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Rudolf Denk, Thomas Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 04.06.2009

Cover Rudolf Denk, Thomas Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik ISBN 978-3-503-09856-9

Rudolf Denk, Thomas Möbius: Dramen- und Theaterdidaktik. Eine Einführung. Erich Schmidt Verlag (Berlin) 2008. 232 Seiten. ISBN 978-3-503-09856-9. 17,80 EUR. CH: 30,00 sFr.
Reihe: Grundlagen der Germanistik - 46.

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Thema

Wie schon der Buchtitel andeutet, wollen Denk/Möbius in ihrer einführenden „Dramen- und Theaterdidaktik“ Drama (also den eigens für Theateraufführungen geschriebenen Theatertext) und Theater (als Aufführung und Inszenierung) nicht voneinander trennen; die Lernenden sollen „von vornherein und unmissverständlich die unauflösliche und spannungsvolle Verknüpfung von dramatischen Texten mit den Dimensionen des Szenisch-Theatralischen entdecken, beschreiben, definieren und diskutieren“ (S. 16). Sie beklagen, „dass Fachdidaktiker die Bereiche ‚Drama‘ und ‚Theater‘ bislang vergleichsweise stiefmütterlich behandelt haben„; sie plädieren für „didaktische Veranschaulichungswege und Strategien“, die „eine umfassende Theatralitätskompetenz der Heranwachsenden ausbilden. Es ist das Ziel der vorliegenden Einführung, dieses Desiderat einzulösen“ (23). Aus diesem Grund umfasst das Buch „neben grundlegenden Informationen zur Dramen- und Theatergeschichte, zur Dramen- und Theateranalyse, zu grundlegenden Modellen der Dramaturgie und zu den bisherigen dramendidaktischen Konzepten eine Einführung in eine ‚andere‘, eine werkstattorientierte Dramendidaktik“ (10). Ziel der beiden Autoren ist „die Herausbildung einer ‚Theatralitätskompetenz‘, …, die den Theaterbesucher in die Lage versetzt, gewissermaßen als ‚Schau-Meister‘ in Inszenierungskategorien denken und Theateraufführungen eigenständig analysieren, bewerten und beurteilen zu können“ (11).

Zugegeben: ein schwieriges Thema, eine komplizierte Aufgabe. Denn: es gab zwar einige Jahrhunderte lang vor allem eigens für das Theater (oder genauer: für eine besondere Form von literarischem Theater) geschriebene Texte; einige dieser Texte gehören zum „kulturellen Erbe“, werden immer noch gelesen und viel gespielt; es gibt jedoch mehr und mehr Theaterleute, die diese Texte verändert (manchmal stark oder bis zur Unkenntlichkeit verändert) inszenieren. Es gab und gibt aber auch Aufführungen, die ohne Textvorlagen (oder mit rudimentären Textvorlagen) auskommen; gegenwärtiges Theater nutzt beinahe jede Art von Texten, auch und gerade solche, die nicht für das Theater geschrieben sind (oder keine „dramatische Form“ haben); und schließlich gehören auch Oper, Musical, Ballett und Tanztheater, Pantomime, Performance zum Theater, ist der Auftritt einer Liedermacherin, eines Märchenerzählers ebenfalls eine theatrale, inszenierte Aufführung. Das Grundverhältnis Theater – Text ist also vielgestaltig, problematisch; es wäre neu zu denken, grundsätzlich zu bedenken.

Noch komplizierter wird das Verhältnis Drama – Theater, wenn wir verschiedene Rezeptionshaltungen, genau definierte oder vage Erwartungshorizonte von Lesern und Theaterbesucherinnen einbeziehen. Ein Leser kann Schillers Tell genießen (oder verabscheuen), ohne dabei an Bühnenfiguren zu denken; er kann den lächelnden See, kann Hirten, Jäger, Gewitter, Mondlicht „real“ imaginieren. Ein Leser kann einen beliebigen Roman lesen (oder ein Kochrezept) und dabei den Text als Bühnenhandlung denken, auch schon ein konkretes Ensemble im Kopf haben und einen real existierenden Bühnenraum samt Finanzierungskonzept. Eine Leserin kann zwischen diesen hier unterschiedenen Rezeptionshaltungen wechseln, ein Drama lesen (oder beliebige andere Texte) und sie sich beim Lesen manchmal auf einer Bühne vorstellen, zeitweilig in einer irgendwie gearteten „Realität„; es kann gut sein, dass sie gar nicht merkt, WO und WIE sie sich den Text „vorstellt“.
Schließlich lässt sich gattungstheoretisch immer noch von Epik, Lyrik, Dramatik als den drei ‚Naturformen‘ der Dichtung sprechen, wobei das „Dramatische“ noch etwas anderes ist als ein Drama und sich im Epischen wie im Lyrischen finden lässt. Wie nun geht die „Dramen- und Theaterdidaktik“ mit diesem schwierigen Thema um?

