Hartmut Seifert, Olaf Struck (Hrsg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik
Rezensiert von Prof. Dr. Konrad Maier, 10.08.2009
Hartmut Seifert, Olaf Struck (Hrsg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2009. 317 Seiten. ISBN 978-3-531-16304-8. 24,90 EUR.
Hintergrund und Thema
Ökonomie und Sozialpolitik sind traditionell zwei unterschiedliche Funktionssysteme mit unterschiedlichen Zielsetzungen, unterschiedlichen Akteuren und unterschiedlichen Kulturen. Die Widersprüche zwischen diesen beiden Systemen prägen auch die Arbeit der Arbeitsverwaltung, mit einer allpräsenten Idealkonkurrenz zwischen der Aufgabe einer effizienten Versorgung des Arbeitsmarktes mit qualifizierten Arbeitskräften einerseits und einer sozialen Absicherung der Arbeitnehmer und einer besonderen Fürsorglichkeit für Arbeitslose andererseits. Die Aufgabe, immer wieder einen Kompromiss zwischen diesen beiden Zielen herzustellen, findet seinen Niederschlag in der paritätischen Besetzung der Entscheidungsgremien der Arbeitsverwaltung durch Arbeitnehmervertreter und Arbeitgeberverbände.
Seit eine sozialdemokratisch geführte Regierung unter der Parole des ‚Forderns und Förderns‘ die Aktivierung des Humankapitals und eine optimale Bedienung des Arbeitsmarktes zum zentralen Ziel der Arbeitsverwaltung erklärt hat – und dies auf der Basis von Kommissionsempfehlungen, die den Namen eines Gewerkschaftlers tragen – ist die Sozialpolitik gegenüber einer effizienten Arbeitsmarktpolitik in die Defensive geraten. Angesichts der tief greifenden Veränderungen im Erwerbssystem wie auch in der politischen Gesamtprogrammatik entstand ein beträchtliches Legitimationsdefizit für Sozialpolitik.
Autoren und Adressaten
Um die Zusammenhänge zwischen ‚Arbeitsmarkt und Sozialpolitik‘ unter den veränderten Verhältnissen theoretisch neu zu reflektieren, trafen sich im Dezember 2007 im Wissenschaftszentrum Berlin überwiegend jüngere Sozialwissenschaftler aus dem politischen Umkreis der Gewerkschaften. Der hier vorgestellte Band präsentiert ausgewählte Beiträge dieser Tagung, die in einem ‚Peer review Verfahren‘ ausgewählt und überarbeitet wurden. – Dementsprechend richtet sich dieses Buch an die scientific community der Sozialwissenschaftler, die sich mit dem Thema der Sozialpolitik befassen.
Aufbau
Das Buch umfasst drei Teile.
1. Theoretische Reflexion des Verhältnisses von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
Der erste Teil wird eröffnet durch einen Aufsatz von Georg Vobruba unter dem programmatischen Titel ‚Effizienz durch Sicherheit‘. Er geht davon aus, dass die Arbeitskraft nicht nur – wie in der ökonomischen Theorie – als Ware oder ökonomische Ressource betrachtet werden kann, sondern immer auch als Person in das ökonomische System involviert ist. Daraus resultiert, dass eine angemessene Theorie des Arbeitsmarktes zwischen der kapitalistischen Ökonomie und der gesellschaftlichen Umwelt angesiedelt werden muss. Durch die Unabtrennbarkeit der Arbeitskraft von ihrem Träger muss bei ihrem Einsatz in der Ökonomie immer mit Handlungsdispositionen gerechnet werden, die sich nicht dem Systemimperativ des effizienten Ressourceneinsatzes fügen. Hierauf baut die zentrale These auf, dass „die Ausdifferenzierung eines Systems sozialer Sicherung deshalb ökonomische Effizienzgewinne induziert, weil es dem ökonomischen System systemfremde Aufgaben wie soziale Absicherung, Wahrung von Gerechtigkeit etc. abnimmt, und ihm so ermöglicht, sich auf seine Kernaufgabe: die effiziente Produktion zu konzentrieren“ (S.19). Je mehr durch die ökonomische Entwicklung von den Unternehmern wie auch von den Arbeitskräften Flexibilität gefordert wird, um so mehr wird soziale Sicherheit zu einer Voraussetzung für ökonomische Effizienzsteigerungen. Auf dem Hintergrund seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Konzept eines erwerbsunabhängigen Grundeinkommens geht Vobruba davon aus, dass die Bedienung dieses Sicherungsinteresses sowohl arbeitsmarktintern stattfinden kann, wie auch durch ein System sozialer Sicherung jenseits des Arbeitsmarktes.
