Michaela Harmeier: "Für die Teilnehmer sind wir die VHS"
Rezensiert von Prof. Dr. Tim Stanik, 17.02.2009
Michaela Harmeier: "Für die Teilnehmer sind wir die VHS". Selbstverständnis von Kursleitenden und ihr Umgang mit Qualifizierungsmaßnahmen.
W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2009.
234 Seiten.
ISBN 978-3-7639-3682-3.
29,90 EUR.
Reihe: Weiterbildung und Biographie - Band 6.
Autor, Thema und Zielsetzung
Bei der Publikation von Michaela Harmeier handelt es sich um eine Dissertation, die im Fachbereich Bildungswissenschaften der Universität Duisburg-Essen eingereicht wurde. Der Titel der Arbeit „Für die Teilnehmer sind wir die VHS“ wirkt auf den ersten Blick verwirrend, da der Fokus der Studie nicht auf die institutionelle Einbindung von Kursleitern in die Einrichtung Volkshochschule oder die Sicht der Teilnehmer auf die Lehrenden in der Erwachsenenbildung gerichtet ist. Die Autorin verfolgt in ihrer qualitativen Interviewstudie das Ziel, die Deutungsmuster von neben- und freiberuflichen Kursleitenden einer Volkshochschule in Bezug auf ihr professionelles Handeln zu rekonstruieren. Durch den gewählten Titel – ein Interviewzitat einer Kursleiterin – wird jedoch die Relevanz der Lehrenden für die institutionelle Erwachsenenbildung und somit auch die Bedeutung der Studie pointiert hervorgehoben. Die zumeist neben- oder freiberuflichen Kursleiter in der Erwachsenenbildung verrichten nämlich den Kern der Dienstleistung (die organisierte Wissensvermittlung) und sind für die Außenwahrnehmung der Institution entscheidend. Umso erstaunlicher ist es, dass diese – zudem noch quantitativ größte – Berufsgruppe in der Erwachsenenbildung lange Zeit sowohl im Professionalisierungs- als auch im Qualitätsdiskurs vernachlässigt wurde. Harmeier schließt an dieses Desiderat an und rekonstruiert in ihrer qualitativen Interviewstudie nach eignen Angaben den „Zusammenhang zwischen Deutungsmustern, beruflichem Selbstverständnis und [dem] Deutungsprozess in der Auseinandersetzung mit einer Qualifizierungsmaßnahme“ (S. 14) von bzw. für Kursleitende. Bei dieser Fortbildungsmaßnahme handelt es sich um eine verpflichtende Qualifizierung, an der alle Kursleiter der VHS Rhein-Sieg teilnehmen müssen. Neben der Rekonstruktion des beruflichen Selbstverständnisses soll ein empirisch fundierter Beitrag geleistet werden, die förderlichen und hinderlichen Bedingungsfaktoren für die Akzeptanz von Kursleiterfortbildungen zu identifizieren.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation gliedert sich in zehn Kapitel.
Nach der Einleitung (Kapitel 1) beginnt die Studie mit der Rekonstruktion des Forschungsstandes zu den Lehrenden in der Erwachsenen-/Weiterbildung (Kapitel 2). Zunächst problematisiert die Autorin den in Volkshochschulen für Kursleitenden etablierten Begriff der nebenberuflich-pädagogischen Mitarbeiter/innen. So zeigen einschlägige Studien, dass die ursprünglich nebenberuflich konzipierte Berufsrolle der Lehrenden, zunehmend von sogenannten „neuen Selbstständigen“ ausgeführt wird. Neben- und freiberufliche Lehrende bieten zumeist unter prekären Beschäftigungsbedingungen, mit einer fragilen Einbindung in die Institution und ohne über eine formal erworbene erwachsenenpädagogische Qualifikation verfügen zu müssen, ihre Dienstleistung an. Die Gründe für diese personelle Situation führt die Autorin auf die historischen Entwicklungen der Verberuflichung resp. der Professionalisierung im Berufsfeld der Erwachsenenbildung zurück, die nämlich auf die hauptamtlich disponierenden Mitarbeiter beschränkt blieb. Im Anschluss an die Darstellung der einschlägigen Studien, die sich mit den Zugängen, Motivlagen zu der Lehrtätigkeit, den pädagogischen Selbstverständnissen und sich möglichen Qualifizierungskonzepten von Lehrenden in der Erwachsenenbildung auseinandergesetzt haben, diskutiert die Autorin die Bedeutung der Kursleiter für die Qualitätsentwicklung von Volkshochschulen. Hieran anschließend greift die Autorin den erwachsenenpädagogischen Professionalisierungsdiskurs auf. Nach einer Abgrenzung der Begriffe Profession, Professionalisierung und Professionalität legt die Autorin drei Ansätze zur Bestimmung von erwachsenenpädagogischer Professionalität dar. Insbesondere der Professionalitätsbegriff als erwachsenenpädagogische Handlungskompetenz, die weiter als biografisch gebundene Vermittlungskompetenz, Deutungskompetenz in Lernbeziehungen und Reflexionskompetenz analytisch differenziert wird, ist der Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Harmeier kommt auf der Grundlage des Forschungsstandes zu dem Zwischenfazit, dass die Basis für eine Professionalität im Feld der Erwachsenenbildung u.a. die biografisch geprägten Deutungsmuster erwachsenengerechten Lernens und Lehrens sowie die Bereitschaft zur eigenen Weiterbildung darstellen.
