Matthias Herrmann: Computersimulationen und sozialpädagogische Praxis
Rezensiert von Prof. Helmut Kreidenweis, 05.10.2009
Matthias Herrmann: Computersimulationen und sozialpädagogische Praxis. Falldarstellungen, Modellierungen und methodologische Reflexionen.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2008.
193 Seiten.
ISBN 978-3-531-15993-5.
29,90 EUR.
Reihe: VS research - Computersimulationen in den Sozialwissenschaften.
Thema
Der Umgang mit aggressivem Verhalten und Gewalt ist in der Kinder- und Jugendhilfe kein neues Thema, seine Brisanz hat sich jedoch in den vergangenen Jahren spürbar erhöht. Entsprechend wurde auch die Suche nach Erklärungsmodellen und pädagogischen Ansätzen intensiviert.
Der Autor versucht in diesem Kontext einen völlig neuartigen Weg zu beschreiten: Mit Hilfe dynamischer algorithmischer Modelle sollen Ansätze gefunden werden, die Gewaltsituation in Wohngruppen mit gewaltbereiten Jugendlichen zu entschärfen. Dies geschieht mit Hilfe einer speziellen Software, die von einer Forschungsgruppe an der Universität Duisburg-Essen zur Simulation komplexer sozialer Systeme und ihrer spezifischen Dynamiken entwickelt wurde.
Aufbau und Inhalt
Das als Dissertation verfasste Buch erläutert zunächst in einer ausführlichen Einleitung Motivation und Zielsetzungen des Autors. Anschließend stellt es das Analyseverfahren der Computersimulation in einer allgemeinverständlichen Weise vor und zeigt anhand zweier Beispiele aus der Arbeit der Forschungsgruppe seine praktische Anwendung. Kurz gesagt geht es darum, die Lücke zwischen der soziologischen Micro- und der Macro-Ebene zu schließen, in dem aus individuellen Merkmalen, Verhaltensentscheidungen und sozialen Regeln im Computer simulierte Prozesse in Gang gesetzt werden, die zu reproduzierbaren Endzuständen führen. Damit sollen im Unterschied zur nicht reproduzierbaren sozialen Realität bestehende Theorien getestet und neue entwickelt werden können.
Den Kern des Buches bildet die Beschreibung zweier Anwendungen dieser Simulationsmethodik in der Praxis der stationären Jugendhilfe. Hier werden in klassischer Forschermanier der Gegenstand (eine Wohngruppe von 12 Jugendlichen), die forschungsleitende Fragestellung, die Hypothesen, die Methodik und die Ergebnisse beschrieben und reflektorisch diskutiert. In einem breit angelegten fachlichen Teil referiert der Autor ausgewählte Erklärungsmodelle für Gewaltverhalten bei Jugendlichen, um daraus in Verknüpfung mit intensiven Praktiker-Diskussionen Kategorien für die empirische Erfassung und Abbildung im Simulationsmodell zu destillieren.
In einem methodischen Fazit wird zunächst festgestellt, dass die im zweiten Durchgang verfeinerte Methodik durchaus realitätsnahe Ergebnisse lieferte, das Gruppengeschehen also im Hinblick auf die untersuchten Kategorien annähernd realistisch abzubilden in der Lage war.
Als Fazit stellt der Autor fest: „Gerade wegen der (…) bis dato ungelösten Probleme in der Jugendhilfe sollen für die Bearbeitung solcher sozialpädagogischen Fragestellungen Computersimulationen häufiger zum Einsatz kommen – sie drängen sich hier gerade zu auf. (S. 172)
Diskussion
Kein Zweifel: Dieses Buch betritt zumindest in der Forschungslandschaft der Sozialen Arbeit eine terra incognita und berührt eine breite Palette von Fragestellungen, die von praktischen pädagogischen Themen über die Forschungsmethodik bis hin zu ethischen Fragen reichen.
Der Autor möchte nach eigenem Bekunden keine Methodendiskussion führen, ihm geht es primär darum herauszufinden, ob die Methode der Computersimulation dazu geeignet ist, der Praxis Hilfen im Umgang mit der genannten Klientel an die Hand zu geben. Auch betont er, dass nicht sein Ansinnen ist, die klassischen quantitativen und qualitativen Methoden in Frage zu stellen, er integriert dieses vielmehr in seinen Ansatz und möchte mit einer neuen Methode den Werkzeugkasten der anwendungsorientierten Sozialwissenschaft erweitern. Erstaunlich ist dabei jedoch, dass er so gut wie nicht an die sozialarbeitswissenschaftliche Methoden- und Evaluationsdiskussion anknüpft, die sich ja seit vielen Jahren mit dem Problem der anwendungsnahen Forschung in komplexen sozialen Handlungsfeldern beschäftigt.
