Roland Becker-Lenz, Silke Müller: Der professionelle Habitus in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Sigrid Schilling, 04.02.2010

Roland Becker-Lenz, Silke Müller: Der professionelle Habitus in der Sozialen Arbeit. Grundlagen eines Professionsideals.
Peter Lang Verlag
(Bern · Bruxelles · Frankfurt am Main · New York · Oxford) 2009.
419 Seiten.
ISBN 978-3-03-911759-8.
D: 46,20 EUR,
A: 47,50 EUR,
CH: 67,00 sFr.
Reihe: Profession und Fallverstehen - 1.
Thema, Autorin/Autor und Entstehungshintergrund
Die seit Jahren geführte intensive Debatte um Professionalität in der Sozialen Arbeit konnte bislang wenig benennen, welches Handeln als professionell angesehen werden kann. Die vorliegende Studie zu Handlungsproblemen und Habitusbildungsprozessen bei Studierenden der Sozialen Arbeit geht den Fragen nach, welche Kompetenzen Professionelle der Sozialen Arbeit haben müssen, auf welche Handlungsprobleme sich diese Kompetenzen beziehen und wie die Aufgaben der Ausbildung darin aussehen müssen. Auf dieser Grundlage wird ein Professionsideal der Sozialen Arbeit entwickelt.
Roland Becker-Lenz ist als Professor mit den Schwerpunkten Bildungs- und Professionsforschung sowie Sozialisationsforschung und Silke Müller als Diplomsoziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Schwerpunkten Professionsforschung, sozialer Wandel und Religionssoziologie an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz tätig.
Von den Autoren wurde eine viereinhalbjährige empirische Untersuchung zu Handlungsproblemen und Habitusbildungsprozessen bei Studierenden der Sozialarbeit/Sozialpädagogik an einer Schweizer Fachhochschule mit einem dualen Ausbildungsmodell (studienbegleitende Praxisausbildung) durchgeführt. Ulrich Oevermann unterstützte die Studie mit Ratschlägen. Finanziert wurde die Untersuchung durch die Fachhochschule Nordwestschweiz und publiziert mit Hilfe des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung.
Aufbau und Inhalt
Im ersten Kapitel stellen Roland Becker-Lenz und Silke Müller die Ziele ihrer Untersuchung sowie die Forschungsfragen vor: Besteht Unklarheit darüber, was professionelles Handeln ist? Was sind die typischen Handlungsprobleme der Praxis die Novizinnen und Novizen haben und welche Probleme liegen dabei auf der Ebene des Habitus? Die Untersuchung will Problemlösungen für die Handlungsprobleme rekonstruieren und aufzeigen, wie Habitusbildungsprozesse verlaufen um anschliessend daraus Vorschläge zu entwickeln wie die Habitusbildung unterstützt werden kann.
Im zweiten Kapitel legen die Autoren den Habitusbegriff von Pierre Bourdieu (1974) und Ulrich Oevermann (2001) dar. Sie beziehen sich in ihrer Studie auf den Habitusbegriff von Ulrich Oevermann. Die Autoren reflektieren im Anschluss daran die Notwendigkeit eines professionellen Habitus in der Sozialen Arbeit und beziehen sich darauf, dass der Habitus als „Gesamtheit einer verinnerlichten Struktur gelten kann, die auf der Ebene des Unterbewussten zentrale Persönlichkeitsmerkmale enthält und, als generative Grammatik, Wahrnehmen, Denken und Handeln bestimmt“ (22). Der professionelle Habitus ist demnach Bestandteil des Gesamthabitus. Die Autoren erachten es als zentral, dass für die Bildung des professionellen Habitus im Rahmen der Ausbildung die Bewusstmachung von Haltungen, die Veränderungen bestehender eigener Haltungen und die Verinnerlichung einer professionellen Grundhaltung als wichtig. Dabei sind für sie ein „spezifischer Berufsethos“ (23), die „Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses“ (24) und die „Fähigkeit zum Fallverstehen“ (26) grundlegend.
