Johannes Huinink, Torsten Schröder: Sozialstruktur Deutschlands
Rezensiert von Dr. Annette Harth, 25.03.2015
Johannes Huinink, Torsten Schröder: Sozialstruktur Deutschlands.
UTB
(Stuttgart) 2014.
2., überab. Auflage.
288 Seiten.
ISBN 978-3-8252-4234-3.
22,99 EUR.
UTB basics.
Autoren und Thema
Johannes Huinink ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen mit dem Arbeitsgebiet „Theorie und Empirie der Sozialstruktur“. Torsten Schröder war dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Das vorliegende Buch ist die überarbeitete zweite Auflage ihrer 2008 erschienenen Einführung in die Sozialstruktur Deutschlands. Entsprechend dem Konzept der Reihe UTB basics wird der Text durch farblich hervorgehobene Abbildungen, Übersichten und Infoteile aufgelockert und mit Zusammenfassungen und Lernkontrollfragen didaktisch strukturiert.
Huinink & Schröder benennen in ihrer Einleitung drei Ziele, die sie mit dem Band verfolgen:
- Sie wollen eine systematische Einführung in Begriffe und Konzepte der Sozialstrukturforschung geben,
- sollen theoretische Grundlagen der Sozialstrukturforschung und der Erklärung sozialer Ungleichheit vermittelt werden und
- wollen sie ausgewählte aktuelle Befunde zu grundlegenden Bereichen der Sozialstruktur Deutschlands und Europas vorstellen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist – neben Einleitung (Kap. 1) und Resümee (Kap. 7) – in vier große Abschnitte gegliedert. Zunächst stellen die Autoren in zwei Kapiteln die Grundlagen ihres Betrachtungsrahmens vor. Dann folgen drei inhaltliche Kapitel zur demografischen Sozialstruktur, zur sozialen Ungleichheit und zur Beziehung zwischen Sozialstruktur und grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen (Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Familie und Wohlfahrtsstaat). Im Anhang findet sich ein Überblick über geeignete und zuverlässige Datenquellen zur Sozialstrukturanalyse. Ein Sachregister beschließt den Band.
In Kapitel 2 werden Begriffliche Grundlagen der Sozialstrukturanalyse vorgestellt. Ausgehend von grundlegenden Überlegungen zu gesellschaftlichen Strukturen und zum sozialen Handeln unterscheiden Huinink und Schröder zwei miteinander verbundene Dimensionen der Sozialstruktur:
- „Die soziale Beziehungsstruktur als die Gesamtheit dauerhaft angelegter Formen sozialer Beziehungen zwischen Mitgliedern der Gesellschaft“ (S. 18, i.O. hervorgeh.). Hierbei geht es um die sozialen Positionen von individuellen Akteuren in Beziehungsgeflechten, wie Familien oder Organisationen, und die damit verbundenen Verhaltenserwartungen. Auf diese Dimension gehen die Autoren im Buch aber nur punktuell ein. Im Zentrum steht dagegen:
- „Die soziale Verteilungsstruktur als die Gliederung der Mitglieder der Gesellschaft nach sozial relevanten Merkmalen und Kombinationen solcher Merkmale, d.h. nach Merkmalen, die für die Aufnahme und Pflege sozialer Beziehungen sowie für Möglichkeiten sozialen Handelns wichtig sind“ (ebd.). Hier stehen die sozialstrukturellen Merkmale und die damit verbundenen sozialstrukturellen Positionen im Fokus. Diese können zugeschrieben (wie das Alter) oder erworben sein (wie der Bildungsabschluss). Sie können zudem klassifikatorische Qualität haben und Heterogenität im Sinne von ‚anders‘ kennzeichnen oder aber soziale Ungleichheit im Sinne von ‚mehr oder weniger‘ indizieren.
Entsprechend geht es bei der Sozialstrukturanalyse darum, diese beiden Substrukturen und ihren Wandel zu beschreiben und sie in ihren Auswirkungen und Ursachen zu analysieren. Dabei kommen Querschnittsbetrachtungen (und Zeitpunktvergleiche), zunehmend aber auch Längsschnittanalysen (wie Kohorten- oder Lebenslaufbetrachtungen) zur Anwendung.
