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Christel Plenter: Ethische Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten

Rezensiert von Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller, 04.06.2002

Cover Christel Plenter: Ethische Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten ISBN 978-3-87706-638-6

Christel Plenter: Ethische Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten. Orientierungshilfen für eine Pflegeethik. Schlütersche Fachmedien GmbH (Hannover) 2001. 150 Seiten. ISBN 978-3-87706-638-6. 15,90 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Hintergrund

Wachkomapatienten, d.h. Menschen mit apallischem Syndrom, sind verhältnismäßig selten und werfen nur einen Ausschnitt der Probleme auf, mit denen sich eine Ethik von Pflege und ärztlichem Handeln beschäftigen muss. Dennoch sind es zentrale Fragen der Medizinethik, die durch Pflege und Behandlung apallischer Patienten berührt werden, Fragen, die über die Besonderheit dieser Fälle hinausgehen: es geht um den ethischen Status komatöser oder unzurechnungsfähiger Patienten, um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen bzw. die Ermittlung eines mutmaßlichen Willens, um die Abwägung zu den Geboten des Lebensschutzes, nicht zuletzt um die Konkretisierung dessen, was die Achtung der Menschenwürde bedeuten soll.

Die Autorin ist Fachkrankenschwester in der Intensivpflege und hat die vorliegende Untersuchung ursprünglich als Diplomarbeit im Fach Katholische Theologie geschrieben.

Aufbau und Inhalt

Das erste Kapitel behandelt medizinischen Aspekte des apallischen Syndroms. Ethisch relevant sind vor allem Erkenntnisse zu den unterschiedlichen Graden von Bewußtlosigkeit sowie die Schwierigkeiten einer zuverlässigen Prognose. Es ist jedenfalls nicht so, dass bei diesen Patienten, die an einem Ausfall der Großhirnrinde leiden, Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit vollständig verschwunden sein müssen. Auch sind Heilungserfolge unterschiedlichen Ausmaßes nicht selten. (bis zu 50%) Es wäre jedoch ein arges Mißverständnis, wollte man die Achtung vor dem kranken Menschen von den Graden seiner Bewußtseinsfähigkeit oder seiner Prognose abhängig machen – dagegen wendet sich später auch die Autorin (vgl. S.73). Solche Befunde oder gegebenenfalls Unsicherheiten haben ethische Relevanz allein im Hinblick darauf, wie sich die Achtung vor der Menschenwürde, die wir allen Kranken schulden, konkretisieren soll. Im übrigen bedürften die Begriffe Empfindung, Wahrnehmung und Bewußtsein einer philosophischen Reflexion und Schärfung.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Frau Plenter mit den rechtlichen Aspekten des Behandlungsabbruchs bei komatösen Patienten, wobei sie insbesondere auf den bekannten Kemptener Fall von 1993 (BGH/St-E 1994) eingeht. Im Grundsatz findet das Prinzip des Patientenwillens, dem das Gericht Geltung verschafft und in dem sich die Achtung vor der Würde einer Person konkretisiert, den Beifall der Autorin. Gleichwohl kritisiert sie die Gleichsetzung von künstlicher Ernährung mit anderen lebensverlängernden Maßnahmen. Aber selbst wenn man Hungergefühle bei einem komatösen Patienten für möglich hält – eine umstrittene Annahme – scheint mir die Beachtung seines Willens gefordert, wenn er klar und unmißverständlich geäußert wurde. Allerdings gehört das "Stillen von Hunger und Durst" nach den Richtlinien der Bundesärztekanner zur Basisbetreuung und steht bei einem etwaigen Behandlungsabbruch nicht zur Disposition.

Auf diese Richtlinien zur Sterbebegkeitung sowie auf allgemeinere Fragen des ärztlichen Berufsethos geht das dritte Kapitel ein. Im vierten Kapitel thematisiert die Autorin Aufgaben, Professionalisierung und ethische Grundregeln der Pflege. Im Hinblick auf Wachkomapatienten betont sie die Kompetenz und Verantwortung des Pflegepersonals, da es die meiste Zeit mit dem Kranken verbringt und seinen Zustand gut beurteilen kann (vgl. auch S. 124).

Am umfangreichsten ist das fünfte Kapitel, in dem es um ethische Grundbegriffe wie Freiheit und Menschenwürde, Gewissen und Verantwortung, Lebensrecht und Selbstbestimmung geht. Gelegentlich sind die Ausführungen fehlerhaft, etwa was das Gottespostulat Kants betrifft. Da die grundlegenden Werte abstrakt sind und in ihrer Anwendung miteinander kollidieren können, stellt sich die Frage der Konkretisierung und Abwägung, die durch die Methoden des Utilitarismus, der Differentialethik (vornehmlich nach H.M.Sass) und der Diskursethik aufgeklärt werden soll.

Leider hat die Untersuchung eine deutlich theologische Schlagseite, was denn doch zu gewissen Beschränkungen führt, auch im inhaltlichen Sinn. So neigt die Autorin im Hinblick auf die systematisch wichtige Frage der Selbsttötung zu der Ansicht, dass es einen selbstbestimmten und zurechnungsfähigen Todeswunsch gar nicht geben kann. In einem anderen Zusammenhang zitiert sie die Auffassung, dass "der Mensch (.) nur Mensch wird, indem er sich zu Gott aufrichtet und mit ihm Gemeinschaft kommt." (S. 102) Was dies in Anwendung auf bekennende Atheisten bedeuten könnte, scheint ihr nicht in den Sinn zu kommen.

Das abschließende Kapitel zieht praktische Schlussfolgerungen, etwa im Hinblick auf die Anforderungen, die an Patientenverfügungen zu stellen sind, und diskutiert die Einrichtung einer Pflegekammer sowie den Sinn und die Möglichkeiten von Ethik-Komitees. Zum Schluss wird die ökonomische Frage der Ressourcenverteilung berührt, ein Problem, das sicher einer eingehenden Behandlung wert wäre.

Fazit

Die Stärke der vorliegenden Untersuchung sehe ich in der Durchdringung von allgemeiner und spezieller Fragestellung sowie in der Vielseitigkeit der Aspekte, die dabei berücksichtigt werden. Die Schwächen liegen nach meinem Eindruck in einer gewissen Redundanz und in den Beschränkungen der theologischen Perspektive. Man sollte sich auch nicht allein auf diese Schrift verlassen, wenn es um grundbegriffliche Klärungen in der Ethik geht.

Rezension von
Prof. em. Dr. habil. Hans-Ernst Schiller
Vormals Professor für Sozialphilosophie und -ethik
Fachhochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
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Es gibt 32 Rezensionen von Hans-Ernst Schiller.


Zitiervorschlag
Hans-Ernst Schiller. Rezension vom 04.06.2002 zu: Christel Plenter: Ethische Aspekte in der Pflege von Wachkoma-Patienten. Orientierungshilfen für eine Pflegeethik. Schlütersche Fachmedien GmbH (Hannover) 2001. ISBN 978-3-87706-638-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/72.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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