Im
dritten
und vierten Kapitel
werden von den Autoren Beiträge der berufsspezifischen
Habitusbildung im Studium sowie Konzepte und Modelle professionellen
Handelns vorgestellt und diskutiert. Danach wird die Habitusbildung
von den meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der
Hochschulausbildung als zentral angesehen (u.a. Vosgerau
2005; Schweppe
2001; Thole
et al. 2005). Was professionelles Handeln ist, so die Autoren, bleibt
hier jedoch offen. Konzepte und Modelle professionellen Handelns
sollen anschliessend klären, was unter Professionalität
verstanden wird. Dazu werden Oevermanns strukturtheoretische
Professionstheorie (1996), Fritz
Schützes
interaktionistisches Professionsmodell (1992), Maya
Heiners
Entwurf beruflichen Handelns auf empirischer Basis (2004) und Ulrike
Nagels
Professionalität als engagierte Rollendistanz (1997)
hinzugezogen, ebenso wird der Diskurs in der Sozialen Arbeit dazu in
Beziehung gesetzt.
Die
Autoren arbeiten hier Übereinstimmungen und Differenzen heraus
und stellen fest, dass es Gemeinsamkeiten in der Aufgabe der
Autonomieförderung, dem hermeneutischen Fallverstehen und der
Bedeutung von Paradoxien gibt. Mehrheitlich bestehen jedoch
Differenzen, so dass nicht von einem
Modell sozialarbeiterischer und sozialpädagogischer
Professionalität gesprochen werden kann. Dies gilt für die
Disziplin wie auch für die Berufspraxis und sie leiten daraus
ab, dass dies für die Hochschule eine besondere Herausforderung
darstellt, da „kein bestimmtes Modell von Professionalität“
(72) vorliegt.
Im
fünften
und sechsten Kapitel stellen
die Autoren das methodische Vorgehen ihrer Studie vor. Es handelt
sich um eine Längsschnittuntersuchung von Handlungsproblemen bei
Studierenden der Sozialen Arbeit, ergänzt durch eine
querschnittliche Untersuchung die allgemeine Handlungsprobleme von
Studierenden mit einbezogen hat. Untersucht wurde eine Gruppe von
neun Studierenden, die Fallauswahl folgte dem Kriterium des maximalen
Kontrasts. Die Datenanalyse wurde mittels der objektiven Hermeneutik
durchgeführt.
Im
Kapitel 6 stellen die Autoren ihre Analyseergebnisse vor. Probleme
die in der Handlungspraxis immer wieder sichtbar wurden, traten in
den Bereichen der Klärung von Auftrag und Zuständigkeit,
der Deutung der Fallproblematik unter Einbezug von theoretischem und
empirischem Wissen, der Kompetenz zur Interpretation von Äusserungen
der Klienten, geringe Kenntnisse in diffusen und spezifischen
Sozialbezügen kompetent zu handeln, der Einschränkung von
Selbstbestimmung und Methoden adäquat einzusetzen, auf. Die
Autoren kommen deshalb zu der Feststellung, dass es im Studium nicht
entwickelt wurde, den Aufbau von habituellen Kompetenzen zu
ermöglichen. In der Ausbildung wurde demnach wenig auf
Komponenten des professionellen Habitus geachtet und ebenso wenig auf
eine angemessene Berufsethik. Die Autoren sehen insgesamt „eine
geringe Bildungswirkung des Studiums auf dieser Ebene“ (331),
deren Ursachen jedoch auch in der Praxisausbildung liegen.
Diese Erkenntnisse führen die Autoren dazu, sich im siebten Kapitel der Analyse des Berufskodex zuzuwenden. Zum Schutz der Klienten und der Verpflichtung der Professionellen die körperliche und seelische Integrität der Klienten zu wahren, müsste die Praxis einem Berufsethos und einer Berufsethik folgen. Die Autoren stellen fest, dass der Berufskodex des Schweizerischen Berufsverbandes den Auftrag und die Ziele der Sozialen Arbeit nicht explizit erwähnt, ebenso enthält der Kodex keine verbindliche Grundhaltung, so dass die Autoren zu der Aussage gelangen, „dass es dem Berufsstand an Autonomie und fachlicher Sicherheit mangelt“ (356).