Im Kapitel 3 erläutern die Autoren ihr Konzept der Beziehung zwischen Sozialstruktur und Individuum. Aus ihrer Sicht ist es für das Verstehen und Erklären der Entstehung, der Reproduktion und des Wandels der Sozialstruktur unerlässlich, neben der gesellschaftlichen Makroebene auch die Mikroebene der sozial handelnden Individuen in die Analyse miteinzubeziehen, weil diese Akteure durch ihr alltägliches Handeln die Sozialstruktur stets auf Neue reproduzieren oder verändern. Sie bezeichnen dieses Vorgehen als „Mikrofundierung der sozialstrukturellen Analyse“ (S. 29, i.O. hervorgeh.). Auf der Basis der Arbeiten von James Coleman (1991) und Hartmut Esser (1999) arbeiten die Autoren die komplexe Verbindung zwischen gesellschaftlicher Strukturebene und individueller Handlungsebene heraus: Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellen sich für die Handelnden als Möglichkeiten oder Restriktionen für die von ihnen gewünschten Handlungsziele dar. Die Individuen haben bestimmte Ressourcen und psychosoziale Dispositionen, etwa einen qualifizierten Beruf und einen Kinderwunsch (Mikroebene). Ob es ihnen gelingt, beides zu verbinden, hängt stark davon ab, ob es Möglichkeiten der Kinderbetreuung gibt (Makroebene). Die Akteure können aber ihre strukturellen Handlungsbedingungen in der Regel nicht vollständig und vor allem nicht ‚objektiv‘ erfassen. Vielmehr treffen sie ihre Handlungsentscheidung auf der Basis einer subjektiven Situationsdefinition. So kann es etwa sein, dass sie die negativen Folgen eines Kindes für ihre berufliche Karriere überschätzen und sich dagegen entscheiden. Durch ihr Handeln erzeugen Individuen in der Summe Effekte (auch unerwünschte) auf der Makroebene der Sozialstruktur, in diesem Fall z.B. den Geburtenrückgang.
Es geht Huinink/Schröder also um ein Mehrebenenmodell der soziologischen Erklärung. Bei diesem kommt es einerseits darauf an, die individuellen Handlungsentscheidungen zu erklären – durch ‚Brückenhypothesen‘ über die Situationsdefinition der Akteure und durch die Angabe von Entscheidungsregeln (nach welchen Kriterien werden sie zwischen mehreren Alternativen entscheiden?). Zum anderen geht es darum, die Wirkung der Vielzahl individueller Handlungsentscheidungen auf die gesellschaftlichen Strukturen mittels ‚Transformationsregeln‘ zu bestimmen. Diese können sehr einfach sein (durch Aggregation ergibt jede einzelne Geburt in einem bestimmten Zeitraum die ‚gesellschaftliche Geburtenzahl‘), in der Regel sind sie aber sehr komplex. Dazu kommt noch, dass individuelle Lebensläufe durch ihre Mehrdimensionalität (die Lebensbereiche beeinflussen sich gegenseitig) und ihre Pfadabhängigkeit (vergangene Erfahrungen, Entscheidungen und Handlungen begrenzen und beeinflussen zukünftige Möglichkeiten) gekennzeichnet sind.
Nach diesen Grundlegungen folgt nun im Kapitel 4 der erste große inhaltliche Teil zur Sozialstruktur und Bevölkerung. Nach der einführenden Erläuterung zentraler Grundbegriffe werden Bevölkerungsstruktur (nach Alter, Geschlecht und Migrationsstatus) und Bevölkerungsentwicklung anhand ausgewählter, teils auch europäisch vergleichender Daten dargestellt. Huinink & Schröder wählen einen Weg der Darstellung, der sich auch durch die weiteren Kapitel zieht: die ja teils etwas trockenen, aber wichtigen begrifflich-konzeptionellen Ausführungen werden durch aktuelle Daten, inhaltlich gehaltvolle Beispiele und Ergebnisse von Studien illustriert, begründet und aufgelockert.
Ein aktueller demografischer Trend ist der anhaltende Geburtenrückgang. Der Zeitpunkt der Familiengründung wird weiter hinausgeschoben, die Kinderzahl pro Familie nimmt ab und Kinderlosigkeit steigt – besonders bei westdeutschen gut ausgebildeten Frauen. Auch die Lebenserwartung steigt weiter. Die Wanderungsbewegungen sind sehr wechselhaft. Interessant ist, dass die Binnenwanderungen innerhalb Deutschlands seit einigen Jahren sinken. Menschen pendeln vermehrt anstatt den Wohnsitz zu wechseln.