Freilich: Ob es Herrmann möchte oder nicht, er löst mit diesem Buch zwangsläufig ein Methodendiskurs aus. Des Pudels Kern ist ein doppelter: erstens – grundsätzlich – ob eine auf wenige Variablen extrem komplexitätsreduzierte Computersimulation wirklich dazu im Stande ist, die hochkomplexen Dynamiken menschlichen Sozialverhaltens mit hinreichender Zielgenauigkeit abzubilden und zweitens – anwendungspraktisch – , ob diese Methode im Kontrast zu den klassischen Ansätzen dazu im Stande ist, qualitativ neuartige oder effizientere Wege zur Erkenntnisgewinnung für die Entwicklung erfolgreicher Praxiskonzepte zu eröffnen. Vielleicht ist hier der Anspruch des Autors etwas zu hoch gesteckt, auf einem völlig neuartigen methodischen Terrain mit ersten Forschungen bereits praxistaugliche Ergebnisse zu erzielen. Der Spagat zwischen Grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung scheint wohl etwas zu groß geraten zu sein. Obwohl sicherlich interessante Ansätze aufscheinen, gelingt es letztlich nicht, eine alltagstaugliche Nutzungsform dieser Methode aufzuzeigen.
Dem Autor ist dennoch vorbehaltlos Respekt zu zollen: Er öffnet ohne jegliche wissenschaftliche Eitelkeit ein neues Fass mit dem Ziel, neue Wege der praxisnahen Modell- und Theoriebildung zu erproben. Hier gilt uneingeschränkt der dem Pädagogen Pestalozzi zugeschriebene Satz: „Wo kämen wir hin, wenn jeder sagte, wo kämen wir hin und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“
Dennoch sind auch Zweifel erlaubt, ob die Computersimulation wirklich ein praxistaugliches Verfahren darstellt. Um das zu klären, muss noch bedeutend mehr Forschung mit diesem Werkzeug getrieben werden.
Und was den konkreten Praxisnutzen im Sinne einer Gestaltung des pädagogischen Alltags angeht: Angesichts der oft noch erheblichen Defizite in der pädagogischen Dokumentation können durch eine gezielte Optimierung dieser Prozesse kurz- und mittelfristig wohl wesentlich schneller und effizienter Potenziale für eine Verbesserung des „Outcomes“ von Jugendhilfe gehoben werden, als mit Computersimulationen, denen ja zunächst ebenso aufwändige empirische Erhebungen vorausgehen müssen wie bei jeder anderen Forschungsmethode. Doch auch dem ersten Automobil liefen die Pferde noch locker den Rang ab, und hätten die Herren Benz und Co. damals deswegen aufgegeben, würden wir wohl heute noch über Stock und Stein zum Hilfeplangespräch galoppieren.
Fazit
Gerade weil dieses Buch nicht in den fernen Sphären der soziologischen Modell- und Theoriebildung schwebt, sondern explizit die „sozialpädagogische Praxis“ im Titel prangt, setzt es einen provokanten Impuls. Zeigt doch diese Praxis mancherorts noch immer eine gewisse Skepsis gegenüber der Computernutzung selbst für so irdische Prozesse wie Hilfeplanung und Dokumentation. Das Buch ist sicher nicht – wie der Klappentext suggeriert – eine Lektüre für Praktiker, die konkrete pädagogische Konzepte suchen. Seine Hauptzielgruppe sind vielmehr Soziologen und Sozialarbeitswissenschaftler, die sich für neue Forschungsmethoden offen zeigen. Für sie stößt Herrmann durchaus Türen zu einer neuen Forschungslandschaft auf, in die es sich allemal lohnt, hineinzuschnuppern.
Rezension von
Prof. Helmut Kreidenweis
Professor für Sozialinformatik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Gründer und Vorstand des Fachverbandes für IT in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung FINSOZ e.V., Inhaber der Beratungsfirma KI Consult.
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Zitiervorschlag
Helmut Kreidenweis. Rezension vom 05.10.2009 zu:
Matthias Herrmann: Computersimulationen und sozialpädagogische Praxis. Falldarstellungen, Modellierungen und methodologische Reflexionen. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2008.
ISBN 978-3-531-15993-5.
Reihe: VS research - Computersimulationen in den Sozialwissenschaften.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7103.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.
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