Holger Schramm (Hrsg.): Handbuch Musik und Medien
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Drees, 06.11.2009

Holger Schramm (Hrsg.): Handbuch Musik und Medien. UVK Verlagsgesellschaft mbH (Konstanz) 2009. 629 Seiten. ISBN 978-3-86764-079-4. D: 98,00 EUR, A: 100,80 EUR, CH: 154,00 sFr.
Thema und Überblick
Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation ist die enge Verflechtung von Geschichte der Musik und Mediengeschichte der Musik, greifbar in dem Umstand, dass Verfahren der Reproduktion und Konservierung von Musik stets auf Medien unterschiedlichster Art angewiesen waren: Denn durch die Erfindung der Notenschrift erfährt die Musik zunächst ihre Fixierung als Text, durch die Möglichkeiten der technischen Aufzeichnung beginnt im 20. Jahrhundert über Schallplatte und Radio ihre massenmediale Verbreitung. Seither spielt die Musik in allen Medien – in Film, Fernsehen, Zeitschriften, im Zeitungs-Feuilleton oder im Internet – eine große Rolle und kann dort auf eine je spezifische Entwicklungsgeschichte verweisen. Entsprechend haben audio-visuelle Medien wie Fernsehen, Film oder Musikvideo naturgemäß andere Vermittlungs- und Darstellungsformen entwickelt als Printmedien wie Zeitung, Zeitschrift oder Plakat. In insgesamt 20 Einzelbeiträgen, verfasst von namhaften Autoren aus Medien-, Kommunikations-, Musik-, Literatur- und Kulturwissenschaft und Journalistik, dokumentiert das interdisziplinäre angelegte Handbuch die Entwicklungsgeschichte der Musik in den verschiedenen Medien und greift zu diesem Zweck neben der historischen auch technische, ökonomische, ästhetische, kulturelle und gesellschaftliche Fragestellungen auf.
Herausgeber
Holger Schramm ist Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Er studierte Medienmanagement und Musik in Hannover, Detmold und Austin/USA und promovierte über das Musikhören zur Regulation von Stimmungen. Er forscht vor allem in den Bereichen Musik und Medien, Unterhaltungs- und Emotionsforschung, Sport und Medien sowie Methoden der Kommunikationsforschung und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zum Thema Musikrezeption und -wirkungen.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist dem erweiterten Medienbegriff der Medien- und Kulturwissenschaft verpflichtet, der das Medium nicht nur auf seinen Status als technisches Kommunikationsmittel reduziert (wie dies etwa im Rahmen kommunikationswissenschaftlicher Ansätze häufig geschieht), sondern – unter Bezugnahme auf verschiedene, vom technischen Entwicklungsstand abhängige Medientypen – auch die Betrachtung medialer Konstrukte einschließt. Auf diese Weise rücken Elemente wie Programmgestaltungen, Textformen, Genres, Technologien und Geräte, aber auch Institutionen und Strukturen von Produktion und Vertrieb der Medien ins Blickfeld: Sie können im Zuge der Entwicklungsgeschichte einzelner Medien miteinander in Beziehung gesetzt werden, was umso bedeutsamer ist, als die konkrete Ausgestaltung und die Ästhetik der Medieninhalte, -formen und -genres nicht unabhängig von den zur Verfügung stehenden Technologien und Geräten oder den mit ihnen verknüpften Produktions- und Vermittlungsprozessen begreifbar sind.
Der erste Teil des Bandes führt in die Anfänge der medialen Übermittlung von Musik ein und fokussiert dabei auf zwei unterschiedliche Medientypen: Zunächst befasst sich Herbert Bruhn mit der Notation als Medium für die Vermittlung und Reproduzierbarkeit von Musik, indem er einerseits die funktionalen Aspekte der Notation betrachtet, andererseits aber auch das Verhältnis zwischen Notat und erklingender Musik untersucht. Im Anschluss daran beleuchtet Albrecht Schneider die von jeglicher Notationsform unabhängige Möglichkeit der Konservierung von Musik durch „technische Schallaufzeichnungen“ und stellt in gedrängter Form die Erfindungen dar, die zum Phonographen und zum Grammophon samt den zugehörigen Tonträgern Walze bzw. Zylinder und Schallplatte geführt haben.
Im
zweiten, umfangreichsten Teil des Buches
geht es um Musik
in auditiven und audio-visuellen Medien:
Einleitend skizziert
Peter Wicke
die technische Entwicklung diverser
Tonträgerformate, die nicht nur wichtige
Konsequenzen für Klang und Produktionsvorgang hat, sondern auch
ein entscheidender Faktor für die Bindung des Mediums an
bestimmte Ziel- und Nutzergruppen ist, dem die
Tonträgerindustrie mittels
entsprechend angepasster
Marketing-Strategien Rechnung trägt.