Der Wandel von Familien und privaten Lebensformen wird dargestellt: Die Heiratsneigung von Paaren sinkt, selbst wenn Kinder kommen. Mittlerweile werden 40% aller Ehen eines Jahrgangs langfristig geschieden, und erneute Ehen werden seltener eingegangen. Neben der traditionellen Kernfamilie werden – wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern – andere Lebensformen zunehmend bedeutsam: Alleinleben und nicht eheliche Lebensgemeinschaften – jeweils mit oder ohne Kinder(n). Das Modell der bürgerlichen Familie erlebt seit den 1960er Jahren einen Dominanzverlust. Das hängt damit zusammen, dass individuelle Entscheidungs- und Handlungsautonomie wichtiger geworden sind, und Ehe und Familie dabei (besonders von Frauen) als Hindernisse erlebt werden. Gleichzeitig und in gewissem Widerspruch dazu stehen Partnerschaft und Familie bei der Mehrheit der Bevölkerung als Lebensziele nach wie vor ganz oben. Von gesellschaftlich geforderten und abgestützten Institutionen entwickeln sich Ehe und Familie zu individuellen Entscheidungen, deren Konsequenzen zu „schwerwiegenden Vereinbarkeitsproblemen“ (S. 90) führen können. Familie werde zum Luxusgut.
Im mit Abstand umfangreichsten Kapitel 5 geht es nun um Soziale Ungleichheit. Darunter verstehen Huinink und Schröder – hier Stefan Hradil weitgehend folgend – „gesellschaftlich bedingte, strukturell verankerte Ungleichheit der Lebens- und Handlungsbedingungen von Menschen, die ihnen in unterschiedlichem Ausmaß erlauben, in der Gesellschaft allgemein anerkannte Lebensziele zu verwirklichen“ (S. 97). Bezugnehmend auf Robert Merton und Hartmut Esser bestimmen die Autoren die gesellschaftlich anerkannten Lebensziele als Objekte, Ressourcen und Zustände, die alle Mitglieder einer Gesellschaft erlangen möchten – in unserer Gesellschaft etwa Wohlstand. Um diese Ziele zu erreichen, können die Menschen ‚institutionalisierte Mittel‘ einsetzen, d.h. erlaubte Ressourcen zur legitimen Erlangung der Ziele. Bezahlte Arbeit oder Steuerspekulation wären Beispiele dafür, nicht aber ein Banküberfall. Diese Mittel sind aber sozial ungleich verteilt.
Im Kapitel wird das zentrale Anliegen der Systematisierung, das Huinink und Schröder verfolgen, besonders deutlich. In Abgrenzung zu anderen einschlägigen Autoren, wie etwa Reinhard Kreckel, entwickeln sie ein engeres Verständnis von sozialer Ungleichheit: Sie unterscheiden zwischen Dimensionen und Determinanten sozialer Ungleichheit. Dimensionen sozialer Ungleichheit beziehen sich auf Merkmale, die es Menschen erlauben, allgemein anerkannte Lebensziele zu erreichen. Man kann sie in eine Rangfolge von ‚Mehr‘ oder ‚Weniger‘ bringen, z.B. Bildung und Einkommen. Deren Gesamtheit bezeichnen sie als ‚Lebenslage‘. Determinanten sozialer Ungleichheit beziehen sich auf Merkmale, die soziale Ungleichheit mitverursachen, z.B. Alter und Geschlecht. Aus Sicht der Autoren ist diese Unterscheidung schlüssiger als diejenige von vertikalen und horizontalen Merkmalen sozialer Ungleichheit.
Im Weiteren gehen Huinink und Schröder zunächst auf die Dimensionen sozialer Ungleichheit ein und präsentieren dazu eine Systematik (vgl. die Übersicht auf S. 107). Sie nehmen eine Unterscheidung von vier Dimensionengruppen vor, die das weitere Unterkapitel strukturieren:
- Ökonomische Dimensionen (1): Dazu zählen Huinink & Schröder Bildung und Wissen, Einkommen, finanziellen und materiellen Besitz.
Bildung wird umfassend als Gesamtheit der Problemlösungsfähigkeiten und -fertigkeiten verstanden und angelehnt an Pierre Bourdieus Konzept des kulturellen Kapitals entwickelt. Empirisch zeigt sich, dass die Bildungsungleichheit in Deutschland trotz der ‚Bildungsexpansion‘ in den 1960er/70er Jahren immer noch hoch ist.
