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Ludwig Amrhein: Drehbücher des Alter(n)s

Rezensiert von Dr. Silke van Dyk, 20.10.2009

Cover Ludwig Amrhein: Drehbücher des Alter(n)s ISBN 978-3-531-16049-8

Ludwig Amrhein: Drehbücher des Alter(n)s. Die soziale Konstruktion von Modellen und Formen der Lebensführung und -stilisierung älterer Menschen. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2008. 336 Seiten. ISBN 978-3-531-16049-8. 34,90 EUR.
Reihe: Alter(n) und Gesellschaft.

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Thema

Der Autor interessiert sich für die Lebensführung älterer und alter Menschen und verspricht einen „kritisch-gerontologischen Beitrag zur wissenssoziologischen Erforschung des alltäglichen Lebens im Alter“ (S. 20). Von einer Kritik normativer gerontologischer Modelle des gelingenden und erfolgreichen Alterns ausgehend, entwickelt er methodische, theoretische und empirische Bausteine für eine qualitative Erforschung der Lebensführung und -stilisierung über den Lebensverlauf hinweg, die den Wechselwirkungen von äußeren Lebenslagen, inneren Deutungs- und Wahrnehmungsprozessen und praktischen Handlungsweisen Rechnung tragen soll. Auf der Basis der Befragung von 28 älteren Menschen soll die empirische Anwendbarkeit der konzeptionellen Überlegungen verdeutlicht werden. Erklärtes und anspruchsvolles Ziel des Autors ist es – über eine deutende Beschreibung hinausgehend – eine handlungs- und strukturtheoretisch fundierte Erklärung der Lebensführung alter Menschen zu leisten. Die Untersuchung basiert dabei auf der grundlegenden These, dass die Lebensführung im Alter das Ergebnis einer habitualisierten und nutzenorientierten Selektion von institutionellen, kulturellen und lebensweltlichen Situations- und Handlungsmodellen des Alter(n)s ist.

Autor

Der Autor Dr. Ludwig Amrhein ist wissenschaftlicher Assistent am Zentrum für Altern und Gesellschaft (ZAG) der Hochschule Vechta.

Aufbau und Inhalt

Die aus einer Dissertation hervorgegangene Monografie ist in drei Großkapitel unterteilt, von denen das erste (I Thema) einleitenden Überlegungen sowie einer umfassenden Darstellung von Ansätzen der Lebensstil- und Lebensführunganalyse gewidmet ist. Kapitel II ist mit „Theoretische Überlegungen“ überschrieben und Kapitel III der Präsentation der empirischen Ergebnisse aus der qualitativen Studie des Autors vorbehalten.

Im Anschluss an die Differenzierung die Konzepte Lebensführung, Lebensstil und Lebensweise in Kapitel I geht der Autor der Entstehung von Lebensstilen und Lebensführungsmustern und ihrer biographischen Dimension nach, um anschließend Fragen sozialer Ungleichheit und individueller Entwicklung im Kontext der Lebensführung im Alter (auch) aus sozialgerontologischer Perspektive zu diskutieren. Als wesentlich für die weitere Bearbeitung stellen sich insbesondere der Ansatz der „alltäglichen Lebensführung als personales Handlungssystem“ von Günther Voß sowie der Ansatz der „Lebensführung als soziale Nutzenproduktion im Lebensverlauf“ von Gunnar Otte heraus. Im Rahmen der theoretischen Überlegungen in Kapitel II wird zunächst die Methode der „verstehenden Erklärung“ von Hartmut Esser vorgestellt, von der ausgehend die angestrebte Erklärung der Lebensführung im Alter geleistet werden soll. Anschließend wird das Mehrebenenmodell der Erklärung auf die gesellschaftliche Konstruktion des Alter(n)s bezogen und im Hinblick auf die soziale Differenzierung des Alters sowie die lebensweltliche Konstruktion von Lebenslagen und -weisen ausdifferenziert. Ergebnis ist ein komplexes, ‚doppeltes‘ Vier-Ebenen-Modell (zwei Dimensionen der Makro-Ebene, Meso-Ebene und Mikro-Ebene), das für die systematische und lebensweltliche Konstrukion des Alters ausbuchstabiert wird.

