Ulrich Beck: Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.05.2009

Ulrich Beck: Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert.
Suhrkamp Verlag
(Frankfurt/M) 2008.
57 Seiten.
ISBN 978-3-518-06994-3.
D: 7,00 EUR,
A: 7,20 EUR,
CH: 12,90 sFr.
Reihe: Edition Suhrkamp - Sonderdruck.
Thema
Der Lehrstuhlinhaber des Instituts für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, Ulrich Beck, plädierte in seinem Eröffnungsvortrag zum 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 6. Oktober 2008 in Jena für „Entgrenzungsprozesse“ in dreifacher Hinsicht:
- Einer Entgrenzung sozialer Gleichheit,
- Entgrenzung sozialer Ungleichheit und
- dem Ende der Entgegensetzung von Natur und Gesellschaft.
Dabei kommt er zu aufregenden und vermutlich Viele in der Welt der Wohlhabenden irritierenden Erkenntnissen. Denn der Skandal der Ungleichheit in der Welt zeigt sich in der Form eines Champagnerglases: „Auf die 900 Millionen Menschen, privilegiert durch die Gnade der westlichen Geburt, entfallen 86 Prozent des Weltkonsums, sie verbrauchen 58 Prozent der Weltenergie und verfügen über 79 Prozent des Welteinkommens… Auf das ärmste Fünftel, 1,2 Milliarden der Weltbevölkerung, entfallen 1,3 Prozent des globalen Konsums, 4 Prozent der Energie…“. Wieso lassen sich die Mehrheiten der Weltbevölkerung diese Ungerechtigkeiten gefallen?
Inhalt
Beck filtert aus den Analysen und Reflexionen darüber eine Erklärung: „Das Leistungsprinzip legitimiert nationale Ungleichheit, das Nationalstaatsprinzip legitimiert globale Ungleichheit“; weil ein nationalstaatliches Denken und Handeln zwischen politisch relevanter und irrelevanter Ungleichheit unterscheidet. Und weil bisher keine Instanz vorhanden ist, die gewissermaßen als globalstaatliche Zuständigkeit Lösungen dieser Ungleichheiten fordert. Das bedeutet nicht nur, dass in der Welt rund 200 Inseln nationalstaatlicher Ungleichheiten vorhanden sind, sondern auch, dass „die Ungleichheiten zwischen Ländern, Regionen und Staaten als politisch unvergleichbar gelten“. Der „nationale Blick“, als ethno-, euro- und egozentrierte Betrachtung und Einstellung, befördert, verfestigt und begrenzt „die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit im Alltag, Politik und Wissenschaft“, weil damit territoriale, politische, ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Grenzen in eins gesetzt werden. Es bedürfe eines „kosmopolitischen Blicks“, um den Anforderungen in einer sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt gerecht werden zu können.
Für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung empfiehlt der Autor drei Einsichten und ruft zu einem Perspektivenwechsel auf:
- Soziale Klassen sind nur eine der historischen Formen von Ungleichheit;
- der Nationalstaat ist nur einer der historischen Deutungsrahmen;
- das „Ende der nationalen Klassengesellschaft“ bedeutet nicht „das Ende der sozialen Ungleichheit“, ganz im Gegenteil verschärft sich dadurch die Ungleichheit im nationalen wie transnationalen Raum.
Dass die Alltagsauswirkungen, lokal und global, sich nicht in Egoismen, Nationalismen und Rassismen ausdrücken müssen, zeigen neuere Untersuchungen: „Menschen mit grenzüberschreitenden Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten entwickeln mit größter Wahrscheinlichkeit kosmopolitische Einstellungen gegenüber Fremden“ und gewinnen so Empathie und Kooperationskompetenz. Denn der menschengemachte, katastrophale Klimawandel führt in der „Weltrisikogesellschaft“ zur sozialen (lokalen und globalen) Verwundbarkeit, die nicht durch nationalstaatliches Denken und Handeln aufgehoben werden kann, sondern durch die Einführung des „Nebenfolgenprinzips“, was bedeutet: „Die Grundeinheit natürlich-sozialer Ungleichheit bilden Personen, Bevölkerungen, Regionen, die über nationalstaatliche Grenzen hinweg durch die Nebenfolgen von Entscheidungen nationaler Anderer existentiell betroffen sind“. Dieser globale Imperativ führt freilich auch zu der irritierenden Erkenntnis, dass die Folgen des Klimawandels bereits vorhandene Ungleichheiten von Armen und Reichen, von Zentrum und Peripherie verschärfen – und paradoxerweise gleichzeitig aufheben.
Mit dem Vorwurf – „Das Hauptproblem der Soziologie heute besteht darin, dass sie die falschen Fragen stellt“ – weist Ulrich Beck darauf hin, dass sich die bisherigen Leitfragen der Gesellschaftstheorien überwiegend an Stabilität und Ordnungsbildung orientieren, während wir es heute mit „einen epochalen, diskontinuierlichen Gesellschaftswandel in der Moderne“ zu tun haben. Eine „Kosmopolitisierung“ bedeute jedoch nicht „Globalisierung“, sondern die Beachtung der Nebenfolgen der Globalisierung als „unfreiwillige Konfrontation mit dem fremden Anderen“. Eine „kosmopolitische Soziologie“ dürfe dabei nicht „dem Irrtum der Raupe“ unterliegen, die, wenn sie sich im Stadium der Entpuppung befindet, ihr Verschwinden beklagt, weil sie den Schmetterling, zu dem sie wird, noch nicht ahnen kann.
Eine Replik lohnt in diesem Zusammenhang auf die im ZEIT-Feuilleton vom 26. 3. 09 vom chinesischen Konzeptkünstler Ai Weiwei formulierte Anfrage an den vom Westen, insbesondere den USA postulierten Traum von der Freiheit. „Es ist nicht die Freiheit an sich, die uns schadet. Es ist die Ideologie der Freiheit“.
Fazit
Mit Ai Weiwei könnte man sagen: Es ist nicht die Hoffnung auf Gleichheit der Menschen, die die Ungleichheit gebiert, sondern die „eingegrenzte“ Ideologie der Ungleichheit. Ulrich Becks Anriss eines Perspektivenwechsels in der sozialwissenschaftlichen Forschung wie in der sich unabänderlich vollziehenden globalen Entwicklung bedarf der Aufmerksamkeit, damit die Menschheit in der Weltrisikogesellschaft human(er), gleich(er) und gerecht(er) überleben kann.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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