Die Einkommensungleichheit, wozu diverse Messkonzepte präsentiert werden, ist ebenfalls ausgeprägt, wobei sie nach einem Anstieg zu Beginn des Jahrtausends derzeit nicht mehr zu steigen scheint. Allerdings haben sich die Bruttoarbeitsentgelte der sozialversicherten Vollbeschäftigten zwischen 1999 und 2010 sehr deutlich auseinanderentwickelt: Während die Großverdienenden deutliche reale Einkommenszuwächse verbuchen konnten, mussten die unteren Einkommensgruppen reale Verdiensteinbußen hinnehmen. Dies ist eine Folge der erheblichen Ausweitung des Niedriglohnsektors nach Einführung der Hartz-Maßnahmen 2003.
Ende 2011 hatten gut 6 Mio. Menschen weniger als das ‚soziokulturelle Existenzminimum‘ zum Leben zur Verfügung, bezogen also Arbeitslosengeld II oder Sozialhilfe (‚bekämpfte Armut‘). Außerdem wird Konzept der ‚relativen Einkommensarmut‘ erläutert: danach lag der Anteil Armutsgefährdeter 2011 bei 15,8% (bei einer Armutsrisikoschwelle von 955 Euro). Gleichzeitig gab und gibt es in Deutschland eine „sehr starke und über die Zeit zunehmende Vermögenskonzentration“ (S. 128).
- Wohlfahrtsstaatliche Dimensionen (2): Dazu werden soziale Absicherung, Erwerbschancen, Gesundheitsrisiken, Arbeits-, Freizeit- und Wohn(umwelt)bedingungen gerechnet. Diese werden nur sehr kursorisch abgehandelt, wobei zum Arbeitsmarkt auf Kap. 6 verwiesen wird und zu anderen Aspekten auf Studien.
- Soziale Dimensionen (3): Hierbei geht es um soziale Beziehungen, Macht und Einfluss, Diskriminierungen und Privilegien sowie soziales Prestige. Die Relevanz sozialer Beziehungen wird mit Verweis auf Bourdieu und Coleman als Sozialkapital theoretisch entwickelt, wobei insbesondere soziale Herkunftseffekte für soziale Ungleichheit von Belang seien. Empirische Befunde werden nicht präsentiert. Macht und sozialer Einfluss sowie Diskriminierungen und Privilegien werden in knappster Form angesprochen. Beim sozialen Prestige wird auf die Bedeutung von sozialer Distinktion hingewiesen.
- Emanzipatorische Dimensionen (4): Dazu werden soziale Rollen, Selbstbestimmungschancen und gesellschaftliche Partizipation gezählt. Diese Aspekte werden auf einer Seite in ihrer Relevanz umrissen, aber weder theoretisch noch empirisch unterlegt.
Danach folgt die Darstellung von Determinanten sozialer Ungleichheit, also der Merkmale, die „auf vielfältige Weise einen theoretisch begründbaren Einfluss auf Dimensionen sozialer Ungleichheit haben“ (S. 145). Dazu zählen Huinink & Schröder den Beruf („wichtigste Determinante“, S. 146), das Geschlecht, das Alter, die Wohnregion, die Lebensform, Staatsangehörigkeit/Migrationshintergrund. Diesbezüglich werden einige Befunde vorwiegend mit Blick auf die Einkommensungleichheit präsentiert: Frauen verdienen nach wie vor weniger (‚gender pay gap‘), Gleiches gilt für Ostdeutsche und Migranten. Zum Zusammenhang der unterschiedlichen Wirkfaktoren benennen die Autoren drei typische Prinzipien: Das Matthäus-Prinzip (wer hat, dem wird gegeben – wer nicht hat, dem wird noch mehr genommen), das Dominanzprinzip (ein einziger Faktor ist entscheidend, z.B. Wissen) und das Substitutionsprinzip (Vor- und Nachteile können sich ausgleichen).
Theorien sozialer Ungleichheit, die die Mechanismen ihrer Entstehung und Reproduktion erklären, werden nun von Huinink & Schröder diskutiert. Sie erörtern konflikttheoretische Ansätze (Marx/Engels), funktionalistische Theorien (Parsons, Davis/Moore), markttheoretische Ansätze (Adam Smith, Becker), austausch- und machttheoretische Ansätze (Blau) sowie milieu- und lebensstiltheoretische Ansätze (Bourdieu, Vester u.a.). Sie stellen die zentrale Argumentation des jeweiligen theoretischen Ansatzes und die Kritik daran vor. Sie selbst geben am Ende keinem einzelnen Ansatz den Vorzug, sondern plädieren für Theorienvielfalt und Gegenstandsbezogenheit.
