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Olaf Jürgens, Wolfgang Voges et al. (Hrsg.): Armut trotz Erwerbsfähigkeit

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Buestrich, 26.02.2009

Cover Olaf Jürgens, Wolfgang Voges et al. (Hrsg.): Armut trotz Erwerbsfähigkeit ISBN 978-3-87512-182-7

Olaf Jürgens, Wolfgang Voges, Ilona Ostner (Hrsg.): Armut trotz Erwerbsfähigkeit. Sozialhilfebezug von Erwerbsfähigen in europäischen Städten. Maro Verlag (Augsburg) 2008. 192 Seiten. ISBN 978-3-87512-182-7. D: 22,00 EUR, A: 23,00 EUR, CH: 38,60 sFr.
Reihe: Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung - 12.

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Autor

Dipl.-Soziologe Olaf Jürgens war als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen und dann am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung beschäftigt. Er arbeitet seit 2007 am Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin.

Intention

Jürgens will Sozialhilfeverläufe erwerbsfähige Personen aus einer international vergleichenden Perspektive heraus analysieren: „Dabei steht Sozialhilfebezug als so genannte bekämpft Armut und somit auch die Wirksamkeit wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen vor dem Hintergrund nationaler und regionaler Wohlfahrtsstaatsregimes im Mittelpunkt des Interesses.“ (S. 4, Herv. i. O.). Grundlage der Analyse sind dabei drei Stichproben, die komparative Mikrodaten über die Sozialhilfeverläufe in einer deutschen, einer italienischen und einer schwedischen Stadt in den 1990er Jahren beinhalten: „Es ist daher nicht vorrangiges Ziel der Analyse, Bezug auf die Neuregelungen der deutschen Sozialpolitik zu nehmen, sondern vielmehr einen Hintergrund zu bieten, vor dem solche Neuregelungen interpretiert werden können.“ (ebd.). Die Unterschiede zwischen den betrachteten Ländern hinsichtlich ihrer wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen bilden dabei den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen geprüft werden soll, ob sich unterschiedliche Muster des Sozialhilfebezugs bei erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehern identifizieren lassen? Neben den grundlegenden Gemeinsamkeiten sollen zudem Differenzen in den institutionellen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen identifiziert werden, die nach Ansicht des Autors neben der Heterogenität der Population als Hauptursache für die unterschiedliche Bezugsdauer von Leistungen seitens der Sozialhilfeempfänger gelten können.

Aufbau

Dem eigentlichen Text ist ein Vorwort von Professor Wolfgang Voges (Universität Bremen) vorangestellt, in dem dieser sich mit der „Sozialhilfedynamik als Gegenstand international vergleichender Sozialpolitikforschung“ beschäftigt und ihre Notwendigkeit insbesondere aus den wachsenden Abhängigkeiten der Mitgliedstaaten voneinander gerade auch im Bereich sozialpolitischer Regulierung begründet.

Die Arbeit von Jürgens selbst umfasst neben der Einleitung und dem abschließenden Fazit sechs Kapitel:

  1. Die „Würdigkeit von Armut“
  2. Armut und Armutsmessung
  3. Europäische Wohlfahrtsstaaten (Deutschland, Italien und Schweden sowie lokale Wohlfahrtsregimes in Bremen, Mailand, und Helsingborg) sowie Typologien von Wohlfahrtsstaaten
  4. Den methodischen Rahmen (Methoden des internationalen Vergleichs)
  5. Empirische Ergebnisse sowie
  6. Wohlfahrtsstaat und lokaler Kontext

Inhalt

Im kurzen Kapitel, das sich mit der „Würdigkeit von Armut“ beschäftigt, schildert Jürgens die historische Entwicklung des Armutsbegriffs (in Europa) seit dem 12. Jahrhundert von der kirchlichen Armenfürsorge über die Almosengesetze und die englische Armengesetzgebung des 16. Jahrhunderts bis hin zur neuzeitlichen Missbrauchsdiskussion sowie dem Erwerbsfähigkeitsdiskurs im SGB II (Hartz IV) und damit dem Bedürfnis, Hilfebedürftige in „würdig“ und „unwürdig“ zu kategorisieren, um ihnen auf dieser Grundlage Bedingungen für den Hilfebezug zu diktieren – bis dahin, ihnen die Hilfe gänzlich zu verweigern.