Wie eng technische Entwicklung, künstlerische
Ausdrucksformen und mediale Präsentation
miteinander verschränkt sind, wird vor allem
beim Blick auf den Rundfunk deutlich: Holger
Schramm bietet in diesem Sinn einen
Überblick über die Entwicklung der Musik im Radio von den
Anfängen über die Funktion als
Massenmedium und Instrument der Propaganda bis hin zu heutigen
Service-Programmen, Musikformaten und
Internet-Angeboten. Hans-Jürgen
Krug widmet sich daran anknüpfend
speziell der Musik im Hörspiel und beleuchtet sowohl ihre mit
Rundfunk und Sendeformaten verbundene Entwicklung als auch die
unterschiedlichen Typen vom literarischen Hörspiel mit
Musikverwendung bis hin zu primär von Musik und Klang
bestimmten Formen akustischer Kunst.
Saskia
Jaszoltowski und Albrecht
Riethmüller wiederum geben
eine knappe, historisch orientierte Einführung in
Problemstellungen und ästhetische
Fragestellungen, die mit dem komplexen Thema „Musik im Film“
verknüpft sind. Analog zu den
Entwicklungen im Rundfunk befasst sich Irving
Wolther mit den Musikformaten im
Fernsehen und fragt dabei auch – die Entwicklung von den
Fünfzigerjahren bis zu den Castingshows und Nostalgie-Sendungen
der Gegenwart betrachtend – nach
ihrer Bedeutung als Sozialisationsfaktor. Einen
Spezialfall hierzu, nämlich die historische wie systematische
Betrachtung des Phänomens Musikfernsehen unter Berücksichtigung
der medialen Gattung Videoclip bzw. Musikvideo, steht im
Zentrum des Texts von Axel Schmidt,
Klaus Neumann-Braun
und Ulla P. Autenrieth.
Golo Föllmer
hingegen fokussiert auf das Thema „Musik im Internet“ und
gibt einen Überblick über damit verbundene
Distributionsformen von Musik sowie über
Gestaltungsarten und Handlungsweisen, die durch musikalisches Agieren
via Internet im gegenseitigen Miteinander der Nutzer erzeugt werden
können. Den Abschluss des
zweiten Teils bildet André
Ruschkowskis Beitrag über
Computermusik, der die Anwendung des Computers in den Bereichen
Komposition, Klangerzeugung, Klangsteuerung und Klangspeicherung
erläutert.
Die Beiträge des dritten Teils befassen sich mit Musik in nicht-auditiven Medien: Gunter Reus stellt, ausgehend von den Anfängen im 19. Jahrhundert, Geschichte und Bedeutung des Musikjournalismus in der Zeitung dar. Till Krause und Stefan Weinacht befassen sich demgegenüber mit der Mediengattung Musikzeitschrift und beschreiben die Entwicklung von Printpublikationen mit Musikschwerpunkt in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis zur Popzeitschrift der Gegenwart. Julia Cloot widmet sich den dichterischen Bezugnahmen auf Musik und wendet sich – aufbauend auf einem knappen historischen Überblick – vor allem der Literatur des 20. Jahrhunderts zu. Im Mittelpunkt stehen dabei die Fragen, welche Bedeutung der „Musik“ in den jeweiligen Texten zukommt, welche Strukturmerkmale einen Text in die Nähe „musikalischer“ Verfahrensweisen rücken oder auf welche Weise der Klang von Sprache gar an die Stelle einer semantischen Entschlüsselbarkeit treten kann. Roland Seim untersucht schließlich Plattencover und Konzertplakate, deren spezifische Ästhetik auf dem Zusammentreffen genau umschriebener Funktionen als Verpackung oder Werbeträger und den Bedingungen des jeweiligen Zeitgeschmacks resultiert. Unterstützt durch zahlreiche Abbildungen zeigt er, inwiefern die Gestaltung entsprechender Objekte authentische Rückschlüsse auf die Entwicklung der Popkultur erlaubt.
Den Mittelpunkt des vierten Teils bildet der Themenkreis Komposition und Produktion von Musik unter dem Einfluss von Medien: Der Blick von Julia Franzreb und Anno Mungen auf das Musiktheater rückt den generell intermedialen Charakter dieser Kunstform in den Mittelpunkt, setzt sich aber auch mit der Verwendung unterschiedlicher Medientpyen auf der Bühne sowie mit den medialen Verbreitungsstrategien von Musiktheater via Bild/Ton-Aufzeichnung auseinander. Helga de la Motte-Haber geht in dem Beitrag „Neue Musik als mediale Kunst“ anhand ausgewählter Beispiele dem Zusammenhang zwischen der Einbeziehung technischer Medien und der Veränderung von Klangvorstellungen und musikalischen Formprinzipien seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. Die historisch sich wandelnden Wechselwirkungen zwischen Komposition und Produktion so genannter „U-Musik“ unter dem Einfluss technischer Medien erläutert Albrecht Schneider. Marion Saxer beschließt den Teil mit einem Blick auf die Medienkonstellationen zeitgenössischer Musik- und Klangkunstformen, indem sie deren Tendenz zur Überschreitung künstlerischer und musikalischer Gattungsgrenzen sowie zur Erweiterung der Darbietungsformen nachzeichnet.