Nach einer knappen Skizzierung des Fortbildungskonzepts des Landesverbandes der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen, das die Grundlage für die hier untersuchte Fortbildungsmaßnahme ist (Kapitel 3), wendet sich die Autorin dem für ihre empirische Studie zentralen theoretischen Modell, das der Deutungsmuster, zu (Kapitel 4). Unter Deutungsmuster versteht Harmeier – im Wesentlichen Bezug nehmend auf Arnold – in Auseinandersetzung mit der Umwelt, biografisch erworbene, relativ zeitstabile, stereotype Sichtweisen, die Handlungskomplexität reduzieren und Handlungsfähigkeit herstellen. Gerade im Berufsfeld der Erwachsenenbildung, das über keine standardisierte Ausbildungswege und Berufseinmündungsphasen verfügt, kommen den Deutungsmustern in den prinzipiell „deutungsoffenen Lehr-Lernsituationen“ eine hohe Relevanz zu. Harmeier stellt in diesem Zusammenhang ihre zentrale These auf, „dass ein Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Auseinandersetzung mit einer Qualifizierungsmaßnahme, dem beruflichen Selbstverständnis und dem Deutungsmuster über Lehren und Lernen besteht“ (S. 109).
Im Anschluss an die theoretische Verortung des gewählten Forschungsansatzes legt Harmeier in den Kapiteln 5 und 6 ihr forschungsmethodisches Vorgehen offen. Zur Rekonstruktion des beruflichen Selbstverständnisses, der Deutungsmuster zum Lehren und Lernen und zur Auseinandersetzung mit der Fortbildung, verfolgt die Autorin vier forschungsleitende Fragestellungen, die sich auf:
- die Motivlagen zur Aufnahme der Lehrtätigkeit,
- die subjektiven, biografisch erworbenen Lehr-Lern-Vorstellungen,
- die Haltung gegenüber der Institution und
- die Einstellung zur eigenen Teilnahme an der Fortbildungsmaßnahme beziehen.
Forschungsmethodisch operationalisiert sie diese Fragestellungen in einem Interviewleitfaden, den sie mittels des problemzentrierten Interviews nach Witzel (1982) umsetzt. Die insgesamt 19 geführten Interviews mit Kursleiter/innen aus unterschiedlichen Fachbereichen der VHS Rhein-Sieg wurden im Zeitraum von 2004 bis 2006 jeweils zeitnah nach der Teilnahme an der obligatorischen Fortbildungsmaßnahme durchgeführt. Bei der Datenauswertung orientiert sich die Autorin am theoriegenerierenden Verfahren der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996).
Im 7. Kapitel stellt Harmeier die Ergebnisse ihrer Studie in Form von neun Fallbeschreibungen dar, die weiteren zehn befragten Kursleiter werden in Kurzporträts im 10. Kapitel präsentiert. Die Darstellung der rekonstruierten Kursleiterporträts folgt – in Anlehnung an ihre Fragestellungen – einem einheitlichen Muster. Neben der Darlegung der Motive zur Aufnahme der Tätigkeit, der subjektiven Lehr-Lernvorstellung, der Haltung gegenüber der Einrichtung und der Einstellung zur Qualifizierungsmaßnahme, wird jeweils abschließend der Zusammenhang vom beruflichen Selbstverständnis, dem Deutungsmuster sowie der Teilnahme an der Fortbildung diskutiert. Harmeier entwickelt so eine Typologie von drei Kursleitertypen in Bezug auf die (Nicht-)Akzeptanz der Fortbildungsmaßnahme. Zehn Interviewpartner, die „Adaptierten“, zeigen eine bestätigende Haltung gegenüber der von der Institution geforderten Fortbildung. Sechs weitere Kursleiter repräsentieren den Typus der „Skeptiker“ und drei Kursleiter den des „Spezialisten“. Während die „Skeptiker“ das Fortbildungsangebot grundsätzlich ablehnen, halten die „Spezialisten“ dieses im Sinne einer Professionalisierung und Qualitätsentwicklung der Einrichtung für wertvoll und nützlich. Jedoch hat die Maßnahme nur einen geringen Einfluss auf die Gestaltung ihrer Lehrtätigkeit. Sie wünschen sich vielmehr ein stärker fachspezifisches Fortbildungsprogramm.
Anschließend kontrastiert Harmeier die rekonstruierten Deutungsmusterder „Adaptierten“ und der „Skeptiker“, um hierdurch die lernförderlichen resp. die lernhemmenden Faktoren in Bezug auf die Fortbildungsmaßnahme herauszuarbeiten (Kapitel 8). Als lernförderlich identifiziert Harmeier Faktoren wie zum Beispiel eine gute, wertschätzende Anbindung an die Einrichtung, die Einstellung in der Erwachsenenbildung eine zukunftsfähige Perspektive zu sehen, eine hohe Selbstreflexivität und Teilnehmerorientierung. Wohingegen Faktoren wie eine schlechte Anbindung an die VHS, das primäre Selbstverständnis Fachexperten und kein Vermittlungsexperte, die Gewissheit gut qualifiziert zu sein oder die Annahme, dass Lehrkompetenz ein nicht vermittelbares Talent darstellt, als hinderliche Faktoren beschrieben werden.