Das empirische Kapitel III ist den Ergebnissen der qualitativen Untersuchung des Autors gewidmet, im Rahmen derer 28 Personen (14 Männer und 14 Frauen) im Alter von 54 und 87 Jahren leitfadengestützt zu Ruhestand und Lebenssituation, Biographie und Lebensverlauf, sozialen Beziehungen, alltäglichem Leben, Lebensstil und biographischen Plänen befragt worden sind.

Diskussion

Das Vorhaben des Autors, methodische, theoretische und empirische Bausteine für eine Erforschung und Erklärung der Lebensführung im Alter zu entwickeln und die empirische Anwendbarkeit dieser Überlegungen anhand einer eigenen Studie zu verdeutlichen markiert eindeutig eine Leerstelle der gegenwärtigen Altersforschung, ist aber zugleich so ehrgeizig angelegt, dass man geneigt ist, das Scheitern dieses Vorhabens für nahezu unabwendbar zu halten.

  1. Als erstes Problem erweist sich, dass das Anliegen des Autors im Laufe der Studie changiert: In der Einleitung wird zunächst angekündigt, dass die Arbeit einen Vorschlag präsentiere „wie man die Frage nach der geplanten und realisierten Lebensführung im Alter (…) angehen kann“ (S. 14). Tatsächlich spielt der Doppelcharakter von Planung und Realisierung im weiteren Verlauf aber keine Rolle mehr. Ferner wird wiederholt der Anspruch formuliert, die Lebensführung im Alter nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären, wofür – ausgehend von Esser – das „Modelle einer verstehend-erklärenden Alternssoziologie“ entwickelt wird. Mit Hartmut Esser folgt der Autor einem Modell der Erklärung, das soziale Phänomene als Folge bestimmter kausaler Ursachen analysiert. Wörtlich heißt es: „Auf dieser Basis soll ein erklärendes Modell erstellt werden, wie Menschen im Alter ihr Leben führen (…). Und es soll eine soziologische Erklärung sein: Einerseits sollen Muster der Lebensführung erklärt werden, die typisch für bestimmte Lebenslagen und Bevölkerungsgruppen sind, andererseits sollen die Ursachen und Gründe dafür nicht nur in den individuellen Psychen, sondern auch in den sozialen Strukturen gesucht werden.“ (S. 166) Im Empirie-Kapitel erfährt die Leserin dann, dass ein solches Unterfangen mit einer qualitativen Fallstudie nicht zu bewältigen sei, weshalb auf eine auch strukturelle Faktoren berücksichtigende Erklärung der Lebensführung, wie sie durchgängig – auch auf dem Buchrücken – angekündigt wird, verzichtet werde: „Die Stärken einer qualitativen Einzelfalluntersuchung liegen bekanntlich eher in der interpretativen Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Handlungssinns als in der kausalen Erklärung von Handlungsabläufen und -folgen.“ (S. 230) heißt es lapidar, ohne dass der Autor darauf eingeht, dass damit das ausführlich vorgestellte Erklärungsmodell von Esser mehr oder weniger hinfällig wird. Zum Schritt der Erklärung von Lebensführungsmodellen auf der Basis biographischer und lebenslagenbezogener Faktoren, die – so die entwickelte konzeptionelle Idee – an das deutende Verstehen anschließen sollte, heißt es nun: „Dieser Schritt kann in der vorliegenden Arbeit allerdings kaum geleistet werden, da er meines Erachtens auch eine explorative statistische Analyse von quantitativen Befragungsdaten voraussetzt.“ (S. 231) Da es erklärtes Ziel des Autors war, die empirische Anwendbarkeit seiner konzeptionellen Überlegungen zu demonstrieren, bleibt die Leserin an dieser Stelle verwirrt zurück.