Die Strukturen sozialer Ungleichheit werden – neben einem kurzen Abschnitt zu Ständen – anhand von Klassen-, Schicht- sowie von Milieu- und Lebensstilmodellen erörtert:
In marxistischen und neo-marxistischen (Erik Olin Wright) Klassenmodellen wird die soziale Lage zentral durch die Verfügungsgewalt über Wirtschaftsgüter und Produktionsmittel bestimmt. Im Klassenmodell von Max Weber kommen die Marktchancen von Leistungsqualifikationen hinzu, die zu gleichartigen Lebenschancen führen. Das darauf aufbauende Klassenschema von Erikson, Goldthorpe & Portocarero wird bis heute oft verwendet, z.B. im Datenreport des Statistischen Bundesamtes.
Schichtmodelle berücksichtigen neben ökonomischen Faktoren weitere Indikatoren, wie etwa Qualifikationen, Machtpositionen und soziales Prestige. Die prominenten Modelle (das Lagerungsmodell von Theodor Geiger, das Zwiebelmodell von Bolte, Kappe & Neidhardt, die Hausmodelle von Ralf Dahrendorf und von Rainer Geißler) werden dargestellt.
An der Gültigkeit dieser Modelle und der ihnen zugrundeliegenden Vorstellungen zur sozialen Ungleichheit wurde seit Mitte der 1980er Jahre sehr deutlich Kritik geübt. Sozialwissenschaftler wie Ulrich Beck oder Stefan Hradil wiesen u.a. darauf hin, dass die klassischen Ungleichheitsmerkmale im Zuge allgemeiner Wohlstandssteigerung und gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse an Erklärungskraft und an Bedeutung für das Handeln der Individuen verloren hätten. In der Folge entstanden neue Modelle: Bei den sozialen Milieus werden zusätzlich zur sozialen Lage auch ‚Mentalitätsfaktoren‘ (Werthaltungen, subjektive Orientierungen) und/oder auch distinktive Positionen im Herrschaftsgefüge miteinbezogen. Die sog. Sinus-Milieus aus der Marktforschung und das Hannoveraner Milieu-Modell auf der Basis der Arbeiten von Bourdieu (Vester, von Oertzen, Geiling, Hermann & Müller) werden dargestellt. Lebensstiltypologien, die stark auf Ähnlichkeiten von Verhaltens-, Äußerungs- und Interaktionsweisen (z.B. Freizeitinteressen) setzen, werden kurz erwähnt und kritisiert. Huinink/Schröder verweisen auf empirische Untersuchungen von Rainer Geißler, die zeigen, dass der Bedeutungsverlust klassischer Dimensionen sozialer Ungleichheit deutlich überschätzt worden ist und dass Milieus schichttypisch ausgeprägt sind, die Korrelationen zwischen ‚klassischen‘ und ‚neuen‘ Ungleichheitsdimensionen also hoch sind.
Der letzte Teil des umfangreichen Kapitels widmet sich der sozialen Ungleichheit im Lebenslauf, m.a.W. der sozialen Mobilität. Nach einer Erläuterung zentraler Grundbegriffe konzentrieren sich Huinink/Schröder einerseits auf intragenerationale Mobilität (Auf- und Abstiege im eigenen Lebenslauf) und andererseits auf intergenerationale Mobilität (Auf- und Abstiege im Vergleich zu den Eltern).
Was die intragenerationale Mobilität anbelangt, so erläutern die Autoren die These vom Abschied von der ‚Normalbiografie‘. Der institutionell geregelte, an Alter und Geschlecht gebundene lebensbiografische Phasenverlauf, der sich in der Moderne herausgebildet hat, wird mehr und mehr deinstitutionalisiert und destandardisiert. Individuelle Motive, wie Selbstentfaltung und Autonomie, steuern vermehrt biografische Entscheidungen (besonders nun auch bei Frauen). Dazu kommen Brüche und Instabilitäten in den Lebensverläufen, die durch Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Für die These gebe es auch empirische Belege, dennoch sei die intragenerationale berufliche Mobilität im internationalen Vergleich in Deutschland noch vergleichsweise niedrig.