Günther Schmid stellt fest, dass das Konzept des ‚Forderns und Förderns‘ nach Hartz IV auf das moralische Verhaltensrisiko fixiert ist, überwiegend mit negativen Anreizen arbeitet und keine positiven Anreize bietet für ein Eingehen auf die Risiken und Chancen der Flexibilisierung. Unter Verweis auf empirische Studien versucht er zu begründen, dass eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die Sicherheit gewährt und zugleich die Risikobereitschaft steigert, einen ‚Mehrwert‘ produziert, durch den großzügige Sicherungssysteme und die Schaffung von ‚Gelegenheitsstrukturen‘ für innovatives Lernen und Veränderungsbereitschaft sich auch ökonomisch auszahlen. Hierfür schlägt er vor, die Arbeitslosenversicherung zu einer Beschäftigungsversicherung weiterzuentwickeln, die eine lebenslauforientierte Flexibilität der Arbeitnehmer mit einem hohen Maß an sozialer Sicherheit verbindet.
Dieser Vorschlag wird auch von den beiden Herausgebern Seifert und Struck in ihrem programmatischen Beitrag aufgegriffen. Sie analysieren die tief greifenden Flexibilisierungsprozesse des Arbeitsmarktes, die sie als irreversibel betrachten. Damit wird das Leitbild einer an lebenslang stabilen Beschäftigungsverhältnissen (möglichst in einem Betrieb) orientierten Sozialpolitik obsolet. Das von der EU entwickelte Konzept der Flexecurity bietet eine neue Begründung von Sozialpolitik, die ein hohes Maß sozialer Sicherheit als Voraussetzung für Flexibilitätsbereitschaft bietet. Dazu gehören „eine vergleichsweise“ großzügige Einkommenssicherung bei Übergangsarbeitslosigkeit, ein hoher Arbeitskräfteumschlag, sowohl getragen durch eine starke Wirtschaftsdynamik als auch durch sozial gesicherte Ausstiegsphasen im Rahmen rechtlich gesicherter Gelegenheitsstrukturen sowie das Recht auf Erziehungs- und Pflegezeiten oder auf Weiterbildung und nachholende Bildungsabschlüsse im Erwachsenenalter“ (S. 72).
Der erste Teil wird abgeschlossen durch eine Sichtung unterschiedlicher Theorien und aktueller empirischer Studien zur Akzeptanz der sozialen Sicherungssysteme (Oliver Nüchter, Alfons Schmid). Danach wird das System der sozialen Sicherung von Menschen mit Arbeitslosigkeitserfahrung und älteren Menschen positiver eingeschätzt, als von eher in das Erwerbsleben integrierten und von jüngeren Menschen. Darüber hinaus werden Reformen offensichtlich eher akzeptiert, wenn sie alle Menschen in ähnlichem Ausmaß betreffen und wenn sie ohne längere Diskussion verabschiedet werden. Ingesamt zeigt sich jedoch, dass vorschnelle und monokausale Erklärungsansätze für politische Einstellungen und politisches Urteil wenig tragfähig sind und in diesem Bereich eine differenzierte empirische Forschung aussteht.
2. Blick auf einzelne Gruppen und institutionelle Regelungen am Arbeitsmarkt
Der 2. Teil thematisiert die Wechselbeziehungen zwischen Arbeitsmarkt und Sozialpolitik mit Blick auf einzelne Gruppen und institutionelle Regelungen am Arbeitsmarkt:
- Anne Hacket geht der Frage nach, wie sich die zunehmende Betriebsmobilität auf die Einkommenssituation der Arbeitnehmer auswirkt. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass Betriebsstabilität meist Einkommensstabilität bedeutet, dass Betriebswechsel sowohl mit Einkommensgewinnen wie auch Einkommensverlusten verbunden ist. Zentraler Faktor zur Erklärung von Erwerbs- und Einkommensverläufen sind nach wie vor Bildung und Qualifikation.