Abgeschlossen wird die Studie im 9. Kapitel durch eine zusammenfassende Rückspiegelung der Ergebnisse an den Forschungsstand und mit einem Ausblick. Als zentrales Ergebnis hält die Autorin fest, „dass die Akzeptanz einer erwachsenenpädagogischen Fortbildung abhängig von dem jeweiligen Selbstverständnis und dem biografisch gefassten Deutungsmuster in Bezug auf Lehren und Lernen ist“ (S. 202). Hieraus leitet Harmeier die Empfehlung ab, dass in Kursleiterfortbildungen stärker an die biografisch erworbenen Deutungsmuster angeknüpft werden sollte bzw. müssten die Deutungsmuster reflexiv zugänglich gemacht werden. Des Weiteren empfiehlt die Autorin, einen reflexiven Austausch der Kursleitenden untereinander durch kollegiale Beratung oder Supervision institutionell zu verankern.
Diskussion
Positiv anzumerken ist zunächst, dass Harmeier sich den konkreten Professionalisierungsbemühungen in Form von Kursleiterfortbildungen empirisch zuwendet und so einen relevanten Beitrag zum Diskurs liefert. Auch die umfassende Forschungsstandrekonstruktion und die Berücksichtigung der weiter gediehenen Lehrerforschung sowie die intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung des forschungsmethodischen Vorgehens sind besonders hervorzuheben. Außerdem erleichtert die durchgängig leserfreundliche Sprache den Zugang zu den Inhalten der Studie.
Besonders gewinnbringend sind m.E. die Identifizierung und die Diskussion der lernförderlichen bzw. -hemmenden Faktoren im Bezug auf Kursleiterfortbildungen. So macht die Studie – im Sinne des Konstruktivismus – deutlich, dass auch Kursleiterlernen Anschlusslernen ist und dass erwachsenenpädagogische Leitprinzipien wie Teilnehmer- und Biografieorientierung auch für die Adressatengruppe der Lehrenden notwendig werden bzw. Berücksichtigung finden sollten. Man könnte hier entgegnen, dass es sich hierbei um keine neuen Erkenntnisse handelt, doch die Tatsache, dass diese in der untersuchten Kursleiterfortbildung anscheinend nur unzureichend angewendet werden, rechtfertigen m.E. diese Problematisierung für die Adressatengruppe KursleiterInnnen.
Kritisch anzumerken bleiben noch einige irritierende Formulierungen der Autorin wie zum Beispiel:
- „Für die Qualität der Volkshochschulen ist es daher unerlässlich zunächst die Deutungsmuster der Lehrenden zu erfassen, um diese gegebenenfalls einer Revision zu unterziehen“ (S. 85).
- „Sein Selbstverständnis als Kursleiter ist noch optimierungsbedürftig“ (S. 165).
So bleibt es m.E. fraglich, inwieweit Deutungsmuster überprüft bzw. durch dritte revidiert werden können oder ob man Selbstverständnisse überhaupt verbessern kann und sollte.
Fazit
Die Studie ist wegen ihrer zentralen Fragestellung, ihres klaren Aufbaus und den prägnanten Ergebnissen sowohl für die in der Praxis Tätigen als auch für Vertreter der Disziplin der Erwachsenen-/Weiterbildung lesenswert. Kursleiter könnten nämlich durch die Lektüre angeregt werden, ihr berufliches Selbstverständnis zu reflektieren und hauptamtliche Mitarbeiter, Fortbildungsmaßnahmen umsichtiger zu konzipieren bzw. sich nicht der Illusion hinzugeben, durch punktuelle Qualifizierungsmaßnahmen das Lehrhandeln aller Kursleitenden im Sinne ihrer Einrichtung zu beeinflussen.
Im Hinblick auf den Professionalisierungsdiskurs werden hier zudem aufschlussreiche Ergebnisse zu den subjektiven Selbstverständnissen der zentralen Berufsgruppe in der Erwachsenenbildung generiert – den neben- und freiberuflich Lehrenden.
Rezension von
Prof. Dr. Tim Stanik
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Professur für Erziehungswissenschaften mit den Schwerpunkten Erwachsenenbildung und Pädagogische Professionalität
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Es gibt 2 Rezensionen von Tim Stanik.
Zitiervorschlag
Tim Stanik. Rezension vom 17.02.2009 zu:
Michaela Harmeier: "Für die Teilnehmer sind wir die VHS". Selbstverständnis von Kursleitenden und ihr Umgang mit Qualifizierungsmaßnahmen. W. Bertelsmann Verlag GmbH & Co. KG
(Bielefeld) 2009.
ISBN 978-3-7639-3682-3.
Reihe: Weiterbildung und Biographie - Band 6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7342.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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