Die intergenerationale Mobilität wird anhand der ‚sozialen Vererbung‘ von Bildungs- und Berufspositionen besprochen. Dies meint, dass der Bildungs- und Berufserfolg der Kinder nicht nur von ihrer Leistungsfähigkeit, sondern von ihrer sozialen Herkunft abhängig, also sozial selektiv ist. Durch die ‚Bildungsexpansion‘ sind die Bildungschancen für Kinder aus allen sozialen Schichten verbessert worden, die herkunftsbedingte Ungleichheit wurde aber nicht beseitigt. Diese ist in Deutschland auch weiterhin im internationalen Vergleich hoch. Auch das Ausmaß der intergenerationalen Mobilität bezüglich der Berufspositionen hat sich in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren nicht bedeutsam verändert, so zitieren Huinink/Schröder den Datenreport.
Kapitel 6 behandelt Sozialstruktur und gesellschaftliche Institutionen. Zunächst erläutern die Autoren zwei Modelle zum Einfluss gesellschaftlicher Institutionen auf die Sozialstruktur. Die Typologie von Esping-Andersen ordnet Deutschland den ‚korporatistisch-konservativen Wohlfahrtsstaaten‘ zu (im Unterschied zu den ‚liberalen Wohlfahrtsstaaten‘, wie Großbritannien, und den ‚sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten‘, wie Schweden): Hierzulande wird soziale Sicherung durch Erwerbsarbeit und ein auf Erwerbsarbeit bezogenes ausgebautes Sozialversicherungswesen erreicht, die Familie spielt aber ebenso eine wichtige Rolle dabei, und soziale Umverteilungsprozesse sind recht gering ausgeprägt. Das Kräftefeldmodell von Kreckel betont dagegen, dass die Strukturen sozialer Ungleichheit in hohem Maße auf Aushandlungsprozessen zwischen unterschiedlichen Akteuren beruhen, wie Verbänden und Parteien.
Recht ausführlich werden von Huinink/Schröder dann Wirtschaft und Arbeitsmarkt als gesellschaftliche Institutionen besprochen. Die auf Privateigentum, Marktwirtschaft und Arbeitsteilung basierende Wirtschaftsstruktur Deutschlands ist der entscheidende Zuweisungsbereich für die Lebenschancen der Menschen. Das Leistungsprinzip (‚meritokratisches Prinzip der Statuszuweisung‘) ist als legitimes Prinzip tief verankert, aber nicht durchgesetzt, wie die Autoren mit Blick auf die begrenzte soziale Durchlässigkeit des Ungleichheitsgefüges betonen. Dies zeigt sich auch in der deutlichen Auseinanderentwicklung der Einkommen aus abhängiger Beschäftigung und der Unternehmensgewinne seit 2003, die mit einem beschleunigten Ausbau des Niedriglohnsektors in Folge der Hartz-Reformen zusammenhängt.
Wichtige Trends auf dem Arbeitsmarkt sind der deutliche Anstieg der Erwerbsbeteiligung von westdeutschen Frauen und der auch damit zusammenhängende zunehmende Anteil von Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten. Das ‚Normalarbeitsverhältnis‘ ohne Befristung, mit sozialer Sicherung und einer über Teilzeitbeschäftigung liegenden Arbeitszeit ist auf dem Rückgang. Dagegen nehmen Formen ‚atypischer Beschäftigung‘ besonders für Frauen und in einfachen Berufsfeldern zu. Die recht stark ausgeprägte Segmentation des Arbeitsmarktes in Deutschland erschwert soziale Mobilität.
Die Familie als weitere zentrale gesellschaftliche Institution vermittelt und sichert soziale Wohlfahrt und soziale Statuspositionen. Wenngleich die traditionelle Form der bürgerlichen Familie an Bedeutung verliert, so sind die gegenseitigen Hilfeleistungen zwischen den Generationen doch weiterhin sehr umfangreich. Besonders Frauen suchen vermehrt nach Entlastung, werden dabei aber längst noch nicht hinreichend unterstützt. Die im europäischen Vergleich hinterherhinkenden institutionellen Unterstützungsangebote, das weiterhin traditionell geprägte Familienbild sowie die weiterhin stark auf das Haupternährermodell ausgerichtete Familien-, Steuer- und Sozialgesetzgebung begünstigen den Fortbestand der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Deutschland.