  2. Als zweites zentrales Problem erweist sich, dass auch der Gegenstand der Untersuchung changiert. Folgt man den verschiedenen Formulierungen zu Forschungsfrage und -gegenstand geht es um die Analyse der Lebensführung im Alter. In Kapitel 2.1. entwickelt der Autor kundig und theoretisch fundiert eine Differenzierung der Konzepte Lebensführung und Lebensstil und kommt zu dem überzeugenden Schluss, Lebensführung als übergreifendes Konzept zu verstehen, dem die Facetten Lebensorientierung, Lebensgestaltung und Lebensstil zu- bzw. untergeordnet sind. Tatsächlich jedoch werden die Konzepte Lebensführung und Lebensstil(isierung) im weiteren Verlauf – und sogar im Titel des Buches – auf einer Ebene geführt, während die Dimensionen der Lebensorientierung und Lebensgestaltung nicht mehr systematisch bearbeitet werden. Die Vorstellung der zahlreichen theoretischen und empirischen Ansätze im Feld der Lebensführungs- und Lebensstilanalysen fokussiert je nach Ansatz stärker auf Fragen des Lebensstils oder der Lebensführung, ohne dass jedoch dabei der zuvor eingeführten Systematik gefolgt würde. Die umfangreichen, 140 Seiten umfassenden Ausführungen sind kenntnisreich geschrieben und für jede Leserin, die an einem Forschungsüberblick über dieses Feld interessiert ist, mit großem Gewinn zu lesen. Als thematisch-konzeptioneller Baustein für eine Forschungsheuristik zur Analyse der Lebensführung im Alter kann das Kapitel jedoch nicht überzeugen: Erschlagen von der Vielzahl an Konzepten und Ansätzen, die bisweilen (nur) im Stile eines Forschungsstandsüberblicks vorgestellt, an anderen Stellen aber auch vom Autor weiterentwickelt werden, verliert sich die Leserin in einem Dickicht an Informationen, deren Stellenwert häufig nicht klar wird. Tatsächlich ist es so, dass zahlreiche Definitionen, Konkretionen und Zuspitzungen aus diesem Kapitel im weiteren Verlauf der Arbeit keine Rolle mehr spielen.
  3. Drittes zentrales Problem der Untersuchung betrifft die theoretische(n) Fundierung(en). Der Autor setzt die prominenter von ihm zu Rate gezogenen theoretischen Perspektiven kaum zueinander in Beziehung, so dass das ungute Gefühl bleibt, dass so manche theoretische Inkompatibilität in der Fülle an konzeptionellen und theoretischen Informationen untergeht. Zentrale theoretische Referenz neben Hartmut Essers Erklärungsmodell ist das Bourdieu‘sche Habituskonzept, anhand dessen Amrhein überzeugend für das Zusammenspiel von Struktur, Deutung und Praxis sensibilisiert. Esser und Bourdieu treffen sich sicherlich darin, dass sich beide Autoren für die Vermittlung von Mikro- und Makroebene interessieren, davon abgesehen aber handelt es sich um theoretisch durchaus divergierende Perspektiven. Auch wenn Hartmut Esser in seinen jüngeren Arbeiten die Bedeutung von (vorreflexivem) Routinehandeln anerkennt, sich damit also in die Nähe des Habituskonzepts bewegt, bleibt die individuelle ‚Logik der Selektion‘ in seinem Erklärungsmodell in den von der Routine abweichenden Ausnahmefällen einem nutzenorientierten, rationalen Akteursmodell verhaftet. Es soll an dieser Stelle nicht darum gehen, die Inkompatibilität der Ansätze zu behaupten, aber aufgrund der sehr unterschiedlichen Theoriearchitekturen hätte ihre Verschränkung – so in der zentralen These zur habitualisierten und nutzenorientierten Selektion von Situations- und Handlungsmodellen – mehr Aufmerksamkeit bedurft. Ebenfalls ungeklärt bleibt die Frage, wie sich das kausalanalytische Erklärungsmodell Essers mit der zu Beginn der Arbeit eingeführten wissenssoziologischen Perspektive oder der rezipierten, poststrukturalistisch konturierten narrativen Gerontologie verträgt. Andere zentrale Aspekte, so beispielsweise und insbesondere die gesellschaftliche Konstruktion des Alter(n)s, werden theoretisch kaum elaboriert, was im konkreten Fall zu der hochproblematischen und theoretisch kaum haltbaren Behauptung führt, Alter würde analog zur Kategorie Geschlecht als binärer Code fungieren.
