handeln des Rezipienten das Lernen.
Das Wissen differenziert Kreitz (Kap. 7) in die drei Formen des „Kennens“ („Erfahrungswissen“), „Wissens“ i.e.S. („theoretisches Wissen“) und „Könnens“ („praktisches Wissen“). Da Können ein zweideutiger Begriff ist und neben dem praktischen Wissen bzw. theoretischen Können auch die Fähigkeit zur Umsetzung dieses Wissens, d.h. praktisches Können beinhaltet, führt er für den zweiten Teil den zusätzlichen Terminus des „performativen Wissens“ ein. Alle vier Ziele pädagogischen Handelns sind als „relationale Eigenschaften“ zu verstehen, die eine Beziehung zwischen dem Rezipienten und Sachverhalten in der Welt herstellen und keine dem Rezipienten innewohnende Eigenschaft sind. Sie sind nicht auf einen gemeinsamen Wissensbegriff reduzierbar. Vom Kennen bis zum performativen Wissen bzw. praktischen Können werden die relationalen Eigenschaften Schritt für Schritt komplexer.
Das Lernen wird nicht psychologisch, ob behavioristisch oder kognitiv, und auch nicht neurophysiologisch analysiert, sondern pädagogisch (Kap. 8). Kreitz definiert „Lernen als Erwerb einer relationalen Eigenschaft“, also von Wissen oder Können. Es wird als – durchaus überprüfbares – Erreichen eines Resultat, nicht als Prozess verstanden. Der zum Resultat führende Prozess ist kein unbeobachtbarer Vorgang, den man erst im Nachhinein schlussfolgert, sondern eine äussere (z.B. lautes Lesen) oder innere (z.B. bildliches Vorstellen), in jedem Fall aber äusserlich oder innerlich wahrnehmbare Aktivität. Kreitz spricht von einem „externalistischen“ Lernbegriff. „Man lernt handelnd etwas, indem man etwas anderes tut.“ (S. 174)
Der im ersten Teil des Buches entwickelte Handlungsbegriff reicht noch nicht aus, um pädagogisches Handeln zu charakterisieren. Dies versteht Kreitz als „gemeinsames Handeln“ (S. 183) und nicht nur, wie z.B. Brezinka, als Handeln des Akteurs (Kap. 9). Gemeinsam handelt, wer in gegenseitiger Kenntnis kooperiert, die beiden einzelnen Handlungen koordiniert und auf diese Weise Wissen und Können koproduziert. Alle drei Komponenten, nämlich Koproduktion, Koordination und Kooperation müssen gegeben sein, um ein gemeinsames Handeln unterstellen zu können.
Die Hilfe und Unterstützung des Akteurs für das Lernen des Rezipienten besteht im Wesentlichen aus Handlungen, mit denen Lernen verhindernde Faktoren ausser Kraft gesetzt werden (Kap. 10). In diesem Sinne sind es ermöglichende Handlungen. Der Akteur handelt auf vierfache Weise: indem er durch verschiedenste Aktionen dem Rezipienten erstens zu lernende Sachverhalte unmittelbar oder mittelbar zugänglich macht (Kontakt), zweitens sein Interesse weckt und stärkt (Motivation), ihm drittens theoretisches und praktisches Können vermittelt und ggf. physisches Unvermögen kompensiert (Instruktion) und viertens seine Aufmerksamkeit auch auf die Lernhandlung selbst lenkt (Transparenz). Die beiden wichtigsten Wirkungsmodi pädagogischen Handelns sind dabei die Information und die Aufforderung.
Diskussion
Kreitz‘ analytische Theorie pädagogischen Handelns überrascht durch eine Reihe von theoretischen Stellungnahmen, die von Standardpositionen auch der Erziehungswissenschaft abweichen. So versteht er Handeln als Relation zwischen Absicht und Wirkung, nicht als Ereignis dazwischen oder als bloße Absicht. Er interpretiert diese Relation als kausale Beziehung und unterläuft den „Antikausalismus“ (S. 34) vieler anderer Positionen. Die Absicht ist für ihn eine Ursache der Wirkung. Das Handeln selbst ist ein gemeinsames, kein Handeln nur des Akteurs und keine Addition zweier Einzelhandlungen. Das Lernen des Rezipienten ist nach der Meinung von Kreitz, entgegen der „Unbeobachtbarkeitsthese“ (S. 166), sehr wohl wahrnehmbar. Diese Abweichungen von Standardpositionen machen das Buch spannend und theoretisch, da diese Positionen mit verhandelt werden, sehr ertragreich.
Das Buch erfordert eine gründliche Lektüre und einige Ausdauer und Geduld an den Stellen, wo die Arbeitsweise der analytischen Philosophie mit ihren scheinbar endlosen Beispielen und Beispielsätzen, den filigranen Unterscheidungen und mathematisch wirkenden Notationen ganz durchschlägt oder verschiedenste Positionen argumentativ gegeneinander gewichtet werden. Es ist wohl nur für Leser interessant, für die theoretische und prinzipielle, insbesondere „Was ist?“-Fragen von deutlichem Interesse sind. Für diese Leser ist es aber ein klarer Gewinn, weil es meistens argumentativ klar und schlüssig geschrieben ist. Die Besprechung reicht bei weitem nicht aus, die Weite und Tiefe der Argumentationen auch nur annähernd zu vermitteln.
Selbstverständlich wird man nicht jeden Schluss nachvollziehen können und da und dort eine andere Position beziehen. Das liegt in der Natur der Sache eines philosophischen Werkes und soll hier nicht ausgeführt werden. Nur ein Hinweis zur Wortwahl scheint mir nötig zu sein: Sie ist nicht immer gelungen. Bei gemeinsamen Handlungen nur einen der beiden Handelnden „Akteur“ zu nennen oder Doppeldeutigkeiten in Kauf zu nehmen - „Wissen“ als Wissen allgemein und als Wissen im Unterschied zum Kennen und Können, „Können“ wiederum als praktisches und als performatives Wissen – ist nicht ganz irritierend, aber etwas unglücklich.
Fazit
Die Theorie pädagogischen Handelns von Robert Kreitz ist ambitionierter, innovativer und diskussionswürdiger Entwurf – alles in allem ein großer Wurf. Zudem ist sie die erste umfassende analytische Theorie pädagogischen Handelns im deutschsprachigen Raum und bringt damit eine Denk- und Arbeitsweise ins Spiel, die ansonsten mehr von Philosophen und da mehr von englischsprachigen Philosophen gepflegt wird.
Rezension von
Prof. Dr. Ulrich Papenkort
Professur für Pädagogik an der Katholischen Hochschule Mainz
Website
Mailformular
Es gibt 51 Rezensionen von Ulrich Papenkort.
Zitiervorschlag
Ulrich Papenkort. Rezension vom 27.03.2009 zu:
Robert Kreitz: Pädagogisches Handeln - eine analytische Theorie. Waxmann Verlag
(Münster/New York/München/Berlin) 2008.
ISBN 978-3-8309-2078-6.
Reihe: Internationale Hochschulschriften - 519.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7093.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.