Der Einfluss des Wohlfahrtsstaats auf die Sozialstruktur ist ebenfalls sehr ausgeprägt. Durch Steuerung, Kontrolle und Regulierung wie auch durch die Bereitstellung von Infrastruktur, Dienstleistungen und sozialen Sicherungsmaßnahmen nimmt er Einfluss. Besonders mittels Sozialpolitik steuert der Staat und nimmt umfangreiche Umverteilungen vor. Die Definitionsmacht von Bedürftigkeit und Interventionsbedarf ist ein wichtiges Instrument der jeweils Herrschenden. Darüber hinaus verfolgt der Staat bzw. seine Entscheidungsträger Eigeninteressen. In der Theorie der ‚Disparität der Lebensbereiche‘ (Bergmann, Brandt, Körber, Mohl & Offe) wird betont, dass staatliches Handeln in erster Linie Zielen wie wirtschaftlicher Stabilität und Machterhalt folgt und deswegen Wirtschaftsinteressen den Vorrang etwa gegenüber Kultur, Gesundheit oder sozialer Absicherung gibt. Soziale Ungleichheiten werden so verstärkt – und zwar in doppelter Weise: Die ohnehin Privilegierten erhalten vermehrt Unterstützung und sind weniger von Einschnitten in anderen Lebensbereichen betroffen bzw. können ihnen ausweichen.
Im Schlusskapitel 7 machen Huninik und Schröder noch einige Anmerkungen zur Entwicklung der Sozialstrukturforschung. Die demografische Sozialstrukturforschung hat aus ihrer Sicht mit der konsequenten Hinwendung zu Längsschnitt- und auf Individualdaten basierenden Analysen in den vergangenen Jahren einen sehr guten Weg genommen. Dagegen sei das Bild der Ungleichheitsforschung disparater. Obgleich weitgehend Einigung darüber bestehe, dass mehrdimensionale Gliederungskonzepte der aktuellen Gesellschaftsstruktur entsprechen, gebe es keine Einigkeit über adäquate Modelle und ein Defizit an theoretischen Begründungen. Skeptisch zeigen sich die Autoren gegenüber der zusätzlichen Berücksichtigung von subjektiven Wohlfahrtsdimensionen; sie verweisen auf systematische und theoretische Defizite. Dagegen sehen sie auch in diesem Feld ein großes Erkenntnispotenzial von Lebenslaufansätzen.
Diskussion
Johannes Huinink und Torsten Schröder haben mit ihrem Buch eine breite und systematisierende Einführung in die Sozialstruktur Deutschlands vorgelegt. Die nur geringfügigen Änderungen gegenüber der ersten Auflage zeigen, dass das Konzept trägt und in der Lage ist, die Vielfältigkeit der Aspekte, Ansätze, Datengrundlagen, empirischen Befunde und theoretischen Ansätze in diesem Feld zusammenzuhalten und auf knapp 300 Seiten zu verdichten. Entsprechend sind die präsentierten Inhalte im Einzelnen oft sehr gerafft und auf das Wesentliche konzentriert, aber die Autoren geben umfassende Hinweise auf weiterführende Studien und Datenquellen.
Die Schwerpunktsetzung auf demografische Sozialstrukturforschung, soziale Ungleichheit und Einflüsse grundlegender gesellschaftlicher Institutionen ist dem Gegenstand angemessen und auch in anderen Einführungen zu finden. Ihre thematischen Ausführungen erklären und belegen die Autoren immer wieder mit passenden aktuellen Beispielen, sodass ihr Ziel, über zentrale Aspekte der Sozialstruktur Deutschlands zu informieren, erreicht wird. Zum Teil sperrige, aber wichtige Konzepte und Maßzahlen erläutern sie verständlich und nachvollziehbar. Überhaupt ist die klare und eindeutige Sprache eine besondere Qualität des Buches. Unterschiedlichste Begriffe und Ansätze werden von den Autoren erklärt und kritisch eingeordnet und zudem sehr gut mit dem Register erschlossen. Die Datenauswahl ist geeignet und transparent. Leider sind einige der Abbildungen (wohl aus Platzgründen, aber auch wegen der Farbgebung) schlecht lesbar bzw. nicht vollständig nachvollziehbar (z.B. S. 60, 112). Sehr instruktiv sind die internationalen, überwiegend europäischen Vergleichsdaten: Die teils frappierenden Unterschiede verweisen auf Möglichkeits- und Gestaltungsräume. Bisweilen wären stärkere sozialhistorische Bezüge hilfreich gewesen, etwa bei der Darstellung der Theorien zur sozialen Ungleichheit, die ja auch immer die herrschenden gesellschaftlichen Umstände und Ideologien reflektieren.
