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Ulrich Deinet, Richard Krisch: Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Reutlinger, 18.02.2003

Cover Ulrich Deinet, Richard Krisch: Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit ISBN 978-3-8100-3502-8

Ulrich Deinet, Richard Krisch: Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit. Methoden und Bausteine zur Konzeptentwicklung und Qualifizierung. Leske + Budrich (Leverkusen) 2002. 221 Seiten. ISBN 978-3-8100-3502-8. 16,90 EUR.

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Hintergrund und Thema des Buches

"Der sozialräumliche Blick der Jugendarbeit" beschreibt Bausteine und Methoden, mit denen Konzepte der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt und qualifiziert werden können. Der Betrachterstandpunkt, von wo aus mit einem sozialräumlichem Blick auf die Kinder- und Jugendarbeit geschaut wird, entstand auf der Basis langjähriger Praxiserfahrung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der sozialräumliche Ansatz von Ulrich Deinet wurde in der Praxis erprobt und verändert und erreicht im vorliegenden Band seine Reifephase.

Mit Richard Krisch hat Ulrich Deinet einen wichtigen Partner gefunden, der seinen Ansatz stärkt - Krischs Erfahrungshorizont fußt in einem ähnlichem Feld, der Praxis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Methodisch versiert gelingt es, die praktische Umsetzung 'sozialraumorientierter Konzeptentwicklung' zu verfeinern. Der "sozialräumliche Blick" wird mit Krischs praktischen und theoretischen Beiträgen aus dem österreichischen Kontext zu einem deutschsprachigen Ansatz, der über die Landesgrenzen von Deutschland eine Bedeutung hat. Deinet und Krisch geht es nicht um die Frage, welche konzeptionellen Ansätze und Methoden sich aus einer sozialräumlichen Konzeptentwicklung für die pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ergeben (konzeptionelle Beispiele sind in "Sozialräumliche Jugendarbeit" von Deinet 1999 nachzulesen). Für sie ist vielmehr der Weg dahin wichtig. Der vorliegende Band bildet für die Konzeptentwicklung der Praxis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ein grundlegendes Werk und stellt gleichzeitig eine Bereicherung der aktuellen Diskussion um Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe dar.

Die Autoren

Dr. rer. soc. Ulrich Deinet, Dipl.-Päd., Referent für Jugendarbeit beim Landesjugendamt Westfalen-Lippe, Lehrbeauftragter an der Universität Dortmund

Mag. Phil. Richard Krisch, Soziologe, Pädagogischer Leiter des Vereins Wiener Jugendzentren, Lehrbeauftragter an der Bundessozialakademie Wien

Gliederung, Aufbau und Inhalt

Das Buch hat 221 Seiten und gliedert sich in elf, auf sich aufbauenden Kapiteln. Das wichtigste aus dem Inhalt: Im ersten Kapitel greift Ulrich Deinet die aktuelle Sozialraumdebatte in der Jugendhilfe auf und setzt sie in Bezug zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Anhand von fünf verschiedenen Zugängen, der Sozialraum als 'gefährliche Straße', Sozialraumteams und Budgets, das Stadtteilmanagement für Soziale Arbeit, die Gemeinwesenorientierung sowie der Paradigmenwechsel in der Jugendhilfe: Von der Einzelfall- über die Zielgruppen- zur Sozialraumorientierung gelingt es ihm, die oft verworrene Diskussion zu systematisieren. Sein Hauptkritikpunkt der aktuellen Jugendhilfedebatte zur 'Sozialraumorientierung' liegt darin, dass der 'Sozialraum' zu einem räumlichen Muster (im Sinne ausschließlich physisch-materiellen Aspekten), wie Wohngebiet, eingegrenzter Sozialraum, Planungsraum etc. verkürzt wird, ansonsten bleibt sie auf die Präventionsdebatte beschränkt.

Dem gegenüber wird im zweiten Kapitel der qualitative Blick auf die Sozialräume als Lebenswelten von Kinder und Jugendlichen, stark gemacht. Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden als handelnde Subjekte in ihrer Lebenswelt betrachtet. Sie konstituieren ihre eigenen Sozialräume, die aufgrund struktureller Faktoren (z.B. Einschränkung des Handlungsraums, Entfernungen) und subjektbezogener Faktoren (z.B. Ethnie, Geschlecht) sehr unterschiedlich gestaltet sein können. In diesem Kapitel wird die Bedeutung des Aneignungsparadigmas herausgestrichen - gerade heute liefert das Aneignungskonzept auch jenseits der sozialräumlichen Diskussion Erklärungsgrundlagen für das Handeln im Kinder- und Jugendalter. So kann es zum Beispiel für die aktuelle Bildungsdiskussion (Folgen von PISA), welches auf formelle Lernformen an institutionalisierten Lernorten beschränkt bleibt, neue Erkenntnisse über nichtformelle und informelle Lernorte und Lernformen liefern.

Die subjektive Perspektive in der sozialräumlichen Diskussion, die die beiden Herausgeber stark machen, ist in der Tradition von Marta Muchow, der Klassikerin der sozialräumlichen Forschung zu sehen. Diese Perspektive erlebte in den 70er und 80er Jahren eine Blütezeit, als die Konsequenzen eines monofunktional durchgestalteten Wohnumfeldes im öffentlichen Raum sichtbar wurden. Deinet und Krisch führen den aufklärerischen Gedanken mit der sozialräumlichen Lebensweltanalyse weiter: Kinder und Jugendliche brauchen Räume!