- Katrin Baltes und Andrea Hense kommen in einer Untersuchung über unterschiedliche Chancen zur beruflichen Weiterbildung zu dem Ergebnis, dass ArbeitnehmerInnen in Normalanstellungsverhältnis die größten Chancen zur Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen haben, gefolgt von Arbeitslosen. Besonders benachteiligt erscheinen ArbeitnehmerInnen in ‚atypischen‘ Beschäftigungsverhältnissen, insbesondere Frauen mit Kindern. Das Ergebnis, das sich in die Gesamtargumentation des Bandes einfügt: Atypische Beschäftigungsverhältnisse haben eine desintegrierende Wirkung.
- Stefanie Börner untersucht, inwiefern unterschiedliche Modelle eines ‚Kombilohnes‘ eine sinnvolle Reaktion auf die Flexibilisierung in Form der Zunahme von atypischen Beschäftigungsverhältnissen darstellt. Dabei wird herausgearbeitet, dass der Kombilohn zwar einen Systembruch mit der bisherigen Sozialpolitik darstellt, eine erwerbsunabhängige Sozialleistung zur Ergänzung des Arbeitsentgeltes jedoch durchaus eine angemessene Reaktion auf neue Funktionserfordernisse darstellen kann.
- Annelie Buntenbach kommt auf der Basis der zahlreichen Untersuchungen zur Wirkung der Hartz IV Regelungen zum Schluss, dass diese zu einer tiefen Verunsicherung nicht nur der Arbeitslosen sondern auch großer Gruppen der Arbeitnehmer geführt hat und dadurch für eine effiziente Arbeitsmarktpolitik geradezu kontraproduktiv sind.
- Ein Forschungsteam des Münchner Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung IFSF (Sabine Pfeiffer u.a.) untersucht kritisch das Aktivierungskonzept und die Fördermaßnahmen im Rahmen von Hartz IV. Danach ist die Logik des Aktivierungsparadigmas auf Anpassung der Menschen an die Erfordernisse der Erwerbsarbeit orientiert und übersieht, dass Arbeitslosigkeit mit einer umfassenden ‚Enteignung an Lebenschancen‘ einhergeht, sowohl in Bezug auf Erwerbswelt als auch in Bezug auf die Lebenswelt. Unter der Chiffre ‚Arbeitsvermögen‘ wird ein Konzept vorgelegt, dass darauf ausgerichtet ist, die Potentiale der Menschen für die Teilhabe an der Gesellschaft und die Lebensbewältigung im umfassenden Sinne zu fördern und gerade dadurch die Chancen zur Überwindung des Hilfebezugs zu erhöhen.
- Während das Konzept des ‚Arbeitsvermögens‘ die Förderung von Lebensbewältigung auch jenseits der Arbeitswelt als Beitrag zu einer effizienten Arbeitsmarktpolitik deutet, beschreibt Nina Baur einen zunehmenden Widerspruch zwischen einer effizienten Arbeitsmarktpolitik und den Idealen einer erfüllten Partnerschaft mit Kindern. Unter der Überschrift ‚Verlust des ganzheitlichen Denkens‘ zeigt sie auf, dass die Soziale Marktwirtschaft der Nachkriegszeit in einem ‚Ernährer-Hausfrau-Modell‘ durch geschlechtsspezifische interfamiliale Arbeitsteilung sowohl das Familienleben wie die Erwerbsarbeit zu gleich wichtigen Gütern machte. Die weiterhin auf dem Ernährer-Hausfrau-Modell aufbauende Sozialpolitik wird angesichts der grundlegenden Veränderung und Pluralisierung von Lebensentwürfen von Frauen wie von Männern zunehmend unmenschlich. Auf dem Hintergrund der Leitvorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft der Freiburger Schule formuliert sie die Forderung, dass nicht nur die Sozialpolitik, sondern auch die Arbeitsmarktpolitik an der veränderten Lebenswelt der Bürger orientiert werden müsse.
3. Blick auf die Nachbarländer
Im dritten Teil des Bandes wird der Blick auf die Nachbarländer und ihre Erfahrungen mit der Umsetzung des Leitgedankens der Flexicurity gerichtet.