Huinink und Schröder verfolgen mit ihren Ausführungen aber nicht nur einen darstellenden und erörternden, sondern auch einen systematisierenden Anspruch. Insbesondere geht es ihnen darum, die Wirkbeziehungen zwischen unterschiedlichen Merkmalsbereichen eindeutiger (und damit letztlich auch prüfbarer) zu machen. Dazu dienen ihre Unterscheidungen zwischen sozialer Beziehungsstruktur und sozialer Verteilungsstruktur einerseits und zwischen Dimensionen sozialer Ungleichheit und Determinanten sozialer Ungleichheit andererseits. Auch wenn man über die Auswahl und Relevanz der einzelnen Merkmalsbereiche durchaus streiten kann (etwa wenn der Beruf als grundlegender als das Geschlecht erachtet wird), so sind diese Differenzierungen analytisch durchaus nachvollziehbar und schaffen auch mehr Eindeutigkeit. Allerdings werden die verschiedenen Merkmalsbereiche in sehr unterschiedlicher Ausführlichkeit im Buch behandelt. Die soziale Beziehungsstruktur wird von Vornherein (weitgehend) ausgeklammert und nur hin und wieder pflichtschuldig erwähnt. Und von den Dimensionen und Determinanten sozialer Ungleichheit werden die ‚üblichen‘, wie Bildung, Beruf, Einkommen, Erwerbsstatus zum Teil recht umfangreich ausgeführt, während andere nur sehr kurz ohne irgendeinen Befund und offensichtlich nur der Systematik wegen erwähnt werden. Insoweit handelt es sich um einen Kompromiss zwischen dem innovativen Systematisierungsanliegen und der recht konventionellen, sicher auch der unterschiedlichen Datenverfügbarkeit geschuldeten Abhandlung der Abschnitte. Dennoch sind die systematische Darstellung und auch die fortlaufenden Hinweise auf Zusammenhänge eine zentrale konzeptionelle Leistung des Buches.
Eine weitere ist die theoretische Entwicklung des Modells einer „mikrofundierten Sozialstrukturanalyse“, auf das Huninik und Schröder ihre theoretische Argumentation basieren. Die Modellierung des Zusammenhangs zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Lebensläufen mit Bezug auf konkrete Darstellungen der Sozialstrukturanalyse setzt sich ab von den herkömmlichen auf Makrostrukturen konzentrierten Sozialstrukturanalysen. Allerdings wird die Mikrofundierung in den Argumentationen des Buches nur in Teilen eingelöst; sie ist eher allgemeiner Betrachtungsrahmen als konkretes Begründungskonzept. Dazu hätte es einer stärkeren Bezugnahme auf gegenstandsbezogene Brückenhypothesen und Transformationsregeln bedurft – diese bleiben zu oft implizit.
Positiv hervorzuheben ist schließlich die starke didaktische Durcharbeitung des Buches. Hier kommen die langjährigen Erfahrungen der Verfasser in der Vermittlung der Sozialstrukturanalyse an Studierende deutlich zum Ausdruck. Das Buch zeichnet sich durch einen stringenten und klaren Aufbau aus. Die begrifflichen, konzeptionellen und theoretischen Einführungen wie auch die inhaltlichen Argumentationen und empirischen Belege sind für Anfänger und Anfängerinnen verständlich, ohne zu simplifizieren, und bieten auch für Fachleute viele interessante Informationen – auch zum Nachschlagen. Das Publikationskonzept mit farblich gestalteten Einführungen, Übersichten und Infoteilen, mit textbegleitenden Stichworten am Seitenrand und mit Lernkontrollfragen wird konsequent genutzt.
Fazit
Johannes Huinink und Torsten Schröder haben ihre solide, systematische, informative und gut lesbare Einführung in die Sozialstruktur Deutschlands nun in aktualisierter Auflage vorgelegt. Das Buch vermittelt theoretische Grundlagen der mikrofundierten Sozialstrukturanalyse und aktuelle empirische Befunde zur Sozialstruktur Deutschlands, oft auch im europäischen Vergleich. Sehr empfehlenswert.
Rezension von
Dr. Annette Harth
Verwaltungsprofessorin für Sozialwissenschaftliche und soziologische Grundlagen Sozialer Arbeit, HAWK Hildesheim/Holzminden/Göttingen
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Es gibt 2 Rezensionen von Annette Harth.
Zitiervorschlag
Annette Harth. Rezension vom 25.03.2015 zu:
Johannes Huinink, Torsten Schröder: Sozialstruktur Deutschlands. UTB
(Stuttgart) 2014. 2., überab. Auflage.
ISBN 978-3-8252-4234-3.
UTB basics.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7221.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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