Aufbau und Inhalt

Denk/Möbius erläutern zunächst „Grundlegende Strukturen“ von der griechischen Antike bis zur Neodramatik (Kap. 2.1) und „Traditionelle Elemente der Dramenanalyse und Entwürfe einer Theatersemiotik“ (2.2); sie referieren „Didaktische Konzepte der Dramenvermittlung“ vor 1945 und von 1945 bis 2007 (Kap. 3) und stellen dann in „Das Dramatische und Theatralische in didaktischer Sicht“ (Kap. 4) ihren „eigenen Ansatz“ (S. 97) vor, der mit „Dramaturgiemodelle“ (Kap. 5), „Theaterwerkstatt“ (Kap. 6) und „In Inszenierungskategorien denken – Dramaturgische Kompetenz bewerten“ (Kap. 7) weiter geführt wird. Glossar und Literaturverzeichnis schließen das Buch ab.

In den einzelnen Kapiteln wird eine Fülle von Fakten, Problemen und Ansichten präsentiert. So reicht die „Diachrone Spurensuche: Schnittpunkte in der Entwicklung von Drama und Theater“, also das Kapitel 2.1, vom „Drama und Theater der griechischen Antike“ über römische Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit, Shakespearezeit, Commedia, Höfisches Theater, den “Reigen der Wiener Theater“ (der nichts mit Schnitzler zu tun hat), über „Visionen eines ‚Nationaltheaters‘ in Deutschland“, „Theaterutopien der klassischen Moderne bis zum Expressionismus“, dann zum Theater der Nachkriegszeit („Werktreue oder Neubeginn“) und schließlich zur unmittelbaren Gegenwart unter der Überschrift „Vom Regietheater zur Neodramatik de 21. Jahrhunderts“ (S. 24 bis 65).

Positiv fallen dabei auf eine Reihe von gut ausgewählten Zitaten (etwa Opitz 41, Gottsched 45, Lessing 46, Herder 47), gelungene Einzelinterpretationen (etwa “Torquato Tasso klassisch“ in der Inszenierung von Leopold Lindtberg 173), die „Einübung in expositionelles Denken“ (am Beispiel des Don Carlos 118 f). Erfreulich ist die vielfache Einbeziehung des Theaterbaus (mit einer Reihe von klaren und aufschlussreichen Architektur- und Raumskizzen), vertretbare Eigenheit die Aufwertung von Piscator gegenüber Brecht (55 ff).

Störend bemerkbar machen sich jedoch immer wieder die vielen, oft unverbundenen Detailinformationen, die bei der thematischen Vielfalt (Theatergeschichte, Dramaturgie, Didaktik, eigener Ansatz) trotz einiger zusammenfassender Grafiken in keinem Kapitel zu einer klaren, kritisch reflektierten Aussage führen.

Diskussion

Problematisch erscheint mir die „Dramen- und Theaterdidaktik“ in drei Bereichen: dem Werkstatt-Begriff, dem Schreibstil der beiden Autoren, der Stofffülle und den damit verbundenen Ungenauigkeiten. Zwar waren die Intentionen von Denk/Möbius anders: „Nicht Stofffülle, also die Aufzählung von Autoren und Werken mit vielen Jahreszahlen, die sich leicht als Fakten ermitteln lassen, stand im Mittelpunkt“ (65).