Das folgende Kapitel „Armut und Armutsmessung“ beschäftigt sich mit verschiedenen soziologischen Armutsdefinitionen (z. B. im Ressourcenansatz und im Lebenslagenansatz) sowie sozialpolitisch definierten Armutsgrenzen, die sich aus politisch und rechtlich gesetzten Interventionsschwellen ableiten. Ergänzend geht Jürgens kurz auf die erweiterte (individuelle und soziale) Armutskonzeption Georg Simmels ein.

Im Kapitel „Europäische Wohlfahrtsstaaten“ wird in international vergleichender Perspektive die jeweilige nationalstaatliche Effektivität sozialpolitischer Strategien vor dem Hintergrund spezifischer ökonomischer und demographischer Bedingungen in den oben aufgeführten Ländern untersucht. Jürgens stellt zu diesem Zweck zuerst die nationalen und in einem weiteren Schritt die regionalen sozialpolitischen Arrangements zur Armutsbekämpfung dar. Der Schwerpunkt liegt hier auf der Entwicklung und Ausgestaltung der jeweiligen Sozialhilferegelungen, die im Unterkapitel 4.5 schließlich systematisch in die von Esping-Andersen („The Three Worlds of Welfare Capitalism“ (1990)) entwickelte Typologie von Wohlfahrtsstaaten eingeordnet werden.

Interessant ist nun die Beantwortung der Frage, „[…] welche Auswirkungen unterschiedliche Sozialhilfesysteme auf die Dauer von Sozialhilfeverläufe“ (S. 61) haben? In Helsingborg mit seinem „hochgradig universalistischen Sozialhilfesystem mit den vergleichsweise generösesten Leistungen“ (die Leistungen werden durch eine Vielzahl weiterer Beihilfen ergänzt; die Leistungsdauer ist prinzipiell unbefristet und orientiert sich an der Dauer der Bedürftigkeit), wären dementsprechend die längsten Bezugsdauer zu erwarten. Liegt dagegen eine primär budgetfinanzierte Sozialstaatlichkeit wie in Mailand vor, so seien im Unterschied dazu eher relativ kurze Bezugszeiten der Sozialhilfeempfänger wahrscheinlich, da „[…] ein knappes, fixes Budget keine Generosität bei der Gewährung wohlfahrtsstaatlicher Leistungen [erlaubt].“ (S. 62).

Bevor diese Fragen im Kapitel „Empirische Ergebnisse“ beantwortet werden, stellt Jürgens im Kapitel „Methodischer Rahmen“ die Analyseinstrumente der international vergleichenden Wohlfahrts- und Armutsforschung vor. Außerdem liefert er Erläuterungen zu der seiner Untersuchung zu Grunde liegenden Datenbasis.

Die im Kapitel „Empirischen Ergebnisse“ vorgelegten Resultate verdeutlichen, dass die großen Unterschiede in den ausgewählten europäischen Städten weitaus stärker auf unterschiedliche Ziele und Vorgaben der Sozialhilfeprogramme zurückzuführen sind, als auf individuelle Merkmale oder Problemlagen der Bedürftigen: „Die unterschiedlichen Definitionen von Anspruchsberechtigung auf Sozialhilfe in den jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements, die als Folge unterschiedlicher historischer, politischer und pragmatischer Deutungen von Ungleichheit und Armut und schließlich auch als Folge jeweils spezifischer politischer Kräfteverhältnisse interpretiert werden können, haben einen Einfluss sowohl auf die Zusammensetzung der Hilfebezieher als auch auf die durchschnittliche Dauer des Hilfebezugs.“ (S. 133).