Die Lebensweltanalyse wird als synonym für eine qualitative Sozialraumanalyse, als "Kampfbegriff" gegen eine in vielen Bereichen rein formal und quantitativ verstandene Sozialraumorientierung, verwendet. Es geht den Herausgebern um die Wiedergewinnung der Straße, des öffentlichen Raums für Kinder und Jugendliche. Sie machen sich stark für die Frage nach der Qualität der Räume und fordern die Gestaltung des Ortes der Jugendarbeit als Aneignungs- und Bildungsraum. In einer aufklärerischen Art heben sie das "jugendpolitische Mandat" der Offenen Kinder- und Jugendarbeit hervor.

Richard Krisch stellt in Kapitel 6 die in der Praxis erprobten Methoden einer sozialräumlichen Lebensweltanalyse dar und liefert dazu Anwendungsbeispiele. Das reiche und übersichtlich dargestellte Reservoir sozialräumlicher Methoden speist sich unter anderem aus der Stadtteilbegehung mit Kindern und Jugendlichen, der Nadelmethode, dem Cliquenraster, der Subjektiven Landkarten, der Zeitbudgets usw. In eindrucksvoller Weise gelingt es Krisch, die Methoden qualitativer Sozialforschung zu vereinfachen und für die Praxis der Jugendarbeit anwendbar zu machen. Das Erkenntnisziel der Verfahren liegt darin, "Verständnis dafür zu entwickeln, wie die Lebenswelt Jugendlicher in engem Bezug zu ihrem konkreten Stadtteil, zu ihren Treffpunkten, Orten und Institutionen steht und welche Sinnzusammenhänge, Freiräume oder auch Barrieren Jugendliche in ihren Gesellungsräumen erkennen. Der Fokus richtet sich daher auf die lebensweltliche Deutung, Interpretation und Handlungen von Heranwachsenden im Prozess der Aneignung von Räumen" (S. 87).

Diese sozialräumlichen Methoden bleiben nicht einfach in der Luft und losgelöst von der Praxis stehen, sondern die Herausgeber und die Autoren dieses Bandes sehen die sozialräumliche Konzeptentwicklung als Projekt: Sie geben konkrete Schritte und Modelle vor (Kapitel 3), beziehen diese auf praktische Beispiele (Kapitel 8), geben Tipps für die Umsetzung in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und zeigen auch Probleme bei der Anwendung sozialräumlicher Methoden auf (Kapitel 7). Die strukturelle Anbindung an das Jugendhilfesystem des sozialräumlichen Blicks gelingt in den Kapiteln zur Zusammenarbeit mit der Jugendhilfeplanung (Kapitel 9) und zur sozialräumlichen Konzeptentwicklung als Qualitätsarbeit (Kapitel 11). Mit Christoph Berse, Lotte Rose und Albert Scherr konnten wichtige 'Gastautorinnen und Gastautoren' gewonnen werden - sie bereichern den Band mit den Themen 'Chancen und Probleme bei der Bildung von Sozialräumen' (Berse, Kapitel 10), 'Geschlechterorientierung in der sozialräumlichen Jugendarbeit' (Rose, Kapitel 5) und dem 'Verhältnis von Theorie und Praxis der sozialräumlichen Konzeptentwicklung' (Scherr, Kapitel 4).

Zielgruppen

Dieser Band ist sowohl für Praktikerinnen und Praktiker der Kinder- und Jugendarbeit spannend, als auch für eher theoretisch interessierte Leserinnen und Leser. Zwar ist der Ausgangspunkt der beiden Herausgeber die Offene Kinder- und Jugendarbeit, doch sind die Methoden und Schritte sozialräumlicher Konzeptentwicklung auch für andere soziale Institutionen und Bereiche interessant.

Abschließende Bemerkungen und Fazit

Der vorliegende Band bildet für die Konzeptentwicklung der Praxis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ein grundlegendes Werk und stellt gleichzeitig eine Bereicherung der aktuellen Diskussion um Sozialraumorientierung in der Kinder- und Jugendhilfe dar. Zum Abschluss soll eine kritische Frage gestellt werden. Diese bezieht sich weniger auf die praktische Offene Kinder- und Jugendarbeit, sondern hat eher mit sozial- und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen zu tun. Als mögliche Anregung könnte der 'sozialräumliche Blick' durch das Aufgreifen von Raumkonzepten aus der aktuellen stadtsoziologischen und sozialgeographischen Raumdiskussion ergänzt und weitergeführt werden. Dies würde verstärkt dazu beitragen, dass der Aneignungsansatz die Modewelle der 'Sozialraumorientierung' in der Kinder- und Jugendhilfe überleben könnte und auch für das zukünftige sozialräumliche Handeln von Kindern und Jugendlichen Erklärungspotenzial liefern kann: Genügt es, dass man unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen Kindern und Jugendlichen (pädagogisch) begleitete und gestaltbare 'Räume' zur Verfügung stellt, damit sie auch einen gesellschaftlich integrativen 'Raum' erhalten?

Für weitere Ausführungen zu diesem Buch vgl. die Sammelrezension mit dem Titel 'Sozialraumorientierung: Rettungsanker und Heilmittel' erschienen in der Zeitschrift Sozial Extra 1/2003 'Soziale Stadt und Soziale Arbeit' S. 45/46

Rezension von
Prof. Dr. Christian Reutlinger
Professor für Stadt und Gesundheit am Institut für Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung (ISOS) und am Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
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Es gibt 24 Rezensionen von Christian Reutlinger.

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ISSN 2190-9245