Wenn aber etwa im „Überblick“ über „Forschungsansätze“ bei der Charakterisierung von Mario Andreotti insgesamt neun Autoren genannt werden, an denen er sich „orientiert“ (66), wenn als Vertreter für das „so genannte ‚moderne Regietheater‘“ 12 Regisseure und dann noch einmal fünf (die „so genannten ‚konservativen‘“) aufgezählt werden (184), dann ist dieses name-dropping eher verwirrend und endet bei den Regisseuren überdies mit einem missratenen Satz: „Die Texte verlieren bei den aus der großen Zahl von Kunstschaffenden ausgewählten Namen … tatsächlich ihre Rolle als Parameter und Kontrollinstrument einer Aufführung“ (184 – Texte verlieren bei Namen ihre Rolle …?).

Ähnlich mit Details überfüllt sind die oben aufgezählten 11 Teilkapitel zur Theatergeschichte. Das führt dann zu mancherlei historischem Holterdipolter: „so bildet sich als eigentlicher weltlicher Gegenpol im Spätmittelalter das Lustspiel aus, vor allem in Gestalt von Neidhart- und Fastnachtsspielen. In der Tradition des antiken römischen Lustspiels steht in diesen Dramen die Massenunterhaltung im Vordergrund“ (33) – „Lustspiel“ als Terminus, „Massenunterhaltung“ sind zumindest deplatziert; Neidhart- und Fastnachtsspiele stehen NICHT in der Tradition des römischen Lustspiels; auf S. 35 sind sie übrigens durchaus richtig beschrieben. Dann aber folgt: „Das Humanistendrama, wie es sich im 15. Jahrhundert im Anschluss an Roswitha von Gandersheim vor allem nördlich der Alpen ausbildet…“ (35); Hrosvitha (Hrotsvith) aber, die aus niedersächsischem Adel stammende Nonne, lebte im 10. Jahrhundert – da kann von „Anschluss“ nicht die Rede sein. Ihre nach dem Muster von Terenz in lateinischer Sprache geschriebenen sechs Dramen sind Lektüre, nicht für die Bühne gedacht.

Ärgerlich auch, wenn Begriffe unklar bleiben oder falsch gebraucht werden. So werden in einer Tabelle (191) nacheinander Bühnenbild, Ausstattung, Kostüme aufgeführt; Ausstattung ist jedoch der Sammelbegriff für die „Gesamtheit der bei einer Inszenierung benutzten Hilfsmittel (Kulissen, Möbel, Kostüme)“ (so im Brockhaus), „ein zusammenfassender Ausdruck für Bühnenbild, Dekoration, Maske, Requisite“ (Rischbieter, Theaterlexikon).

Völlig unvermittelt heißt es auf S. 151: „Doyenne und Doyen zu sein bedeutet, soignierte Figuren zu übernehmen“. Ein Doyen ist zunächst einmal nur der Sprecher einer Gruppe, gebräuchlich z.B. noch für den Sprecher eines diplomatischen Korps gegenüber dem Gastland. An der Comédie Francaise war der Doyen jeweils einer der ältesten und angesehensten Schauspieler; das hatte aber nichts mit seinen Rollen (seinem Rollenfach) zu tun.

Dann Widersprüche und Inkonsequenzen: Mehrfach im Text ist vom Regiekonzept die Rede; auf S. 190 wird Peter Zadek zitiert: „ihm seien nur die Kritiker und Rezensenten wichtig, ‚die genau verstehen, was man will, und die dann … beurteilen, ob man es erreicht hat oder nicht‘“ (190). Nur eine Seite später stellen Denk/Möbius in Abbildung 24 die „Rezension eines Stückes bzw. einer Inszenierung“ dar: „Regisseur + Werdegang + Umsetzung des Stücks“ werden aufgeführt, vom Konzept des Regisseur, seinem Regiewillen ist nicht die Rede.