Ein nicht unwichtiges Ergebnis vor dem Hintergrund der Kernthese sozialstaatlicher und arbeitsmarktpolitischer Aktivierungsprogramme, die die Erfolgsträchtigkeit bzw. den tatsächlichen Erfolg ihrer Maßnahmen theoretisch wie praktisch schließlich primär aus der individuellen „Bereitschaft“ und damit der persönlichen „Willigkeit“ der Betroffenen ableiten wollen und sich folgerichtig primär Gedanken über deren „Aktivierung“ bzw. – im Falle unterstellter oder tatsächlich mangelnder Mitwirkung – über ihre Sanktionierung machen.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch die Aussage der Studie, dass „[…] die Erwartung, in einem generösen Leistungssystem wie dem Helsingborgs müssten auch die längsten Bezugsdauer im Sinne der welfarization-These [1] zu beobachten sein […] nicht bestätigt wird.“ (S. 114). Dass die kürzesten Bezugsdauer im budgetfinanzierten Mailand beobachtet werden konnten, wo die Austrittsneigung aus dem Sozialhilfebezug gegenüber Helsingborg um 61,7% erhöht war, erzeugt zusammen mit den restriktiven Anspruchsvoraussetzungen hier ein Bild geringerer Sozialhilfeabhängigkeit: „Dies ist jedoch in erster Linie ein Effekt des restriktiven Systems existenzieller Mindestsicherung und ist keinesfalls mit der Beendigung der zu Grunde liegenden Bedürftigkeit gleichzusetzen.“ (S. 114).

Insgesamt sei es angesichts der hohen Heterogenität und Komplexität der jeweils lokalen Arrangements schwierig, das vergleichsweise effektivste System zu identifizieren: „Offensichtlich muss jedoch eine restriktive Gewährungspraxis wie in Mailand mit administrativen verkürzten Bezugsdauer nicht unbedingt der richtige Weg sein, Bedürftige wieder zu einem Leben in finanzieller Unabhängigkeit zu verhelfen; vielmehr führt dieser Weg zu verstärkter Stigmatisierung und Demoralisierung und verweist in die Bedürftigen zunehmend auf eher informelle ökonomischer Aktivitäten, beispielsweise in der Schattenwirtschaft.“ (S. 137). Außerdem ließen sich auch keine Hinweise ausmachen, „[…] dass Sozialhilfebezug in einer der betrachteten Städte Abhängigkeiten im Sinne der welfarization-These bewirkt, auch bei erwerbsfähigen Empfängern nicht. […] Vor diesem Hintergrund kann man auch keinen Sozialhilfemissbrauch durch erwerbsfähige Hilfeempfänger, wie er in den neunziger Jahren in konservativen Debatten oft befürchtet wurde, konstatieren.“ (S. 138 f.).

Fazit

Mit der Studie von Jürgens liegt eine lesenswerte, empirisch fundierte Analyse der vergleichenden Wohlfahrtsforschung vor, die in ihren Ergebnissen gängigen sozialpolitischen (Vor-)Urteilen über das angebliche persönliche Fehlverhalten von Sozialhilfebeziehenden als Grund ihres Hilfebezugs widerspricht. Sie liefert damit gute Argumente dafür, die Diskussion um die „Reform der sozialen Sicherungssysteme“ wieder vermehrt auf deren strukturelle, fiskalische und kommunalpolitische Voraussetzungen zu fokussieren, anstatt ausschließlich die jeweils Betroffenen zu den Verursachern sozialstaatlicher Problemlagen zu machen.


[1] Welfarization bezeichnet im angelsächsischen Raum ein Phänomen, das in Deutschland unter dem Stichwort „Soziale Hängematte“ abgehandelt wird: Hilfebedürftigen Personen wird unterstellt, sich im sozialen Netz „einzurichten“, insbesondere soll eine Abhängigkeit von der Sozialhilfe in dem Sinne bestehen bzw. gefördert werden, dass Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit von dieser Klientel bewusst nicht wahrgenommen werden.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Buestrich
Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum
Website

Es gibt 35 Rezensionen von Michael Buestrich.

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Zitiervorschlag
Michael Buestrich. Rezension vom 26.02.2009 zu: Olaf Jürgens, Wolfgang Voges, Ilona Ostner (Hrsg.): Armut trotz Erwerbsfähigkeit. Sozialhilfebezug von Erwerbsfähigen in europäischen Städten. Maro Verlag (Augsburg) 2008. ISBN 978-3-87512-182-7. Reihe: Beiträge zur Sozialpolitik-Forschung - 12. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/7360.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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