Ergänzende Perspektiven stellt der fünfte und abschließende Teil des Bandes in Aussicht. Eingelöst wird dies einerseits durch einen Beitrag von Peter Imort, der interkulturelle Unterschiede in der Entwicklung und Bedeutung von Musikmedien thematisiert und dadurch zahlreiche weitere Fragestellungen anschneidet, die mit einer Kulturen übergreifenden Verwendung von Musikmedien verbunden sind. Ausgehend von den zentralen Begriffen „Medienkonvergenz“ und „Intermedialität“ machen andererseits Thomas Münch und Martin Schuegraf darauf aufmerksam, inwiefern Medien in komplexen technischen, ökonomischen/organisatorischen, inhaltlichen und nutzungsorientierten Beziehungen zueinander stehen.
Diskussion
Das Handbuch überzeugt vor allem durch seine Darstellungsform, die den Einführungs- und Nachschlagecharakter der Publikation unterstreicht. Der Band deckt die wichtigsten Phänomene ab, macht auf zentrale Problemstellungen der Forschung aufmerksam und thematisiert die Wechselbeziehung zwischen Musik und Medien auch dort, wo er vorderhand weniger auffällig ist, indem er neben der historischen – in unterschiedlicher Gewichtung – auch technische, ökonomische, ästhetische, kulturelle und gesellschaftliche Perspektiven hervortreten lässt. Die Qualität der Texte ist auf sehr hohem Niveau angesiedelt, die Autoren zeigen sich generell daran interessiert, den aktuellen Stand der Forschungen zu präsentieren. Dass dies gelegentlich nur in stark verkürzter Form und mit Blick auf eine eher geringe Anzahl ausgewählter Beispiele passieren kann, ist vor allem in jenen Aufätzen sichtbar, die sich mit mittlerweile gut erforschten Phänomenen befassen.
Insbesondere gilt dies für die Beiträge über „Musik im Film“, „Musik in der Literatur des 20. Jahrhunderts“ und „Musik und Computer“, die im Grunde nur Ausschnitte aus umfassenden Forschungsgebieten präsentieren. Es ist jedoch auch dort zu bemerken, wo die Diskussion bestimmter Entwicklungen teilweise oder vollständig ausgeklammert wird, so im Beitrag über das Musiktheater, der sich bedauerlicher Weise nicht mit medial verankerten Gattungsbeispielen wie der Video-Oper befasst und auch nicht dem Umstand Rechnung trägt, dass Komponisten visuelle Medien inzwischen wie instrumentale Bestandteile in die Partituren integrieren und damit zu einer feststehenden Größe ihrer Arbeit machen. In den meisten Fällen lassen sich entsprechende Lücken jedoch anhand der ausführlichen Bibliografien oder auch durch Querverweise auf Internetquellen abdecken. Auffällig ist allerdings das vollständige Fehlen von Reflexionen über die Funktionalisierung von Musik im Zuge von Produktdesign und Schaffung so genannter „Produktidentitäten“ im Bereich der Konsumgüterindustrie. Selbst wenn man damit argumentierte, dass hierbei nur noch bedingt von jenem Kunstwerkcharakter gesprochen werden kann, der für die Gesamtheit der im Handbuch besprochenen Phänomene konstitutiv zu sein scheint, bleibt der Verzicht auf einen Text zur Musik im Computerspiel ein empfindliches und schwer verständliches Versäumnis. Denn gerade er hätte sich als wichtiger Beleg für den engen Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und künstlerischen Gestaltungsspielräumen erweisen können.
Als besonders positiver Aspekt ist der übersichtliche, gut durchdachte Aufbau sämtlicher Texte hervorzuheben: Den Anfang bildet jeweils eine mit grauem Hintergrund unterlegte und daher typografisch sofort identifizierbare Zusammenfassung, die mit den Kernthesen der nachfolgenden Ausführungen vertraut macht. Darüber hinaus erlaubt die Einfügung zahlreicher präzise formulierter Zwischenüberschriften zu den einzelnen Unterabschnitten dem Leser auch dann eine rasche Orientierung innerhalb der Beiträge, wenn er nach ganz bestimmten Informationen sucht. Zwei Register – das erste mit Namen von Personen, Institutionen, Firmen und Bands, das zweite als Sachregister ausgewiesen – unterstützten den daraus hervorgehenden Nachschlagecharakter zusätzlich.
Fazit
Die interdisziplinäre Ausrichtung des Handbuchs, aber auch der Anspruch, möglichst vollständig die aktuellen Perspektiven im Verhältnis zwischen Musik und Medien – und zwar bezogen auf die unterschiedlichsten Bereiche – in Kurzform darzustellen, machen das „Handbuch Musik und Medien“ zu einem wertvollen Nachschlagewerk. Als solches vermag es Lehrenden und Studierenden diverser Disziplinen einen ansprechenden Überblick über die Mediengeschichte der Musik zu verschaffen und kann zum fundierten Einstieg in bestimmte Themenbereiche und Fragestellungen dienen. Dass im Detail gewisse inhaltliche Leerstellen nicht ausgeschlossen werden können, liegt in der Natur der Sache, lässt sich aber zumeist durch den Griff zu weiterführenden Publikationen kompensieren.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Drees
Mailformular
Es gibt 14 Rezensionen von Stefan Drees.