Noch ein letztes Beispiel. „Handlung“ wird unter „traditionelle Elemente der Dramenanalyse“ ausführlich erläutert (69 ff); dabei heißt es „im höfischen Drama des 18. Jahrhunderts wird der Wertekonflikt zwischen Ehre und Liebe behandelt„; in Klammern werden dazu zwei Beispiele genannt: „Schiller Phädra, Lessing Miss Sara Sampson“ (71). Das erste Beispiel gibt nur dann Sinn, wenn der Leser weiß, dass „Schiller Phädra“ eine einfache und treue Übersetzung der Phädra des Racine ist, von Schiller kurz vor Ende seines Lebens für eine Festaufführung im Weimarer „Hoftheater“ angefertigt und 1805 aufgeführt - aber auch dann wäre zu ergänzen, dass es sich bei der Weimarer Aufführung höchstens um eine späte Form des höfischen Dramas (richtiger wäre hier: des höfischen Theaters!) handelt. Gänzlich deplatziert ist das zweite Beispiel, das bürgerliche Trauerspiel „Lessing Miss Sara Sampson“, 1755 in Frankfurt/Oder uraufgeführt durch die Ackermannsche Gruppe, weder Hoftheater noch höfisches Drama. Hier wie an anderen Stellen entsteht der Eindruck, als sei der Text nach dem Schreiben ohne weitere Korrekturdurchsicht sofort gedruckt worden[1].

Eine besondere Enttäuschung erlebt der Leser, der sich unter dem Begriff Werkstatt praktisch-szenisches Handeln vorgestellt hat. Zwar wird ein Werkstatt-Teil angekündigt, in dem die Studierenden „Rezeptions- und Produktionsprozesse reflektierend nachvollziehen und selbst durchführen können“ (13); der Begriff „Werkstatt“ wird immer wieder genannt, die Werkstattkapitel als Besonderheit hervorgehoben; bei genauerem Lesen geht es jedoch immer wieder primär oder gar ausschließlich um „Kognition„; wirkliches Agieren (Tun, Handeln, altgriechisch dran – das zu dem Substantiv Drama gehörende Verb) kommt kaum vor und wird so gut wie nicht expliziert. „Eine Art ‚Meisterschaft‘ des Zuschauens kann dann gelingen, wenn schon die Schüler, wenn die Studierenden und die Lehrenden die wesentlichen Elemente des Dramatischen und Theatralischen in kognitiven (!) Probesituationen so eingeübt (!) haben, dass sie Zeit ihres Lebens ‚Meisterzuschauer/innen‘ im Theater werden und bleiben“ (21). Als „produktive Verfahrensweisen“ werden aufgeführt: „beispielsweise Schreiben eines Regiebuches …, Verfassen eines inneren Monologs, Verfassen eines Gegentextes, Verfassen eines Briefes aus der Perspektive einer Figur, Entwurf eines Bühnenbildes, Figurenmodellierung durch das Entwerfen von Rollenprofilen“ (201); „produktionsorientiert“ heißt also vor allem Lesen und Schreiben: Strichfassung, Regiebuch, Raumkonzept, Programmheft, Lesartenarbeit, Entwurfskizzen der eigenen Ideen, Aufführungsnotizen, Fragebogen, Interviews, Probenbesuche (vergl. 188). Entsprechend stehen in dem „Kapitel des Szenischen Schreibens … die Beurteilung und die Abfassung von Theaterrezensionen / Theaterkritiken im Mittelpunkt“ (149); „Inszenierungsvergleiche stellen das Herzstück des Werkstattkapitels dar“ (172).