Im achten Kapitel zum Professionsideal leiten Roland Becker-Lenz und Silke Müller aus den Untersuchungsergebnissen ab, dass es keinen verbindlichen, gültigen und angemessenen Bezugsrahmen für das professionelle Handeln in der Sozialen Arbeit gibt. Sie machen einen Vorschlag für einen Bezugsrahmen, der eine Grundlegung eines Professionsideals darstellt. Eine solche Grundhaltung sehen die Autoren in den Punkten der Entwicklung bzw. Wiederherstellung von Autonomie und/oder Integrität, die eigeninteressierte Mitwirkung des im Zentrum stehenden Menschen. Die Soziale Arbeit ist somit den Interessen der Gemeinschaft und zugleich den des konkreten Gegenübers verpflichtet.
Das neunte Kapitel beinhaltet die Empfehlungen der Autoren für die Gestaltung der Ausbildung. Roland Becker-Lenz und Silke Müller sehen die Aufgabe der Hochschulen darin, einen professionellen Habitus zu ermöglichen. Bereits vor dem Studium bilden sich Haltungen die im Studium bewusst gemacht werden, die teilweise korrigiert und neue habituelle Komponenten (Versuch und Irrtum) erarbeitet werden müssen. Sie plädieren für ein einheitliches Professionskonzept, da unterschiedliche Professionskonzepte auf der Habitusebene schwierig sind für die Orientierung der Studierenden. Auch wenn die Fähigkeit zum Fallverstehen bei den Studierenden und auch in der Praxis anzutreffen ist, stellt sich für sie die Frage, wie der Habitus gebildet werden muss. Ein solcher Habitus existiert ihrer Meinung nach noch wenig bei Lehrenden und bei den Fachkräften der Sozialen Arbeit. Die Autoren plädieren in Bezug auf die Bildungsprozesse an der Hochschule u.a. dafür, dass Aufnahmeprüfungen durchgeführt und Inhalte wie Methodik des Fallverstehens, die Gestaltung von Arbeitsbündnissen, kontinuierlich laufende Fallwerkstätten angeboten werden. Da sich die Habitusbildung primär in der Praxis vollzieht, kommt der Zusammenarbeit zwischen Praxisausbildung und Hochschule eine besondere Bedeutung zu. Die Praxis sollte die Grundprobleme des Berufs und bewährte Standpunkte und Handlungsmodelle anbieten, die Hochschule hingegen den Bildungsprozess überprüfen.
Fazit
Den Autoren ist es sehr gut gelungen, empirisch gestützt die Notwendigkeit eines professionellen Habitus in der Sozialen Arbeit aufzuzeigen und daraus Aufgaben abzuleiten, die sich für die Hochschule stellen. Die Verbindung von Konzepten und Modellen professionellen Handelns, diskutiert mit Stellungnahmen zu Fragen des beruflichen Handelns (Doppeltes Mandat, Dienstleistung) und den Strittigkeiten des Fachdiskurses (Verhältnis von Theorie und Praxis), liegt in der Form bisher nicht vor und ist deshalb ein weiterer positiver Beitrag der Autoren.
Gerade vor dem Hintergrund veränderter ökonomischer Bedingungen und daraus resultierender Anforderungen an die Soziale Arbeit ist die Entwicklung eines Habitus unabdingbar und bietet die Ausgangslage dafür, Autonomie und Integrität von Klienten zu unterstützen und dies gegenüber anderen Professionen zu vertreten. Die Frage die sich wohl eher stellt ist, ob durch veränderte Rahmenbedingungen im Studium der Sozialen Arbeit Grundlagen für die Bildung des professionellen Habitus ausreichend vermittelt werden können und ob die Kooperation zwischen Hochschule und Praxisausbildungsorganisationen weiterentwickelt wird.
Das Buch von Roland Becker-Lenz und Silke Müller gibt Fachpersonen aus Forschung und Praxis der Sozialen Arbeit, wenn sie am Thema Zusammenarbeit von Hochschule und Praxis interessiert sind, wertvolle Anregungen. Studierende die einen vertieften Einblick in das professionelle Handeln der Sozialen Arbeit erhalten möchten, kann das Buch ebenfalls empfohlen werden.
Rezension von
Prof. Sigrid Schilling
Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Soziale Arbeit, Studienzentrum HSA FHNW
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