Claudia Bogedan zeigt am Beispiel des ‚Erfolgsmodells‘ Dänemark auf, dass Vollbeschäftigung auch mit einem starken Staat und einem hohen Grad sozialer Sicherung durchaus vereinbar ist. Es wird jedoch deutlich, dass das dänische Modell nicht einfach auf andere Länder übertragbar ist, sondern vielfältige Voraussetzungen in der traditionellen Wirtschafts- und Sozialpolitik und insbesondere eine spezifische Kultur der politischen Problembewältigung hat.
Abschließend untersuchen Sascha Zirra und Jenny Preunkert, wie die Europäische Beschäftigungsstrategie EBS mit dem Leitbild der Flexecurity in Deutschland, Frankreich und Italien aufgenommen und umgesetzt wurde. Während in der EBS Flexecurity als Mittel zu mehr Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt verstanden wird, wurde dieses Programm in den verschiedenen Ländern genutzt, um das jeweilige System ‚pfadabhängig‘ weiterzuentwickeln und zu modernisieren: In Deutschland führte es zu einer Verbesserung der Arbeitsvermittlung, in Frankreich zu einer staatlichen Unterstützung von gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen und in Italien zu einem Ausbau flexibler Beschäftigungsverhältnisse. Das Fazit: In allen drei Ländern wurden durch die EBS pfadabhängige Modernisierungsstrategien unterstützt, die soziale Segmentierung des Arbeitsmarktes konnte mit diesen Reformen jedoch kaum reduziert werden.
Diskussion
Die zentrale Botschaft des Buches lautet: Die sozioökonomische Entwicklung erfordert eine tief greifende und umfassende Flexibilisierung der Erwerbsarbeit, des Arbeitsmarktes und der individuellen Arbeitsbiographie, diese ist jedoch nur möglich mit einem Ausbau von sozialer Sicherheit. Es gelingt den Autorinnen und Autoren, aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Methoden eine plausible Argumentation dafür zu entwickeln, dass Investitionen in die soziale Sicherheit sich auch ökonomisch auszahlen.
Dabei bleibt das Lebenslaufregime der Erwerbsarbeitsgesellschaft eine nicht hinterfragte Voraussetzung. Die von Vobruba aufgezeigte Alternative, soziale Sicherheit unabhängig vom Arbeitsmarkt durch den Staat zu gewährleisten, wird an keiner Stelle aufgegriffen. Ebenso tauchen die in der Tradition der Arbeiterbewegung zentralen Forderungen nach Humanisierung der Arbeitswelt, die unter dem Stichwort der Subjektivierung der Arbeit (Baethge, Kruse) in der Soziologie zunehmend Beachtung finden, unter dieser Perspektive nicht in den Blick.
Eine Idealkonkurrenz zwischen Sozialpolitik und effizienter Arbeitsmarktpolitik wird nur sichtbar in dem Widerspruch zwischen Erwerbsorientierung und den Idealen einer erfüllten Partnerschaft mit Kindern. Auch wenn der Rückgriff von Nina Baur auf das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, der ‚Freiburger Schule‘ und des ‚Rheinischen Kapitalismus‘ etwas idealisierend ausfällt, behält die Forderung, dass sich nicht nur die Sozialpolitik sondern auch die Arbeitsmarktpolitik und das Gesamtsystem der Erwerbsarbeit an den Bedürfnissen der Menschen zu orientieren hat, Gültigkeit.
Fazit
Es gelingt der Nachweis, dass die ökonomisch erforderliche Flexibilisierung derErwerbsarbeit, des Arbeitsmarktes und der individuellen Arbeitsbiografie einen Ausbau von sozialer Sicherheit erfordert. Der Nachweis, dass ein tragfähiges System der sozialen Sicherheit zugleich der Effizienz der Wirtschaft dient, mag in der aktuellen Diskussion hilfreich sein, als theoretische Grundlage für Sozialpolitik – auch und gerade aus der Perspektive der Sozialen Arbeit – ist sie jedoch unzureichend und nicht tragfähig.
Rezension von
Prof. Dr. Konrad Maier
Website
Es gibt 7 Rezensionen von Konrad Maier.
Zitiervorschlag
Konrad Maier. Rezension vom 10.08.2009 zu:
Hartmut Seifert, Olaf Struck (Hrsg.): Arbeitsmarkt und Sozialpolitik. Kontroversen um Effizienz und soziale Sicherheit. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2009.
ISBN 978-3-531-16304-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7205.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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