Verwunderlich ist für mich unter diesen Umständen der Hinweis von Denk/Möbius auf die „eigenen vielfältigen szenischen Erfahrungen„: „Da sich die Lernenden, Zuschauenden, Agierenden und Schreibenden im Werkstattkapitel mit Werkstattfiguren, Aufführungsprotokollen, Analysen und Bewertungen von Inszenierungen, kurz mit eigenen vielfältigen szenischen (!) Erfahrungen beschäftigt haben …“ (195) – wirkliche „szenische Erfahrungen“ werden jedoch kaum genannt, schon gar nicht didaktisch reflektiert oder expliziert. Bei einem Medea-Stück von Dea Loher wird wenigstens auf einige „Sachverhalte“ hingewiesen, die „sich kreativ ausgestalten und szenisch anspielen“ lassen (169); wie, bleibt der Leserin überlassen. Bei Grillparzer könnte „die neuerliche Wandlung der Gestalt (gemeint ist Medea) durch Werkstattübungen exemplarisch durchgespielt werden“ (166); wie, wird nicht erklärt. Stattdessen ein weiterer verunglückter Satz: „Über die gemeinsame Arbeit mit einem Standbild Medea, das sich einfrieren lässt, kommt es zu Perspektivenwechseln der verschiedensten Art“ (166) – ein Standbild einfrieren? Dann gibt es den Hinweis, dass Schüler/innen und Studierende „den Fundus eines nahe liegenden Stadttheaters … oder eines Freien Theaters ‚plündern‘“ und „nach den Kostümierungsaktivitäten … ein typisches Tableau des 18. Jahrhunderts … stellen“ können (163) – wenigstens hier so etwas wie körperliches Agieren (wenn es auch äußerst unwahrscheinlich ist, dass ein Freies Theater einen besonderen Kostümfundus besitzt). Erst auf S. 208 gibt es ein „Beispiel: Szenische Umsetzung„: „… so kann eine produktionsorientierte Erarbeitung darin bestehen, ausgewählte Auszüge oder sogar ganze Stücke zu inszenieren, da sie die praktische Anwendung der erworbenen (Teil-)kompetenzen voraussetzt“ (208) – (DA sie voraussetzt?). Als Erläuterung folgt eine knappe Seite mit inhaltlichen Hinweisen und Verweisen auf Literatur, aber auch wieder der schnelle Abschied von wirklichem Agieren: „Sicherlich kann die Lehrperson sinnvoll in Teilbereichen schulen (!), also beispielsweise die Erstellung des Regiebuches, die Ausgestaltung der Kulisse oder der Kostüme üben (!) lassen …“ oder es können „Bewertungen von Inszenierungen in Form von Theaterkritiken erfolgen“ (209).

Fasst man die „praktischen“ Hinweise von Denk/Möbius zusammen, so geht es ihnen im Kern um die Arbeit des Dramaturgen/der Dramaturgie als des intellektuell-literarischen Zentrums eines Theaters. Unter dieser Prämisse wird verständlich, weshalb unter der Überschrift „Zur praktischen Arbeit“ als „Ziele“ genannt werden: „Leserinnen und Leser dieser Einführung sollen dramaturgisch denken, handeln und dramaturgische Entscheidungen treffen können“ (144). Dazu passt, dass auf S. 10 (s.o.) nur von „dramendidaktischen Konzepten“ und einer „werkstattorientierten Dramendidaktik“ geschrieben wird, nicht aber von „Theaterdidaktik„; dazu passt auch die tendenziell intellektuelle Grundhaltung dieser Didaktik: Theater soll „von den Zuschauenden wahrgenommen und genauestens (!) decodiert“ werden (18). „Der Blick der Zuschauer folgt … automatisch (!) diesen Zentren jeder Aufführung … die leisesten Regungen und Bemerkungen sprachlicher und körperlicher Art werden vom Zuschauer bemerkt, denotativ im Bewusstsein ‚vermerkt‘ und akribisch (!) weiter verfolgt“ (108) – mir scheint, dass Denk/Möbius völlig unterschätzen, wie subjektiv Zuschauer Theater beobachten und erleben. Und es bleibt festzuhalten, dass kein Kapitel zu klar zusammenfassenden Aussagen kommt, sondern im Informationsgewirr stecken bleibt.

Das betrifft auch die Didaktik, die schließlich das Zentralthema des Buches ist (oder sein soll). Hier räumen die Autoren zwar ein: „Die szenische Präsentation auf einer Bühne übt in der Regel einen größeren Reiz auf Lernbegierige aus“ (148), machen das aber nicht zum Thema, sondern halten fest: „Der didaktisch begründete Weg führt vom eher Abstrakten von Rollenkonzepten zur Konkretisierung von exemplarisch behandelten Figuren„; diese „Konkretisierung“ wird erläutert als „drei Varianten einer mythischen Figur, drei Ausprägungen einer Künstlerfigur mit drei typischen Regiekonzepten“ (148) – dieser deutliche Gegensatz zur „szenischen Präsentation“ wird jedoch nicht reflektiert und schon gar nicht selbstkritisch hinterfragt. Stattdessen „stehen in der Regiewerkstatt konkrete Inszenierungsbeispiele bedeutender Regisseure der neueren Regiegeschichte und Regiegegenwart im Mittelpunkt“ (178); als Begründung dient wiederum eine missglückte Satzkonstruktion: „Die didaktische Blickrichtung des Buches führt zu einer Konzentration auf das Regieführen in einer Theaterwerkstatt“ (178).