  4. Viertes zentrales Problem der Arbeit ist das Verhältnis von empirischer Untersuchung und theoretisch-konzeptionellem Rahmen. Darauf, dass auf den durchgängig propagierten Erklärungsanspruch im Rahmen der eigenen Empirie plötzlich verzichtet wird, wurde bereits hingewiesen. Tatsächlich verhält es sich so, dass der Großteil der entwickelten Konzepte, Dimensionen und Instrumente – und damit nicht nur die Ausführungen zu Lebensführung und Lebensstil, sondern auch die entwickelten Mehrebenenmodelle der systemischen und lebensweltlichen Konstruktion des Alters – gar nicht oder nur rudimentär wieder aufgegriffen werden. Explizit verweist der Autor aber zuvor darauf, dass es darum gehen müsse, die theoretischen Konzepte flexibel im Rahmen der Empirie (weiter) zu entwickeln: „Es wird von mir zwar angestrebt, Ottes (2004) Lebensführungstheorie mit der „alltäglichen Lebensführung“ von Voß (1991) und der psychogerontologischen Variante der sozialen Produktionsfunktionstheorie zu verbinden. Aber ob und wie diese Ansätze integriert werden können, ist auch eine empirische Frage – eine rein deduktive Ausarbeitung widerspräche dem hier vertretenen heuristischen Theorieverständnis.“ (S. 206) So nachvollziehbar und überzeugend der Anspruch – auf die Integration der Ansätze im Kontext seiner Empirie kommt der Autor nicht mehr zu sprechen.
    Insgesamt bleibt anzumerken, dass das empirische Teilkapitel im Verhältnis zu den umfangreichen konzeptionellen Überlegungen sehr knapp ausfällt und zudem (angesichts der thematischen Breite des Leitfadens) nur ein sehr kleiner thematischer Ausschnitt ausgewertet bzw. präsentiert wird. Dabei ist insbesondere die Wahl dieses Ausschnitts nicht unproblematisch: Die erste Hälfte der empirischen Auswertung (Kap. 8.1.) widmet sich dem „Übergang in den Ruhestand“, der zuvor als eines von zehn individuellen Handlungsproblemen der Lebensführung im Alter identifiziert wird. Im Gegensatz zu den umfangreichen Ausführungen zu Lebensführung und Lebensstil(isierung) wird die Frage des Übergangs in den Ruhestand jedoch auf nur zweieinhalb Seiten im Rahmen des Forschungsüberblicks abgehandelt, so dass die präsentierten Forschungsergebnisse – die, um nicht missverstanden zu werden, interessant und gewinnbringend zu lesen sind – doch recht dekontextualisiert erscheinen. Erst auf Seite 269 widmet sich der Autor dann der lange angekündigten empirischen Analyse der alltäglichen Lebensführung, wobei die Ausführungen (noch) knapper ausfallen als zur ‚Unterdimension‘ des Übergangs in den Ruhestand. Der Autor entwickelt in diesem Kapitel zunächst, weitgehend ohne Anbindung an das eigene Material, eine interessante Typologie nachberuflicher Aktivitäts- und Tätigkeitsmodelle, um sich empirisch dann auf den Bereich der Altersarbeit zu konzentrieren. Damit verspielt er jedoch die Chance, das Konzept der Lebensführung, im Rahmen dessen es im Anschluss an Voß ja gerade um die synchrone Integration unterschiedlicher Bereiche und Handlungsprobleme geht, empirisch einzuholen. Auch die in den konzeptionellen Ausführungen überaus wichtige Dimension der Lebensstilisierung spielt leider keine Rolle, obwohl der Bereich im (sehr instruktiven) Leitfaden durchaus zentral gestellt ist.

Fazit

Der Anspruch des Autors, theoretische und konzeptionelle Bausteine für eine empirische Erforschung der Lebensführung im Alter zu liefern und deren Anwendbarkeit zu verdeutlichen wird nicht eingelöst. Die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen sind so überkomplex, dass sie empirisch nicht eingeholt werden (können). Zudem ist aber auch der präsentierte empirische Ausschnitt aus der Befragung des Autors zu klein und zu stark auf den Bereich der (Erwerbs-)Arbeit fokussiert, als dass tatsächlich Facetten alltäglicher Lebensführung im Alter erkennbar werden könnten. Nichtsdestotrotz sei an dieser Stelle auch betont, dass das Buch umfangreiche, gut geschriebene und kluge Ausführungen zum großen Feld der Lebensstil- und Lebensführungsanalysen enthält, die als Forschungsüberblick gewinnbringend sind.

Rezension von
Dr. Silke van Dyk

Es gibt 1 Rezension von Silke van Dyk.

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ISSN 2190-9245