Nicht zuletzt ist es dieser Schreibstil mit schiefen Sätzen, falschen Anknüpfungen, unverständlichen oder informationsarmen Fügungen (sowie unkorrigierten Errata, siehe Fußnote), der für den negativen Gesamteindruck verantwortlich ist: da erzeugt Theater „neue Zeichen mit festgelegten Bedeutungen“, sie liefern aber „prinzipiell ungenaue Informationen“ (98); bei Medea sprechen die Autoren von „dem flammenverzehrenden Körpergemetzel in Korinth“ (161); bei Castorf machen „Figuren … Hechtsprünge auf einer Matratze“ (177); zur „Theatralisierung ganzer Romane“ heißt es: „Kurzfassungen solcher Mammutromane mit ihren Weltentwürfen unterliegen den notwendigen Kürzungen“ (186).

„Nicht nur Textkürzungen, auch Umstellungen der Texte und Fremd-Texteinfügungen bestimmten die Tagesordnung der täglichen Regiesitzungen bis heute“ (64); die „Dimension des Dramatischen ist unauflöslich und experimentell-kombinatorisch mit dem Theatralischen verknüpft“ (99); die „Imaginationskraft der Zuschauer ist ständig auf das angewiesen, was sie als Rezipienten nicht sehen können“ (104); das „Modell ist verständlicherweise in seiner generierenden und genetischen Anlage zum ‚Dramaturgierenner‘ bis heute anzusehen“ (121). „Weitere Grenzen, die gefallen sind, überbrücken Übergänge zur epischen Literatur, aber auch zur Musik, vor allem zur Popkultur“ (140 f) …

Dazu kommt, dass Querverweise und Verknüpfungen fehlen. Es gibt ein Glossar, aber keine Hinweise im Text, welche Begriffe das Glossar erklärt. So werden etwa Ständeklausel und Stichomythie auf S. 71 als Merkmale des geschlossenen Dramas genannt; erläutert werden sie erst auf S. 74 bzw. 77, Ständeklausel zusätzlich noch einmal im Glossar 217; nicht erklärt wird z.B. Analepsen (Rückblenden), auch nicht „episierende“ Analepsen (167). Ein Register gibt es nicht; es wäre hilfreich z.B. für Personen oder einzelne Theaterstücke, die häufiger genannt, dabei auch weiter interpretiert werden. Das Literaturverzeichnis macht das Nachschlagen schwierig, weil es in drei Rubriken recht seltsam unterteilt ist.

Fazit

Die „Dramen- und Theaterdidaktik“ von Denk/Möbius ist vom Drama (von dramatischen Texten) her konzipiert; besonders ist allenfalls, dass diese Texte immer auch als „Theater„-Texte gesehen werden (sollen). Die „didaktische“ Beschäftigung mit ihnen erfolgt jedoch fast ausschließlich kognitiv.

Dass eine Theaterdidaktik über körperliches Agieren möglich wäre, über Improvisation und Probe (besser noch: über Improvisieren, Erproben, Gestalten) bis hin zu einer Aufführung und vielleicht auch zu einem Text, bleibt außer Betracht. Wer also „Theater„-didaktik als praktisches Erproben, als Spielen und Inszenieren versteht, findet weder Informationen noch Anregungen.

Aber auch als Einführung in eine eng gefasste „Dramen … didaktik“ ist die Veröffentlichung unbrauchbar; sie enthält zu viele Unklarheiten und Ungenauigkeiten. Nur wer gut mit dem Thema vertraut ist, also auch kritisch lesen kann, mag von einigen (dramendidaktischen!) Informationen profitieren.


[1] Notieren wir en passant weitere „Druckfehler„: „Privatmedien“ (15) sollen wahrscheinlich Printmedien sein; S. 59 findet sich „ein enthusmiasiertes Publikum„; bei „Arthur Miller, Hasenjagd“ (62) ist wohl die Hexenjagd (The Crucible) gemeint; “Robinson soll nicht sterben von Friedrich Forster“ ist Jugendtheater, kein „Kindertheaterstück“ (84); auf S. 88 findet sich ein seltsamer Gebrauch von „analog„; Horst Caspar schreibt sich mit C (nicht mit K, 174) usw.

Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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Es gibt 60 Rezensionen von Hans Wolfgang Nickel.

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ISSN 2190-9245